26.01.2024

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten

Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten

Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

In seinem Urteil hatte der Europäische Gerichtshof über die Vereinbarkeit der Erhebung biometrischer und genetischer Daten durch Strafverfolgungsbehörden mit der Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu entscheiden.

Sachverhalt

Das dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und c, von Art. 6 Buchst. a sowie der Art. 8 und 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89) sowie der Art. 3, 8, 48 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta). Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen V. S., die nach ihrer Beschuldigung die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten durch die Polizei für die Zwecke ihrer Registrierung verweigerte.

Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, c, Art. 6 Buchst. a, Art. 8, Art. 10 Buchst. a


DSGVO – Art. 2 Abs. 1, 2, Art. 9 Abs. 1, 2, 4

Zur Auslegung einschlägiger europarechtlicher Vorschriften beim personenbezogenen Datenschutz in Strafverfahren.

Europäischer Gerichtshof (Urt. v. 26.01.2023 – C 205/21)

Aus den Gründen:

Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 3, 8 und 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Erhebung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizeibehörden für ihre Untersuchungstätigkeiten zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Recht eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 zulässig ist, wenn zum einen die nationalen Vorschriften, die die Rechtsgrundlage für diese Zulässigkeit bilden, auf Art. 9 DSGVO verweisen und dabei den Inhalt des genannten Art. 10 der Richtlinie 2016/680 wiedergeben, und zum anderen diese nationalen Vorschriften widersprüchliche Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Erhebung zu stellen scheinen.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Folglich gilt für Fragen nationaler Gerichte eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.

Insbesondere ist festzustellen, dass sowohl Art. 9 DSGVO als auch Art. 10 der Richtlinie 2016/680 Bestimmungen über die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten enthalten, die als sensible Daten angesehen werden, darunter genetische und biometrische Daten. Insoweit sieht Art. 10 der Richtlinie 2016/680 vor, dass die Verarbeitung dieser sensiblen Daten „nur dann erlaubt [ist], wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt“, und nur in drei Fällen, so u. a., nach Buchst. a dieses Artikels, wenn sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig ist. Hingegen sieht Art. 9 Abs. 1 DSGVO ein grundsätzliches Verbot der Verarbeitung solcher sensiblen Daten vor, versehen mit einer Liste von Fällen, die in Abs. 2 dieses Artikels aufgeführt sind und in denen von diesem Verbot abgesehen werden kann, wobei in dieser Liste kein Fall genannt wird, der demjenigen einer Datenverarbeitung für Zwecke wie die in Art. 1 Abs. 1 der genannten Richtlinie genannten entspräche und der die Anforderung nach Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie erfüllen würde. Folglich kann eine Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die zuständigen Behörden zu Zwecken, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fallen, zwar erlaubt sein, sofern sie gemäß den Anforderungen nach Art. 10 dieser Richtlinie unbedingt erforderlich ist, mit geeigneten Garantien einhergeht und im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen ist, jedoch wird dies bei einer Verarbeitung dieser Daten, die in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt, nicht zwangsläufig der Fall sein.

Als Zweites ist die Tragweite der Anforderung nach Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680, wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten „nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig“ sein muss, im Licht der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerten Anforderung zu bestimmen, wonach jede Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts „gesetzlich vorgesehen“ sein muss.

Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass diese Anforderung bedeutet, dass die Rechtsgrundlage, die eine solche Einschränkung zulässt, deren Tragweite hinreichend klar und präzise definieren muss. Außerdem kann das nationale Recht eine Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten erlauben. Hinsichtlich der für diese Erlaubnis geltenden Voraussetzungen darf es keine Unklarheit geben. Die betroffenen Personen und die zuständigen Gerichte müssen nämlich in der Lage sein, insbesondere die Voraussetzungen, unter denen diese Verarbeitung erfolgen kann, sowie die Zwecke, denen sie rechtmäßig dienen kann, genau bestimmen zu können. Die Vorschriften der DSGVO und diejenigen der Richtlinie, die für diese Anforderungen gelten, können jedoch verschieden sein.

