Was lange währt, muss nicht gut sein
Die Hartz-IV-Reform 2011 zu Regelbedarf und Kosten der Unterkunft
Was lange währt, muss nicht gut sein
Die Hartz-IV-Reform 2011 zu Regelbedarf und Kosten der Unterkunft
Ein langes politisches Tauziehen hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09;3/09 und 4/09; siehe dazu auch PUBLICUS 2010.1, S. 14) zum verfassungsrechtlichen Existenzminimum ausgelöst, das erst im Februar 2011 ein – vorläufiges – gesetzgeberisches Ende gefunden hat. Ein Anspruch auf verfassungsrechtliche Sicherstellung des Existenzminimums aus der grundrechtlich verbürgten Menschenwürde war geboren. Nur ein laienhafter Blick konnte darin einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch erkennen, welcher der Rechtsprechung des BVerfG eigentlich fremd ist.
Über eine sogenannte Evidenzkontrolle hinaus, die praktisch der Gesetzgeber wohl nicht unterlaufen wird, entpuppt sich die Entscheidung des Verfassungsgerichts nüchtern betrachtet als eine gesteigerte Begründungspflicht für den Gesetzgeber. Soweit mehr als das „nackte Überleben“, die soziokulturelle Teilhabe der Arbeitsuchenden und ihrer Angehörigen zu sichern ist, besteht ein Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber, der vor allem durch eine methodisch konsistente und transparente Gesetzesbegründung eingeengt ist.
Konkrete Umsetzung der Vorgaben noch erforderlich
Das Begründungskorsett kann sich jedoch als engmaschiger darstellen, als es die Gesetzgebungsorgane des Bundes wünschen. Erweisen wird sich das allerdings erst bei einer erneuten Entscheidung des BVerfG. Es wird zu klären haben, wie verfassungsrechtliche Vorgaben, die es in seiner Entscheidung aus dem letzten Jahr gemacht hat, in einem politischen Aushandlungsprozess zu wahren sind, ohne den Status einer „obersten Dauerprüfbehörde“ für die Bestimmung der Höhe des Existenzminimums übernehmen zu müssen.
Kernpunkt sind die Referenzgruppen
Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. So ist es auch hier. Es geht weder um 5 oder 61 € mehr im Monat noch um den staatlich garantierten Genussmittelkonsum für Leistungsempfänger, auch wenn die Medien als Spiegelbild der politischen „Meinungsmache“ aller Richtungen das bisweilen suggerieren. Auf dem Prüfstand wird alleine stehen, ob der Regelbedarf erneut aus fiskalischen Gründen methodisch fehlerhaft heruntergerechnet ist. Das betrifft zunächst die Bildung der Referenzgruppen, deren Verbrauchsverhalten statistisch das Existenzminimum maßgeblich bestimmen soll. So sind nur die untersten 15 % der Ein-Personen-Haushalte, aber 20 % der Mehrpersonenhaushalte mit fragwürdiger Begründung erfasst. Klärungsbedürftig wird weiter sein, ob die unterschiedlichen Bedarfssätze für die jeweilige Altersgruppe (sogenannte Regelbedarfsstufen) und die Mehrbedarfe für Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen (sogenannter Betreuungsaufwand) auf einer validen statistischen Auswertung beruhen. Ein Einfallstor für eine nochmalige Anrufung des BVerfG hat das Gericht selber gesetzt. Das Statistikmodell stellt eigentlich nur auf das tatsächliche Verbrauchsverhalten der maßgeblichen Referenzgruppe ab, ohne zu bewerten, welcher Verbrauch zur Deckung des Existenzminimums erforderlich ist. Gleichwohl hat das BVerfG in seiner Entscheidung dem Gesetzgeber zugestanden, wertend Abschläge vorzunehmen, die eigentlich eher dem Warenkorbmodell entsprechen, das im Einzelnen festlegen soll, welches Verbrauchsverhalten zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich ist.
Alternatives Warenkorbmodell nötig?
Eine Grenzziehung, die den Unterschieden beider Modelle Rechnung trägt, erscheint da schwierig und lädt zu fiskalisch motivierter Einflussnahme ein. Das gilt ungeachtet der Frage, ob ein alternatives Warenkorbmodell schon erforderlich ist, um ein statistisches Abrutschen der Referenzgruppe unter einen, wie auch immer gearteten „Mindestwarenkorb“ auszuschließen. Unklar bleibt zudem nach der Neuregelung, in welchem Umfang die Referenzgruppe mit welchem statistischen Nachweis um Personengruppen zu bereinigen ist, die existenzsichernde Grundsicherungsleistungen teilweise zur Bedarfsdeckung erhalten oder zumindest hierauf einen Anspruch hätten („verdeckte Armut“). An dieser Stelle soll der kursive Problemaufriss enden, auch wenn nicht alle Details aufgezeigt sind.
