19.06.2023

Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen wegen sich steigernder Straftaten

Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs

Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen wegen sich steigernder Straftaten

Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Die Ausländerbehörde hatte gegenüber einem im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen u. a. die Abschiebung in die Türkei unmittelbar aus der Haft angeordnet. Das Verwaltungsgericht (VG) hatte diese Entscheidung bestätigt.

Mit dem gegen dieses Urteil gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung hatte der Ausländer beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) im Wesentlichen vorgetragen, bei der Entscheidungsfindung seien wesentliche Aspekte zu seinen Gunsten nicht beachtet worden. Entgegen der Ansicht des VG könne nicht von einer signifikant erhöhten Gefahr für die Begehung zukünftiger Straftaten ausgegangen werden. Es liege zudem ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vor, da der Mann im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei.

Das VG habe diesen Umstand praktisch nicht in der durchzuführenden Abwägung nach § 53 Abs. 3 AufenthG berücksichtigt. Eine Ausweisung stelle einen schwerwiegenden Eingriff in seine Rechte nach Art. 6 Grundgesetz und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) dar. Er sei als faktischer Inländer anzusehen.


Diese Rügen konnten nach den Feststellungen des VGH keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils aufzeigen. In Annahme des Bestehens eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) darf der Betroffene als insoweit privilegierter Ausländer gem. § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine gegenwärtig schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

Persönliches Verhalten des Ausländers deutete auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hin

Die Fassung von § 53 Abs. 3 AufenthG gibt damit den aus Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG abgeleiteten Maßstab wieder, den der Europäische Gerichtshof (EuGH) auch auf Ausländer erstreckt hat, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht. Die einem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 zustehenden Rechte können ihm nur dann im Wege einer Ausweisung abgesprochen werden, wenn diese dadurch gerechtfertigt ist, dass sein persönliches Verhalten auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet.

Nach st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt.

Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens war von einer schwerwiegenden Gefahr auszugehen

Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichem Schadensausmaß zugrunde liegt, sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens war nach dem persönlichen Verhalten des Betroffenen weiter von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Der im Bundesgebiet geborene türkische Staatsangehörige ist im Bundesgebiet wiederholt, in sich steigernder Weise und mit einer beachtlichen Rückfallgeschwindigkeit strafrechtlich in Erscheinung getreten. Von der strafrechtlichen Verfolgung wegen Diebstahls geringwertiger Sachen im September 2009 im Alter von 15 Jahren wurde nach § 45 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) noch abgesehen. Später wurde er wegen Diebstahls schuldig gesprochen.

Der Verurteilung lag die Entwendung erheblicher Mengen Münzgeldes in einer Spielhalle zugrunde. Es folgten weitere Verurteilungen wegen Diebstahls und wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Ausländer auf offener Straße ohne Vorwarnung und ohne jegliche Rechtfertigung zwei Geschädigten nacheinander wuchtige Faustschläge ins Gesicht zufügte, wobei die Geschädigten erhebliche Verletzungen davontrugen.

Entwicklung des Betroffenen lässt nicht darauf schließen, dass seine Gefährlichkeit abgenommen hat oder gar beseitigt wäre

Im Jahr 2017 musste er erneut wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten mit einer Bewährungszeit von 2 Jahren verurteilt werden, weil er einem Geschädigten zwei derart heftige Schläge ins Gesicht versetzte, dass dieser bewusstlos wurde und noch Wochen nach diesem brutalen Angriff unter Kopfschmerzen und Sehstörungen leiden musste. Im Mai 2017 erfolgte eine Verurteilung wegen Beleidigung gegenüber Polizeibeamten in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 4Monaten mit einer Bewährungszeit von 3 Jahren. Im Oktober 2018 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt, weil er vor einer Diskothek dem Geschädigten ohne rechtfertigenden Grund mit der Faust in das Gesicht schlug, sodass dieser bewusstlos zu Boden fiel, und er dem regungslosen, bewusstlos auf dem Boden liegenden Opfer mehrfach wuchtig mit dem beschuhten Fuß gegen Kopf und Körper trat, was erhebliche Verletzungsfolgen verursachte.

Mit Urteil des Amtsgerichts (AmtsG) vom 03.12.2019 wurde er weiterhin wegen Geldfälschung in Tateinheit mit versuchter Geldfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Er befindet sich seit dem 19.04.2019 in Haft, als Haftende ist der 16.03.2025 vorgemerkt. Seine Entwicklung nach der den Anlass für die Ausweisung bildenden strafgerichtlichen Verurteilung lässt nicht darauf schließen, dass die durch diese Delinquenz indizierte Gefährlichkeit abgenommen hat oder gar beseitigt ist.

