15.04.2011

Activity-Flow-Management

Vom "Task-Switching" zum Arbeitsfluss

Activity-Flow-Management

Vom "Task-Switching" zum Arbeitsfluss

Eine überschaubare Abarbeitungsfolge eingehender Aufgaben ist Voraussetzung für den „Flow.“ | © Teamarbeit - Fotolia
Eine überschaubare Abarbeitungsfolge eingehender Aufgaben ist Voraussetzung für den „Flow.“ | © Teamarbeit - Fotolia

Dieser Artikel richtet sich an diejenigen Leser, die ihn nicht lesen können. Weil sie nämlich keine Zeit dafür haben (trotz möglichen Interesses für das Thema), weil schon die dringendsten Aufgaben in der täglichen Tretmühle sie voll und ganz auslasten (oder eher: überlasten), weil der Stehsammler mit den „irgendwann zu lesenden Artikeln“ eh schon überquillt (und die Fensterbank ist vielleicht schon belegt).

Diejenigen Leser hingegen, bei denen die eingehenden Aufgaben und Verpflichtungen nie das menschliche Maß übersteigen, die zwar nicht in Ruhe (auch von Beschaulichkeit ist keine Rede!), aber doch ohne Hektik ihr tägliches Arbeitspensum ableisten, brauchen diesen Artikel nicht zu lesen. Denn sie haben jenen Zustand, der seinen Daseinszweck darstellt, bereits erreicht.

Das Thema dieses Artikels, lieber Leser (und dieser Singular ist nun vermutlich kein überflüssiges Stilornament mehr), besteht nämlich im Ziel des „Flusses“: einem Zustand fließender Energie, die sich in einem befindet und in der man sich befindet, und in der man zu Höchstleistungen fähig wird.


Diesen Zustand bezeichnet man auch als „Flow“. Was aber an vielen unserer Arbeitsplätze vorherrscht, ist das Gegenteil eines Flows.

Vielmehr praktizieren wir ein turbulentes „Task-Switching“, gekennzeichnet von dauernden Unterbrechungen durch hereinkommende externe Anforderungen.

Aber bevor Sie weiter lesen, prüfen Sie doch bitte, ob Sie unser Thema überhaupt betrifft.

Setzen Sie sich dazu einen Moment entspannt zurück und überlegen Sie: Wann habe ich das letzte Mal drei Stunden am Stück an einer anspruchvollen Aufgabe arbeiten können, so dass ich einen Zustand hoher Konzentration erreicht habe? Und wie häufig kommen solche „Flow-Zeitfenster“ bei mir im Monat vor?

Turbulenzen statt Fluss: Aber was flutet denn da?

Was sind die Ursachen dieser modernen Arbeitsplage, als „Multitasking“ oder „Task-Switching“ bekannt? In der öffentlichen Diskussion ist von der Informationsflut die Rede, der wir ausgeliefert seien. Aber ist dies überzeugend? Noch nie ist mein WLAN durch Spams „verstopft“ oder mein PC lahm gelegt worden. Bevor wirksame Spam-Filter entwickelt wurden, erhielt auch ich 50 bis 100 „Angebote“ pro Tag zugeschickt – der Aufwand des Aussortierens war zwar ärgerlich, aber nicht stresserzeugend. Jetzt gibt es wirksame Filter und nur noch seriöse E-Mails finden den Weg in meinen Outlook-Eingangskorb – die subjektive Belastung durch diese „wenigen“ Mails hat nicht abgenommen.

Meine These dazu: Nicht die „Flut der Spams“ belastet uns, sondern gerade die anderen, die „seriösen“ E-Mails. Der Grund dafür besteht darin, dass sie „To-Do‘s“ enthalten:

– eine Leistung ist zu erbringen (z. B. eine Kundenanfrage, die auf Antwort wartet)
– oder eine Entscheidung ist zu treffen (z. B. bei einem seriösen Angebot: „Will ich das oder will ich das nicht?“).

Nicht Informationen überfluten uns, sondern Aufgaben. Deshalb sind es im Regelfall auch nicht einfach „Informationen“, über die wir den Überblick verlieren, sondern die anstehenden Tätigkeiten. Dauernd müssen wir Entscheidungen treffen der Art:

„Wenn ich die gerade eingehende Unterbrechung gleich bearbeite – was bedeutet das für meine sonstigen anstehenden Aufgaben?“

Oft werfen wir kurzfristig den Arbeitsablauf um, weil eine dringende Aufgabe plötzlich herein“flutet“. Wenn nicht vollständige Transparenz über alle anstehenden Aufgaben herrscht, führt das immer zu dem unguten Gefühl, dass uns etwas „durchgeht“.