Jedenfalls scheint der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Gehalt seines Regelungswerks selber nicht zu trauen, da er im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat in einem eingefügten § 10 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes normiert hat, seine Berechnungen auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 in einzeln aufgelisteten Bereichen weiterzuentwickeln. Dabei erstaunt nicht die Absicht selbst, sondern ihre gesetzliche Normierung. Mal sehen, ob das gesetzliche „Pfeifen im Walde“ verfassungsrechtliche Sorgen wirksam vertreiben wird. Bei allen Bedenken wird eine Klärung im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich sein. Ist nach der Rechtsprechung des BVerfG die Schwelle eines evident unzureichenden Regelbedarfs nicht erreicht, darf trotz weiter bestehender verfassungsrechtlicher Bedenken, eine sozialgerichtliche Korrektur im Eilverfahren bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht erfolgen. Das sollte, trotz vereinzelt gegenteiliger Äußerungen, eine weitere unnötige Belastung der Sozialgerichte vermeiden.
Unterkunftskonzepte gefragt
Aus dem Blick gerät allzu leicht, dass die Reform 2011 weitere bedeutende Änderungen enthält, welche vor allem die Kosten der Unterkunft betreffen. Auch hier hat das BVerfG in seiner Entscheidung Flanken gesetzt, als es verlangt hat, dass im Einzelfall die bereitgestellten Geldmittel ausreichen müssen, sich auf dem örtlichen Wohnungsmarkt eine Wohnung des unteren Wohnungssegments beschaffen zu können. Die Länder werden nunmehr ermächtigt, den kommunalen Leistungsträgern das Recht einzuräumen oder diese sogar zu verpflichten, durch Satzung zu bestimmen, bis zu welcher Grenze Aufwendungen für eine Unterkunft zu übernehmen sind (abstrakte Angemessenheitsgrenze). Die bisher durch die Rechtsprechung ungeklärte Frage, ob bei der Bestimmung der Angemessenheitsgrenze den Leistungsträgern zumindest tatsächlich ein Beurteilungsspielraum zusteht, weil die notwendige Ermittlung der Angemessenheitsgrenze methodisch nicht nur einen Weg oder ein Ergebnis zulässt, ist damit entschieden. Dem kommunalen Satzungsgeber wird ein solcher Spielraum zugestanden. Doch Vorsicht ist geboten, weil weiterhin ein schlüssiges Unterkunftskonzept erforderlich ist, welches den verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung trägt. Offen bleibt, ob gerade die Aushandlungsprozesse in den Kommunalparlamenten, auch wenn sie mit dem politischen Druck, der auf den Gesetzgebungsorganen des Bundes oder der Länder lastet, nicht zu vergleichen sind, dafür eine hinreichende Gewähr bieten können. Doch dürfte die Festsetzung dadurch jedenfalls transparenter werden.
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass bereits die bundesgesetzliche Regelung Vorgaben dafür enthält, welche Datenquellen zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen heranzuziehen sind. Allein die Befugnis, hilfsweise auf die Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz zurückgreifen zu können, bedarf weiterhin einer Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung. Sollen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Tabellenwerte grund- sätzlich nicht geeignet sein, einen grundsicherungsrechtlichen Mietspiegel abzubilden, weil sie zu einem anderen Zweck ohne passgenaue Datenerhebung gebildet sind, bleibt fraglich, unter welcher Voraussetzung sie hilfsweise mit welcher Maßgabe berücksichtigt werden dürfen.
Sinnvoll ist es in jedem Fall, dass durch die Satzungsbefugnis die Sozialgerichte entlastet werden können, weil zukünftig die Angemessenheitsgrenze erstinstanzlich von den Landessozialgerichten in Normenkontrollverfahren zu überprüfen sind. In Anlehnung an den Filmtitel „Das Leben ist eine Baustelle“ wird „Hartz IV“ auf jeden Fall auch in Zukunft eine Baustelle bleiben, bei der die „Karlsruher Bauaufsicht“ stets zu beachten ist.