Gesamtpersönlichkeit lässt nicht nur charakterliche Mängel, sondern auch eine erhebliche kriminelle Energie erkennen

Vielmehr muss, insbesondere im Hinblick auf die bei ihm offensichtlich vorliegende unbearbeitete Aggressionsproblematik mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die auch im konkreten Einzelfall ein Grundinteresse der Gesellschaft, insbesondere das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger berührt. Das VG hatte zudem die strafmildernden Aspekte ausreichend berücksichtigt. Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr war insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der Betroffene durch sich steigernde strafrechtliche Verurteilungen nicht von der Begehung weiterer, zunehmend gravierender Straftaten hat abhalten lassen. Die abgeurteilten Straftaten sind schwerwiegend, sie lassen ein erhebliches Aggressionspotential, eine hohe Gewaltbereitschaft und kriminelle Energie sowie eine Missachtung der Rechtsordnung erkennen und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft.

Die Gesamtpersönlichkeit des Mannes lässt nicht nur charakterliche Mängel, sondern auch eine erhebliche kriminelle Energie erkennen, die die Begehung weiterer Straftaten durch ihn konkret erwarten lassen. Das mehrfache Bewährungsversagen und die enorme Rückfallgeschwindigkeit sprechen dafür, dass er nicht bereit ist, sich rechtskonform zu verhalten. Auch die bislang beanstandungsfreie Führung während der schützenden und ordnenden Bedingungen der Haft vermochte die von seinem Verhalten weiterhin drohende Gefahr nicht maßgeblich zu schmälern oder zu widerlegen. Ein Wohlverhalten in der Haft lässt nach st. Rspr. des erkennenden VGH noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde.

Öffentliches Interesse an der Ausreise überwiegt das Interesse des Betroffenen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet

Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach der Regelung des § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind. Dies ist erfolgt. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung v. a. mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK hat dabei ergeben, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.

Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i. S. v. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1 a AufenthG war schon infolge seiner rechtskräftigen Verurteilung vom 02.10.2018 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten gegeben. Das in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vertypte Ausweisungsinteresse setzt ein Strafmaß von zwei Jahren voraus. Darüber hinaus wurde ihm gegenüber am 03.12.2019 weiter eine zu verbüßende Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 2 Monaten wegen Geldfälschung in Tateinheit mit versuchter Geldfälschung verhängt.

Besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wurde sogar mehrfach verwirklicht

Er hat mithin das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sogar mehrfach verwirklicht. Dem steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG gegenüber, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet, hier gar bereits lebenslang aufgehalten hat.

Dem mit der Ausweisung verfolgten Ziel, eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft abzuwehren, kommt angesichts der vorliegenden Einzelfallumstände, insbesondere unter Berücksichtigung der mehrfachen Straffälligkeit des Mannes, der dabei zu Tage tretenden beachtlichen Rückfallgeschwindigkeit und der sich steigernden Delinquenz sowie des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter, insbesondere des durch Gewaltdelikte gefährdeten Schutzguts der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ein das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse überwiegendes Gewicht zu.

Auch das geltend gemachte Maß der Verwurzelung im Bundesgebiet steht hier einer Ausweisung nicht entgegen. Er ist zwar im Bundesgebiet geboren und hat einen Schulabschluss erworben; hat allerdings die von ihm betriebene Shisha-Bar maßgeblich zur Begehung von Straftaten genutzt. Er ist ledig und kinderlos und ihm ist eine Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten nicht geglückt.

Dem im Bundesgebiet geborenen und seither hier wohnhaften Mann ist es zumutbar, im Land seiner Staatsangehörigkeit zu leben

Es wurde seitens des VGH nicht verkannt, dass sich die Ausweisung in Anbetracht der lebenslangen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen als gravierender Grundrechtseingriff darstellt. In Anbetracht der Schwere und Vielzahl der Delinquenz des Betroffenen seit seiner Strafmündigkeit überwiegt jedoch das Ausweisungsinteresse. Nach alledem ergab sich auch aktuell eine Unerlässlichkeit der Ausweisung für die Wahrung des von ihm bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft. Ihm ist es somit zumutbar, im Land seiner Staatsangehörigkeit zu leben. Es ist anzunehmen, dass ihm durch seine Sozialisation im türkischstämmigen Elternhaus die heimatstaatlichen Lebensverhältnisse und die türkische Sprache nähergebracht wurden.

Selbst wenn verwandtschaftliche Beziehungen im Herkunftsstaat fehlen sollten, wäre dies bei Volljährigen kein Umstand, aus dem sich die Unzumutbarkeit der Rückkehr ableiten lässt. Anhaltspunkte dafür, dass die Eingewöhnung in der Türkei, der Aufbau eines Privatlebens und die Eingliederung in das Wirtschaftsleben für den 27-jährigen, ledigen und kinderlosen Mann mit dem deutschen Schulabschluss der Mittleren Reife unmöglich oder unzumutbar sein könnten, waren nicht ersichtlich. Die erforderliche Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung führte hier zur Prognose, dass diese zurückzuweisen wäre.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 10.01.2022 – 19 ZB 21.2053 –.

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg, 3/2023, Rn. 31.

 
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