02.08.2021

Vorläufige Außervollzugsetzung der Schließung von Gastronomiebetrieben durch die Niedersächsische Corona-Verordnung (2)

NdsOVG, Beschl. v. 06.11.2020 – 13 MN 411/20 – Teil 2

Vorläufige Außervollzugsetzung der Schließung von Gastronomiebetrieben durch die Niedersächsische Corona-Verordnung (2)

NdsOVG, Beschl. v. 06.11.2020 – 13 MN 411/20 – Teil 2

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
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Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist nicht offensichtlich, dass § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und § 32 Satz 1 und 2 IfSG den Anforderungen an den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Gesetzesvorbehalts nicht genügen. Teil 2 der Reihe beschäftigt sich u.a. mit Anhaltspunkten für eine formelle Rechtswidrigkeit.

Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit?

(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30.10.2020 bestehen derzeit nicht. Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 09.12.2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 04.08.2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig. Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30.10.2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden. § 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens. Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 06.07.1999 – 2 BvF 3/90 – BVerfGE 101, 1 – juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u. a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m. w. N.) dürfte die Verordnung genügen. Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 09.09.2020 – StGH 1/20 –, juris Rn. 9).

(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona- Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.


„Ob“ eines staatlichen Handelns

(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns gegeben. Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt. Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt.

Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARSCoV- 2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11.03.2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 47 300 000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1 210 000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID- 19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/dis eases/novel-coronavirus-2019, Stand: 05.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 597 000 Menschen infiziert und mehr als 10 900 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 41 200 Menschen infiziert und mehr als 790 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 05.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten.

Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist aber die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet, und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu BayVGH, Beschl. v. 08.09.2020 – 20 NE 20.2001 – juris Rn. 28). COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81 % der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14 % einen schwereren und etwa 5 % einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z. B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z. B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z. B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe.

Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend – bei mild-moderaten Erkrankungen – jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARSCoV- 2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70 % der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die sogenannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85 %. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14 % der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37 % intensivmedizinisch behandelt und 17 % beatmet werden.

Zum Verlauf der Pandemie

Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt zehn Tage und von COVID-19- Patientenmit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome – ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber- Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.03.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/ s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.03.2020). Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 03.07.2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARSCoV- 2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z. B. infolge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können. Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1 % liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10 % (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/ N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 02.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/ NCOV2019/gesamt.html, Stand: 06.10.2020).

Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – BVerwG 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205, 212 – juris Rn. 23). Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes „Verhütung übertragbarer Krankheiten“ und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes „Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 – BVerwG I C 60.67 – BVerwGE 39, 190, 192 f. – juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a. F.); Senatsurt. v. 03.02.2011 – 13 LC 198/08 – NdsVBl. 2011, 158, juris Rn. 40).

(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.

(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht da- hin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit i. S. v. § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als „Störer“ anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte („Nichtstörer“) Adressat von Maßnahmen sein, bspw. um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – BVerwG 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205, 212 f. – juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.04.2020 – OVG 11 S 14/20 – juris Rn. 8 f.). Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hoch ansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – BVerwG 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205, 216 – juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen „Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID- 19)“ vom 05.11.2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Ge samt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben, in denen sich eine Vielzahl von Mitarbeitern und Gästen unmittelbar persönlich begegnet oder zumindest begegnen kann und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.

(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft. „Schutzmaßnahmen“ im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.05.2020 – 13 MN 185/20 – juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind. Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten“) nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG „ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann“. Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1970 – 1 BvR 657/68 – BVerfGE 28, 282, 289 – juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.01.1967 – 1 BvR 168/64 – BVerfGE 21, 92, 93 – juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.07.1959 – 1 BvR 394/58 – BVerfGE 10, 89, 99 – juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG. Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall „notwendig“ sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.05.2020 – 13 MN 182/20 – juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris Rn. 16). Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als „notwendig“ dar.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

VBlNds 2/2021

 

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