22.01.2024

Die Digitalisierung der Sozialverwaltung

Oft fehlt es noch an grundlegendem Wissen zur Digitalisierung

Die Digitalisierung der Sozialverwaltung

Oft fehlt es noch an grundlegendem Wissen zur Digitalisierung

§ 31a SGB X ermöglicht vollautomatisierte, also ohne menschliche Entscheidung erstellte Verwaltungsakte. © Alexander Limbach  - stock.adobe.com
§ 31a SGB X ermöglicht vollautomatisierte, also ohne menschliche Entscheidung erstellte Verwaltungsakte. © Alexander Limbach - stock.adobe.com

Zwischen Ignoranz, Beharrungskräften, Digitalisierungszwängen, Automatisierungspotential und Innovationswillen.

Die öffentliche Verwaltung beginnt nicht mit der Digitalisierung. Sie ist mittendrin. Der elektronische Rechtsverkehr ist mittlerweile nicht nur Zwang, sondern selbstverständlich. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Homeoffice nur mit elektronischen Akten sinnvoll funktioniert. Und der vom Fachkräftemangel geplagte Arbeitsmarkt verlangt Homeoffice und eine zeitgemäße Büroausstattung von einem attraktiven Arbeitgeber. Die Digitalisierung ist kein Projekt mehr mit einem unbestimmten Enddatum, sondern sie ist die aktuelle Realität.

Echte Automatisierung im Sozialverwaltungsverfahren

Das Sozialverwaltungsverfahrensrecht verfügt insoweit gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht über eine nicht unerhebliche Besonderheit: Es ermöglicht echte Automatisierung im Verwaltungsverfahren. Gem. § 31a SGB X kann ein Verwaltungsakt vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern kein Anlass besteht, den Einzelfall durch Amtsträger zu bearbeiten. Setzt die Behörde automatische Einrichtungen zum Erlass von Verwaltungsakten ein, muss sie für den Einzelfall bedeutsame tatsächliche Angaben des Beteiligten berücksichtigen, die im automatischen Verfahren nicht ermittelt würden. Das „vollständig durch automatische Einrichtungen“ Erlassen von Bescheiden bedeutet hier, die Verwendung technischer Einrichtungen, die nach vorher festgelegten Parametern autonom, d.h. ohne weiteres menschliches Einwirken, funktionieren. Es gibt dabei keinen Grund, dass die vorher festgelegten Parameter zwingend feststehende Formeln aus fixen Berechnungsmerkmalen sein müssen, sondern auch der Einsatz komplexer Algorithmen einschließlich selbstlernender – also sich innerhalb vorgegebener Leitplanken, nämlich dem Recht, verändernder – Systeme ist im Anwendungsbereich des § 31a SGB X keineswegs ausgeschlossen.


Begrifflich sind hier der elektronische Verwaltungsakt und der elektronisch übermittelte Verwaltungsakt von dem vollständig automatisierten Verwaltungsakt abzugrenzen. Erstere meinen lediglich eine bestimmte Form – die elektronische Form anstelle der klassischen Schriftform. Dass dies möglich ist, ist keine Revolution, sondern im Hinblick auf die grundsätzliche Formfreiheit des Verwaltungshandelns eine Selbstverständlichkeit und nur mit Blick auf Datenschutz und IT-Sicherheit gewissen rechtlichen Hürden gegenüberstehend. Der vollautomatisierte Verwaltungsakt betrifft dagegen das Zustandekommen der in ihm enthaltenen Regelung selbst durch einen Computer; also den Entscheidungsvorgang – unabhängig von Form und Art der Übermittlung.

§ 31a SGB X ermöglicht also vollautomatisierte, also ohne menschliche Entscheidung erstellte Verwaltungsakte. Die menschliche Willensbetätigung ist hier nicht mehr für die Entscheidung im Einzelfall notwendig, sondern nurmehr bei der Vorbereitung – nämlich im Rahmen der Zurverfügungstellung der Technik bzw. des Algorithmus. Dies ist dann schon eine erhebliche Revolution des Verwaltungshandelns, wenn man bedenkt, dass es sogar als erforderlich angesehen wird, dass bei nur teilweise automatisierten Verwaltungsakten in § 33 Abs. 5 SGB X geregelt wird, dass auf Namen und Unterschrift des Sachbearbeitenden verzichtet werden kann.

Berücksichtigung von Ermessen bei einer Entscheidung

Nicht zwingend ist im Sozialverwaltungsverfahren das gesetzlich eingeräumte Ermessen des Leistungsträgers ein Ausschlusstatbestand für die automatisierte Entscheidung. Insbesondere dann nicht, wenn kein Anlass besteht, dass Einzelfälle durch (menschliche) Amtsträger bearbeitet werden müssen. Durch die Behörde sicherzustellen ist dennoch, dass sämtliche für den Einzelfall bedeutsame tatsächliche Angaben des Beteiligten beachtet werden. Dies ist bereits in den entsprechenden Eingabemasken zu berücksichtigen (Eingabefeld „Besonderheiten“), um Tatsachen, die im automatischen Verfahren nicht ermittelt würden, nicht zu unterdrücken. Die Herausforderung besteht also darin, die Fallkonstellationen herauszufiltern, die eine „normale Einzelfallprüfung“ durch einen menschlichen Sachbearbeitenden erfordern. Es braucht hierfür neben einer einfachen Plausibilitätsprüfung eine intelligente Clearingfunktion und wohl auch die Möglichkeit, dass der Bürger gegen eine automatisierte (und damit zumeist schnellere) Bearbeitung optieren kann. Und am Ende steht die Frage, in wie vielen Fällen ein solches Vorgehen für die Behörde tatsächlich wirtschaftlich ist.