Unzureichende Antworten: „Prozessoptimierungen“ und „Workflows“

Der geschilderte Zustand ist nicht ganz neu, wenn auch durch die modernen Kommunikationsmittel wie E-Mails, Smartphones usw. verstärkt. Eine ganze Reihe von Wissensgebieten und Expertengruppen haben sich deshalb des Problems schon angenommen. Und sie haben ihre Antworten dort gefunden, wo sie sie schon in den produktiven Bereichen der Industrie mit Erfolg praktiziert haben: in der „Prozessoptimierung“.

Die Prozessoptimierung überträgt die Erkenntnisse der fließbandförmigen Arbeitsorganisation auf die verwaltenden und strategischen Prozesse unserer Bürolandschaften. Die klassische „fordistische“ Fabrik organisiert sich um das Fließband herum. Das Fließband ist nicht nur ein Transportinstrument, sondern vor allem ein Mittel des Prozessmanagements und ein Taktgeber. In einem vorgegebenen Rhythmus werden die Werkstücke an Arbeitsplätzen vorbeigeführt und damit die Reihenfolge der Arbeitsschritte festgelegt („Zuständigkeiten“) wie auch die Geschwindigkeit des Arbeitstempos („Kadenz“).

Um diese Organisationsform herum wurden die mittlerweile klassischen Methoden des Qualitätsmanagements und der Prozessoptimierung, des Total Quality Managements (TQM) und des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) entwickelt.

Die Prozesszeit der Werkstückabfolge auf dem Fließband übersetzt sich vom Standpunkt des einzelnen Beschäftigten an seinem Arbeitsplatz in eine Abfolge immer gleicher Arbeitsschritte. Seine eigene Lebenszeit nimmt eine kreisförmige Struktur an, bei der er nach der Ableistung der Arbeitsschritte an einem Werkstück wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt und am nächsten Werkstück von vorne beginnt. Derartige Arbeitsplätze sind wohl von Monotonie gekennzeichnet, sie mögen auch Stress verursachen (z. B. durch hohe Taktfrequenzen) – aber sie funktionieren völlig anders als viele heutige Büroarbeitsplätze.

Aber nicht als alle Büroarbeitsplätze. Auch in den Büros gibt es „Fließbandarbeiten“, bei denen in Massenverarbeitungsprozessen Belege gebucht oder Kundenanrufe in Ticketing-Systeme eingespeist werden.

Diejenigen Arbeitsplätze aber, von denen hier die Rede sein soll, sind diejenigen, die von wechselnden und „schwach strukturierten“ Prozessen gekennzeichnet sind: Arbeitsplätze in der Produktentwicklung (auch z. B. der Softwareprogrammierung), der Steuerung und Planung, in Führungs- und Managementprozessen (samt angeschlossenen Stabsstellen, Assistenzen der Geschäftsführung und Chefsekretariaten). Und dies quer über die Branchen, in Unternehmensverwaltungen wie in Behörden.

Derartige Arbeitsplätze sind

– von der Verschiedenartigkeit der Prozesse gekennzeichnet, in denen sie arbeiten; d. h. von ein- und demselben Arbeitsplatz aus wird eine Marketingkampagne geplant, ein Messestand vorbereitet und ein Fachartikel geschrieben – alles mit unterschiedlichen Deadlines und stark verzahnt mit anderen Arbeitsplätzen;
– mit ständigen asynchronen Aufgabenanforderungen konfrontiert, die keinem extern vorgegebenen Takt unterliegen, sondern vielmehr individuell in eine Reihenfolge der Abarbeitung gebracht werden müssen.

Wenn an derartigen Arbeitsplätzen der Qualitätsmanagementbeauftragte auftaucht und von Prozessbeschreibung und Qualitätssicherung spricht, bekommt er sehr oft Widerstand zu spüren. Denn die Übertragung dieser Methoden auf multiprozessuale Arbeitsplätze verspricht wenig Nutzen: Die Verschwendung von Arbeitszeit und Produktivität findet hier nicht in den Prozessen statt, sondern zwischen ihnen: Der Synchronisationsaufwand (z. B. einfach die Planung eines Arbeitstages: „Was mache ich heute?“ und der Umgang mit den dauernden Unterbrechungen) macht oft 15 % bis 25 % der täglichen Arbeitsleistung aus – und ist hauptsächliche Quelle von Stress.

