22.07.2021

Kein Ende im Kopftuchstreit

Der EuGH spielt den Ball zurück

Kein Ende im Kopftuchstreit

Der EuGH spielt den Ball zurück

Spannungsfeld zwischen dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, der Religionsfreiheit und andererseits der unternehmerischen Freiheit. © Angela Wulf – Fotolia.com
Spannungsfeld zwischen dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, der Religionsfreiheit und andererseits der unternehmerischen Freiheit. © Angela Wulf – Fotolia.com

Die Vorgeschichte

Angefangen hatte es mit dem sogenannten ‚Kreuz-Urteil‘ des BVerfG. Das staatliche Neutralitätsgebot und die negative Bekenntnisfreiheit standen auf dem Prüfstand. Sichtbare Zeichen einer religiösen oder weltanschaulichen Haltung wurden verstärkt zu einem Diskussionsthema.

Im öffentlich-rechtlichen Bereich und im privaten Unternehmensumfeld fragte man sich, wie weit dienstliche Weisungen und das Direktionsrecht von Arbeitgebern gehen dürfe, wenn es um das Erscheinungsbild von Beamten, Angestellten und Arbeitnehmern ging. Sichtbarer Körperschmuck, Tätowierungen, religiöse Symbole – wann durfte der sichtbare Ausdruck einer inneren Geisteshaltung, eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses im beruflichen Bereich untersagt werden? Wann griff man in geschützte Grundrechtsbereiche ein? Was war im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, der Religionsfreiheit und andererseits der unternehmerischen Freiheit abzuwägen?

Die Kopftuchstreitfälle spitzten die Situation zu. Durften Arbeitgeber das Tragen eines Kopftuchs bei der Arbeit untersagen, weil das sogenannte ‚islamische Kopftuch‘ verstörend und fremdartig auf Kunden und Mitarbeiter wirke oder verpflichtete die Entscheidung, ein Kopftuch als Ausdruck einer religiös-kulturellen Verpflichtung zu tragen, zur Duldung? Es kam zu höchst differenzierten Entscheidungen, die als Grobkriterium entwickelten, dass das Verbot des Kopftuchtragens ohne Einbettung in ein allgemeines Verbot des Zurschaustellens religiöser oder weltanschaulicher Symbole unmittelbar diskriminierend und damit unwirksam sei. Kippa, Kreuz, Kopftuch – die verordnete Bekenntnisfreiheit würde sämtliche Symbole unterschiedslos aus dem Arbeitsbereich verbannen.


Problematischer wurde es bei nur mittelbaren Ungleichbehandlungen. Diese zweite Prüfungsebene erwies sich als schwierig. Das Arbeitsgericht Hamburg (C-804/18) und das BAG (C-341/19) strebten in zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV eine Klärung grundsätzlicher Fragen durch den EuGH an. Dabei ging es im Wesentlichen um die Wirkung von Art. 2 der ‚RiLi 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf‘ in Bezug auf die Rechtfertigung mittelbarer Ungleichbehandlungen wegen der Religion oder Weltanschauung aufgrund interner Verbote, sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Art am Arbeitsplatz zu tragen.

Das Tragen eines Kopftuches am Arbeitsplatz wurde zum Stellvertretersymbol aller vergleichbaren Fallgruppen.

Die Entscheidung

Die Große Kammer des EuGHs hat am 15.07.2021 zu beiden Vorabentscheidungsersuchen geurteilt und den Ball zurück zu den nationalen Gerichten gespielt. Wer geglaubt hatte, der EuGH würde entweder der Religionsfreiheit aus Art. 10 der Charta der Grundrechte der EU oder in Auslegung der in Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit einen eindeutigen Vorrang einräumen, sah sich getäuscht.

Zunächst bestätigte der Gerichtshof, dass die Bestimmungen der RiLi 2000/78/EG so auszulegen seien, dass eine interne Regel von Unternehmen, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der RiLi darstellt, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Das war bei beiden in Frage stehenden Arbeitgebern unbestritten der Fall.

Wesentlich differenzierter fällt die Einschätzung des EuGHs zu der Frage aus, ob derartige interne Regeln zu einer nicht gerechtfertigten mittelbaren Ungleichbehandlung führen können. Gerechtfertigt sein könne eine solche Regelung, wenn der Arbeitgeber eine Politik von politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber Kunden verfolge, um deren berechtigten Erwartungen Rechnung zu tragen. Grundsätzlich sei die Aufrechterhaltung von Neutralität ein rechtmäßiges Ziel. Allerdings sei eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses des jeweiligen Arbeitgebers gegeben. Sei das Neutralitätsziel lediglich vorgeschoben oder eine Zielvorstellung ohne reales Umsetzungsbedürfnis, reiche die Postulierung von Neutralität zur Rechtfertigung der diskutierten Verbotsregeln nicht aus. Im Sinne von Art. 2 II Buchst. b der RiLi 2000/78/EG gilt jede mittelbare Diskriminierung u.a. wegen der Religion oder der Weltanschauung als verboten, es sei denn, dass das Kriterium oder das Verfahren, aus dem sie sich ergibt, durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Als sachliche Rechtfertigungsgründe könnten z.B. berechtigte Erwartungen und Rechtspositionen von Kunden oder Nutzern dienen, wie z.B. die Erwartung von Eltern, dass ihre Kinder im pädagogischen Umfeld nicht mit dem religiösen Bekenntnis ihrer Lehr- und Aufsichtspersonen in ständigen Kontakt kommen sollen. Der Arbeitgeber müsse den Nachweis führen, dass ohne seine Neutralitätspolitik seine ‚unternehmerische Freiheit‘ unzumutbar beeinträchtigt werde, da er angesichts der Art seiner Unternehmung und des Umfelds, in dem er tätig wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte.