Auf Datenschutz ist zu achten

Die öffentliche Verwaltung – gerade die Sozialverwaltung – geht indes mit hochsensiblen Daten um. Bürgerinnen und Bürger vertrauen auf ihre IT-Sicherheit in einem Umfeld, in dem gerade staatliche Akteure in das Fadenkreuz von Verschlüsselungstrojanern der organisierten Kriminalität oder feindseliger Nationen geraten. Sozialrecht bedeutet Sicherung der physischen Existenz, bspw. im Krankversicherungsrecht, des sozio-kulturellen Existenzminimums im Grundsicherungsrecht, der Beitragsstabilität der Sozialversicherung, der Gleichheitsgrundrechte, der Berufsfreiheit, letztlich der Menschenwürde – und damit des gesellschaftlichen Friedens. Angrenzende Rechtsgebiete im Gefahrenabwehrrecht schützen nicht weniger als die Grundfesten unseres Staates. Sorgfalt im Umgang mit diesen Daten sowie eine durchdachte Organisation der (elektronischen) Geschäftsprozesse ist deshalb nicht nur zu fordern, sondern conditio sine qua non der Digitalisierung.

Aufbruch zur Digitalisierung ist angesagt

Betrachtet man die populäre öffentliche Diskussion über die Digitalisierung deutscher Behörden und Gerichte, stehen zumeist die Misserfolge im Fokus: Papierakten statt eAkte, Telefaxgeräte statt Datenhighway. Dabei ist der digitale Aufbruch der öffentlichen Verwaltung im Einzelnen überraschend weit gediehen. Allerdings klafft zwischen den Oasen der Digitalisierung und den hergebrachten Aktenböcken tatsächlich noch eine große Lücke. Nicht allseits geliebt, dafür sehr erfolgreich, verlief bspw. die Etablierung des elektronischen Rechtsverkehrs. Dabei ist insbesondere die Justiz einen aufwendigen, weil proprietären, Weg gegangen: Statt auf vorhandene Kommunikationskanäle wie E-Mail oder Portallösungen, setzte der Gesetzgeber vor allem auf die sehr zuverlässige, aber bis dahin kaum genutzte EGVP-Infrastruktur. Das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) ist hochsicher aufgrund doppelter Verschlüsselung. Anders als der Name nahelegt, fand das EGVP aber in der Verwaltung kaum Verwendung, sondern wurde praktisch exklusiv durch die Justiz genutzt. Entsprechend gering war die Verwendungsbreite. Die Identifikation des Absenders konnte zudem nur durch qualifizierte elektronische Signaturen sichergestellt werden. Auch diese galten gemeinhin als zu sperrig, um sich im juristischen Alltag durchzusetzen.

Normative Rückendeckung durch den Gesetzgeber

Der kaum genutzte elektronische Rechtsverkehr brauchte normative Rückdeckung. Diese erhielt er durch das Gesetz „zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ im Jahr 2013. Wobei der Name durchaus irreführend ist, denn von „Förderung“ kann kaum die Rede sein; das Gesetz setzt den elektronischen Rechtsverkehr vielmehr „zwangsweise“ um. Der Zwang zur elektronischen Einreichung, der seit 1.1.2022 flächendeckend für alle deutschen Gerichte mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts und einiger Landesverfassungsgerichte besteht, betrifft vor allem alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie Behörden und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts. Weitere „Rechtsprofis“ folgen in den nächsten Jahren. Fax und Brief sind für diese Personengruppen nicht mehr zulässig. Der Zwang wird aber auch ergänzt durch einige Vereinfachungen. So kann auf besonderen sicheren Übermittlungswegen für verschiedene Berufsgruppen auf die qualifizierte elektronische Signatur verzichtet werden. Hiervon profitieren bspw. die Rechtsanwaltschaft und Behörden.

Zwang stößt indes zumeist auf Argwohn und Abneigung. Im elektronischen Rechtsverkehr ebenso wie bei der Einführung elektronischer Akten schlägt diese ablehnende Haltung nicht selten in eine gewisse Ignoranz gerade unter Juristinnen und Juristen um. Es besteht zuweilen wenig Bereitschaft, sich mit technischen Hintergründen zu beschäftigen, die organisatorischen Folgen der Digitalisierung zu durchdenken oder gar mitzugestalten. Es fehlt in der öffentlichen Verwaltung gar nicht so selten an grundlegendem Wissen, an vernetztem Wissen zu Digitalisierung. Die Gefahr ist, dass zu viele verantwortliche Führungskräfte hoffen, mit dem vorhandenen juristischen Sachverstand, der bestehenden Organisationsstruktur und tradierten Abläufen auch das nächste Jahrzehnt „überstehen“ zu können, anstatt die Digitalisierung und den aus ihr resultierenden Veränderungsprozess sinnvoll zu nutzen.

 

Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts Darmstadt Honorarprofessor der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.
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