Ständige Unterbrechung macht Stress

Dazu ein Beispiel: Einer französischen Untersuchung zufolge, die durch das Institut Sciforma im Jahre 2010 bei 4.150 Beschäftigten durchgeführt wurde, wird die Arbeit im Durchschnitt alle 12 Minuten durch eine E-Mail oder eine SMS unterbrochen.

93 % der befragten Personen haben ihr E-Mail-Programm so eingestellt, dass sie über eine eingehende E-Mail sofort unterrichtet werden und 68 % beim Eintreffen einer SMS. Davon wiederum gaben 75 % an, ihre Arbeit zu unterbrechen, um den Inhalt der Nachricht zu lesen. Grob geschätzt bedeutet dies, dass der Durchschnittsbeschäftigte alle 20 Minuten seine Arbeit unterbricht, um eine Nachricht zu lesen. Wenn man aufgrund der modernen Neurobiologie weiß, dass unser Gehirn unbewusst, also „im Hinterkopf“ etwa 3 bis 4 Minuten benötigt, um nach einer Unterbrechung seine Aufmerksamkeit wieder der aktuellen Aufgabe zuzuwenden, so gehen allein durch diese Störungskategorie etwa 20 % der Arbeitsleistung verloren. Hier wäre also durchaus eine Win-Win-Situation zwischen Unternehmen und Mitarbeitern denkbar – eine Optimierung würde große Produktivitätsreserven erschließen und gleichzeitig den Stress der Mitarbeiter vermindern.

Aber die gängigen QM-Methoden konzentrieren sich mit Vorliebe auf die althergebrachten Techniken, die sie so gut aus den operativen Bereichen kennen – so wie der Mensch, der seinen Schlüssel verloren hat, ihn lieber unter der Laterne sucht, weil es dort hell ist – und nicht dort, wo er ihm vermutlich aus der Tasche fiel.

Ähnlich die Hersteller von Dokumentenmanagement-Software (DMS, mittlerweile auch als ECM bekannt). Sie preisen die Workflow-Kapazitäten ihrer Programme an, die nur begrenzt Antworten auf die aktuellen Probleme darstellen. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Belegverbuchung oder die Urlaubsbeantragung auf digitalen Pfaden durch die Unternehmensverwaltung läuft, statt umständlich auf Papier abgewickelt zu werden. Aber ist dies die Lösung der Synchronisationsprobleme? Liegt hier überhaupt eine Vision vor, unsere Abläufe von überflüssigem Stressballast zu befreien? Mit Sicherheit nicht.

Was wir brauchen, ist keine immer ausgefeiltere Optimierung in den Prozessen, sondern zwischen ihnen und zwar dort, wo sie aufeinanderstoßen – am einzelnen, qualifizierten Arbeitsplatz. Nicht ein Workflow wird benötigt, sondern ein Metaworkflow.

Activity-Flow-Management: Was ist anders?

Zuerst einmal bedeutet Activity-Flow-Management: Die Aufgabe als solche wahrnehmen. Die Aufgabe beinhaltet:

– eine Koordinationsfunktion: Die Zuständigkeiten für eine Aufgabe sind oft nicht mehr strikt geregelt, sondern werden während der Erledigung eines Auftrags oder der Arbeit an einem Projekt neu festgelegt und ausgehandelt. Dafür sind variable Methoden der Delegation, Rückdelegation, des Aufgaben-Tracking und -Tracing vonnöten.
– eine Synchronisationsfunktion: Die verschiedenen Prozesse, in denen ein Team und/oder der Einzelne arbeiten, müssen in ihrer Abhängigkeit und (oft auch terminlichen) Verzahnung dargestellt und abgestimmt werden. Von außen hereinkommende neue Aufgaben müssen zügig in eine vorhandene „Liste offener Projekte und Vorgänge“ eingespeist werden können.
– eine Priorisierungsfunktion: Die Reihenfolge, in der das Team und/oder der Einzelne ihre Aufgaben erledigen, muss in nachvollziehbarer, transparenter und flexibler Weise festgelegt werden können.