Daher ist es dem nationalen Gesetzgeber zwar freigestellt, im Rahmen ein und desselben legislativen Instruments die Verarbeitung personenbezogener Daten zu Zwecken, die unter die Richtlinie 2016/680 fallen, und zu anderen Zwecken, die unter die DSGVO fallen, vorzusehen, jedoch ist er gemäß den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen verpflichtet, sich zu vergewissern, dass keine Unklarheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit des einen oder des anderen Unionsrechtsakts auf die Erhebung biometrischer und genetischer Daten bestehen.

Als Drittes ist es in Bezug auf die Fragen des vorlegenden Gerichts nach einer etwaigen nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie 2016/680 wichtig, zwischen den Vorschriften des nationalen Rechts, die die Umsetzung dieser Richtlinie, insbesondere ihres Art. 10, gewährleisten, und den Vorschriften zu unterscheiden, nach denen eine Verarbeitung von Daten, die zu den in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien gehören, namentlich biometrischen und genetischen Daten, im Sinne von Buchst. a dieses Art. 10 zulässig sein kann. Insoweit verpflichtet die Richtlinie 2016/680 die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu, zu gewährleisten, dass auf diese Richtlinie in den zu ihrer Umsetzung erforderlichen Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei deren amtlicher Veröffentlichung Bezug genommen wird, was in jedem Fall den Erlass einer positiven Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie bedeutet, jedoch verlangt sie nicht, dass die Vorschriften des nationalen Rechts, die die Verarbeitung von Daten im Anwendungsbereich dieser Richtlinie erlauben, eine solche Bezugnahme enthalten.

So sieht Art. 63 Abs. 4 der Richtlinie 2016/680 lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten der Kommission den Wortlaut der wichtigsten nationalen Rechtsvorschriften mitteilen, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen. Daraus folgt, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 vorsieht, die entweder in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie oder in den der DSGVO fallen können, aus Gründen der Klarheit und Genauigkeit zum einen ausdrücklich auf die Vorschriften des nationalen Rechts, die die Umsetzung von Art. 10 dieser Richtlinie gewährleisten, und zum anderen auf Art. 9 dieser Verordnung Bezug nehmen kann.

Hingegen kann dieses Erfordernis der Klarheit und Genauigkeit nicht zusätzlich die Erwähnung der genannten Richtlinie erfordern. Somit ist das vorlegende Gericht bei einem offensichtlichen Widerspruch, wie er von diesem Gericht beschrieben wird, zwischen Bestimmungen nationaler Rechtsvorschriften, die die Verarbeitung genetischer und biometrischer Daten durch die zuständigen Behörden zu unter die Richtlinie 2016/680 fallenden Zwecken auszuschließen scheinen, einerseits und anderen Bestimmungen dieser nationalen Rechtsvorschriften, die eine solche Verarbeitung erlauben, andererseits verpflichtet, diese Bestimmungen so auszulegen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie gewahrt bleibt. Insbesondere hat das vorlegende Gericht, wenn es feststellt, dass es Bestimmungen gibt, die geeignet sind, der in Art. 10 Buchst. a der Richtlinie genannten Anforderung zu genügen, zu prüfen, ob diese Bestimmungen nicht in Wirklichkeit einen anderen Anwendungsbereich haben als die Bestimmungen, mit denen sie in Widerspruch zu stehen scheinen.

Nach alledem steht Art. 47 der Charta dem nicht entgegen, dass ein nationales Gericht bei der Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten einer beschuldigten Person für die Zwecke ihrer Registrierung nicht die Möglichkeit hat, die Beweise zu würdigen, auf denen diese Beschuldigung beruht, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung der Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet. Art. 10 Buchst. a der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates ist im Licht von Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizeibehörden für ihre Untersuchungstätigkeiten zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Recht eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie zulässig ist, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats eine hinreichend klare und präzise Rechtsgrundlage für die Zulässigkeit dieser Verarbeitung enthält.

Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, eine Maßnahme der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung zur Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet.

Art. 10 der Richtlinie 2016/680 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu überprüfen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch Maßnahmen erreicht werden können, die einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person darstellen.

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv Heft 11/2024, Lz. 811.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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