Die verordnete Ungleichbehandlung müsse auch geeignet sein, um die ordnungsgemäße ‚Anwendung der Neutralitätspolitik‘ zu gewährleisten, müsse also konsequent und systematisch befolgt werden. Auch müsse das Verbot nach Art und Ausmaß unbedingt erforderlich sein, um die nachgewiesenen nachteiligen Konsequenzen für den Arbeitgeber abzuwenden. Die Prüfungsschritte entsprechen denen einer klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Eine Absage erteilt der EuGH der Vorstellung, man könne interne Verbotsregeln dadurch rechtfertigen, wenn man sie auf das Tragen auffälliger, großflächiger Zeichen beschränke. Hier stellt der Gerichtshof fest, dass solchermaßen begrenzte Verbote Personen per se stärker treffe, deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugung dazu führe, dass sie auffällige Kleidungsstücke, wie Kopftücher aber auch Turbane und vergleichbares tragen. Bestimmte Kleidungsstücke (Talare, Ordensgewänder etc.) seien mit bestimmten Religionen und Weltanschauungen untrennbar verbunden und unterschiedlich sozialisiert und akzeptiert.  Jedes Verbot, nur auf das Tragen dieser auffälligen Zeichen und Kleidungsstücke zu verzichten, habe zur Folge, dass bestimmte Arbeitnehmer weniger günstig behandelt werden als andere. Eingeschränkte Verbote dieser Art stellen kein geeignetes Mittel zur Verwirklichung einer Neutralitätshaltung dar und sind als unmittelbare Diskriminierung nicht gerechtfertigt.

In einem letzten Prüfungsschritt entschied der Gerichtshof, dass nationale Vorschriften, welche die Religionsfreiheit schützen, bei der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung angemessen ist, als ‚günstigere Vorschriften i.S.d. Art. 8 I der RiLi 2000/78/EG‘ berücksichtigt werden dürfen. Die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten der Parteien seien heranzuziehen und gegeneinander abzuwägen. Dabei sei es Sache der nationalen Gerichte, in Anbetracht aller sich aus den individuellen Fällen ergebenden Umstände, den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen der gegebenen Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen.

Der Unionsgesetzgeber habe es bewusst unterlassen, in der RiLi 2000/78/EG den erforderlichen Einklang zwischen der Gedanken-, der Weltanschauungs- und der Religionsfreiheit sowie den rechtmäßigen Zielen, die zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung geltend gemacht werden können, im Detail zu definieren. Stattdessen habe es der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten überlassen, diesen Einklang herzustellen, dem jeweiligen Kontext der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und jedem Mitgliedstaat im Rahmen dieses Ausgleichs einen Wertungsspielraum einzuräumen.

Fazit

So mancher Kommentator titelte nach der EuGH-Entscheidung, dass Arbeitgeber das Tragen von Kopftüchern am Arbeitsplatz von nun an verbieten dürfen. Das ist allerdings nur bedingt richtig.

Der EuGH hat vielmehr klargemacht, wo das europäische Recht an seine gewollten Grenzen stößt und welche Kriterien die nationalen Gerichte bei der Abwägung der Rechtmäßigkeit mittelbarer Ungleichbehandlungen durch interne Verbote des Tragens sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz anzuwenden haben. Nationale, günstigere Regelungen sollen angewandt werden dürfen. Den nationalen Gerichten soll die Individualabwägung obliegen, wenn mehrere Grundrechte und Rechtspositionen berührt werden. Nur so könne bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden, sodass ein angemessenes Gleichgewicht entsteht.

Der Ball ist zurück im Feld der nationalen Gerichte. Daran besteht kein Zweifel. Weitere Vorlageersuchen grundsätzlicher Natur in Kopftuchstreitfällen dürfte es schwerlich geben, da nationalen Gerichten mit der aktuellen EuGH-Entscheidung Ermessensspielräume eröffnet wurden.

Jetzt muss sich das Interesse darauf konzentrieren, welche Antworten die Arbeitsgerichte finden.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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