Activity-Flow-Management (AFM) ist radikal teamorientiert. Wenn nämlich ein großer Teil unproduktiver Arbeit auf Synchronisationsaufgaben entfällt, dann kann das gar nicht mehr sinnvoll ausschließlich auf der individuellen Ebene erledigt werden, sondern muss in die Aufmerksamkeit der Abteilungen und Teams rücken. Denn auf diesem Level können viel wirksamere Regeln und gemeinsam angewendete Synchronisationsmethoden entwickelt werden, als dies der Einzelne für sich jemals könnte.

AFM nimmt auch Abschied von festen Regeln, „guten Vorschlägen“ und „Tipps und Tricks“. Denn das Gemeinsame der Arbeitsplätze in schwach strukturierten Prozessen besteht in ihrer unglaublichen Differenzierung: Eine Stelle in der Assistenz oder im Chefsekretariat hat ganz andere Synchronisationsanforderungen, als es in der Produktentwicklung, im Marketing oder im Controlling der Fall ist.

In Entwicklungsprojekten, in denen Activity-Flow-Management in einem Team oder einem Gesamtunternehmen eingeführt werden soll, kann der Projektcoach deshalb zwar seinen Werkzeugkoffer öffnen und seine Instrumente und Methoden anbieten. Aber die Anpassung an die einzelnen Arbeitsplätze kann nur im Dialog mit den Betroffenen geschehen.

Blick in den Werkzeugkoffer

Wie gesagt, eine wichtige Aufgabe des AFM besteht darin, asynchron eingehende Aufträge – soweit möglich, und das ist es praktisch nie zu 100 Prozent! – in eine synchrone, überschaubare Abarbeitungsreihenfolge zu überführen. Ziel dabei ist es, dem Team wie dem Einzelnen ständig das Gefühl der Kontrolle über die eigene Arbeit zu garantieren.

Eines der möglichen Werkzeuge dafür besteht darin, das Durchsehen der Aufgaben („Checken“) von ihrer tatsächlichen Erledigung zu trennen. Im Bild kann man das ausdrücken als „Wildbäche münden in einen Fluss“.

Die E-Mails im Eingangsfach werden beispielsweise nicht sofort bearbeitet, sondern in einem ersten Durchgang nur gelesen.

Dabei werden

– alle irrelevanten E-Mails (reine Infos, Werbung usw.) sofort gelöscht;
– die Aufträge, die in E-Mails enthalten sind, in eine Liste geschrieben;
– die E-Mail selbst, wenn sie relevante Informationen für die Arbeitsaufgabe enthält, sowie eventuelle Anhänge zum jeweiligen Prozess in die Dokumentenablage (PC-Festplatte oder Server) abgelegt.

Beim letzten Vorgang werden Dokumente und Auftrag elektronisch miteinander verknüpft. Das hat zur Folge, dass zum Zeitpunkt der Bearbeitung einer Aufgabe – wenn ich sie mir aus meiner „Liste der nächsten physischen Aktionen“ abhole – ich auch auf Knopfdruck die benötigten Dokumente zur Verfügung habe und sie nicht mühsam in meiner Ablage suchen muss.

Selbstmotivation statt „Aliens“

Inwieweit aber diese, hier nur als Beispiel vorgestellte, Trennung von Checken und Abarbeiten realisierbar ist und in der Praxis „etwas bringt“, ist wiederum vom konkreten Arbeitsplatz abhängig. Es ist kein Universalrezept. Wenn die Kunden eines Unternehmens (oder die Kollegen in einem Team oder der Vorgesetzte …) gewohnt sind, auf jede E-Mail binnen zwei Stunden eine Antwort zu erhalten, ist eine solche neue Arbeitsweise nicht durchsetzbar. AFM ist deshalb nicht nur eine Frage von Arbeitstechniken, sondern fast noch mehr eine der „Unternehmenskultur“. Oft stehen wir in unseren Projekten gemeinsam mit dem jeweiligen Team vor der Entscheidung: „Was ist sinnvoller: eine Kulturänderung in Angriff nehmen oder lieber ein anderes Werkzeug ausprobieren?“

Was unseren AFM-Projekten nicht mehr angemessen ist, sind feste Regeln und gute Ratschläge Dritter. Vielmehr muss jeder Mensch für sich selbst und jedes Team in Absprache seiner Mitglieder jene Mittel und Methoden eigenständig definieren, die für ihn oder sie den Weg zum Fluss bahnen.

 

Dipl.-Volksw. Wolf Steinbrecher

Unternehmensberater für Ablage-optimierung, Dokumentenmanagement und Activity-Flow-Management, balanceX GmbH, Karlsruhe
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