10.05.2021

Von der Bazooka zur Zeitbombe

Die haushaltspolitischen Kabinettstücke der Bundesregierung in der Corona-Krise

Von der Bazooka zur Zeitbombe

Die haushaltspolitischen Kabinettstücke der Bundesregierung in der Corona-Krise

Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Stockwerk-Fotodesign - stock.ado
Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Stockwerk-Fotodesign - stock.ado

Im Schatten der nicht enden wollenden Corona-Pandemie sind weite Teile von Bevölkerung und Politik national und international zu Staatsoptimisten geworden, da dies im Großen und Ganzen als alternativlos erscheint. Nach den Planungen der Bundesregierung explodieren die Schulden innerhalb der Jahre 2020 bis 2022 von Null auf 452,2 Mrd. Euro. Das entspricht fast der Hälfte der Staatsschulden, die der Bund in den 70 Jahren zuvor angehäuft hat. Innerhalb dieser drei Haushalte werden mehr neue Kredite aufgenommen als in den letzten 20 Jahren zuvor.

Auch der Einbruch der Steuereinnahmen erreicht historische Dimensionen. Die Steuerdeckungsquote unterschreitet in den Haushalten 2020 bis 2022 selbst die niedrigen Deckungsquoten der „Krisenhaushalte“ 2009 und 2010 in der Folge der damaligen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Nach dem 1. Nachtragshaushalt 2021 kann der Bund im laufenden Jahr nur noch knapp 52 % seiner Ausgaben mit den erwarteten Steuereinnahmen decken. Steuerdeckungsquoten der jüngsten Vergangenheit im Bereich von 95 % (Bundeshaushalte 2015 bis 2019) wird der Bund auf absehbare Zeit nicht mehr annähernd erreichen. Ob der in den Eckwerten für die Haushalte ab 2023 projektierte Rückgang der Neuverschuldung realistisch ist, erscheint aus heutiger Sicht zumindest zweifelhaft.

Nun kann man zunächst einwenden, dass außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erfordern. Ein etwas genauerer Blick auf die Dinge lässt allerdings Zweifel aufkommen. Im Ergebnis war bereits der Bundeshaushalt 2020 deutlich überdimensioniert, da die im 2. Nachtrag 2020 veranschlagte Nettokreditaufnahme von 217,8 Mrd. Euro im Ist um 87,3 Mrd. Euro unterschritten wurde. Der um 61,8 Mrd. Euro gegenüber dem 1. Nachtrag aufgestockten Nettokreditermächtigung hätte es damit gar nicht bedurft. Die Hinweise des Bundesrechnungshofes, unter Beachtung wesentlicher Haushaltsgrundsätze wie Wahrheit (im Sinne von Schätzgenauigkeit), Klarheit und Etatreife realistisch zu planen, wurden hier offensichtlich nicht beherzigt.


Weiterhin ist die Frage, warum schon im März dieses Jahres im 1. Nachtrag 2021 eine Erhöhung der erlaubten Nettokreditaufnahme um über 60 Mrd. Euro erfolgt (von ca. 180 Mrd. auf ca. 240 Mrd. Euro), wenn aus dem Vorjahr noch nicht genutzte sog. Restkreditermächtigungen (§ 18 Abs. 3 BHO) von über 80 Mrd. € bereit standen, die ohne neuen Nachtragshaushalt hätten mobilisiert werden können. Es besteht daher die begründete Vermutung, dass die Notlage und die durch sie ermöglichte Nettokreditaufnahme als Begründung dafür verwendet wird, politische Programme umzusetzen, zu beschleunigen oder sonst zu fördern, die bereits vor Beginn der Notlage Teil der politischen Agenda der Regierung waren, aber durch die damals noch einzuhaltende Schuldenbremse verhindert wurden. Zugegebenermaßen begünstigt der Grundsatz der Gesamtdeckung („Alle Einnahmen dienen zur Deckung aller Ausgaben“), Kausalitätszusammenhänge in einem Haushalt zu verschleiern, indem behauptet wird, die jeweilige Ausgabemaßnahme sei nicht notlagenkreditfinanziert. Bei allen Einschätzungsspielräumen des Haushaltsgesetzgebers hat er jedoch eine von der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit breit anerkannte Publizitätspflicht hinsichtlich der Eignung seiner Maßnahmen zur Überwindung der Notlage.

Besonders gefahrenträchtig für Verfassungsverstöße sind dabei Rücklagen, die der Staat in Zeiten bildet, in denen ihm eine hohe Nettoneuverschuldung – dem Grunde nach – gestattet ist, um die solchermaßen „angesparten“ Mittel in späteren Haushaltsjahren einsetzen zu können.

So sinnvoll maßvolle Rücklagen im Idealfall eines schuldenfreien Haushalts sein mögen, so problematisch erweist sich deren Bildung oder Erhöhung in einem Haushalt, der (zum Teil) schuldenfinanziert ist. Die Frage ist einerseits, ob der Staat Haushaltsmittel in Rücklagen („Guthaben“) anlegen darf, obwohl er alte Kredite ablösen könnte.

Haushaltstechnische Gestaltungen – insbesondere in Form von Rücklagen – dürften ferner nicht dazu führen, dass der Kreditbedarf bestimmter Haushaltsjahre auf andere Haushaltsjahre verteilt wird. Diese Aufsplittung hätte zur Folge, dass die Kreditobergrenze, die auf das einzelne Haushaltsjahr abstellt, ausgehebelt wird. Von den Verfassungsgerichtshöfen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz wurde daher auch folgerichtig bestätigt, dass bei Kreditfinanzierung eines Haushalts grundsätzlich weder Zuführungen an eine im Staatshaushalt ausgewiesene allgemeine Rücklage noch an besondere, ggf. rechtlich als Sondervermögen verselbständigte Rücklagen gerechtfertigt werden können.

Im Widerspruch dazu wurde aufgrund des 2. Nachtragshaushalts 2020 dem „Energie- und Klimafonds“ als nicht rechtsfähigem Sondervermögen ein – schuldenfinanzierter – Zuschuss in Höhe von rd. 26,2 Mrd. Euro gewährt. Der „Löwenanteil“ des Zuschusses wird allerdings erst in den kommenden Jahren zur Finanzierung langfristiger Maßnahmen verwendet werden. Der von den Koalitionsfraktionen so bezeichnete „aktive Modernisierungsschub“ („Wumms“) darf nach den Regeln der Schuldenbremse allerdings nicht durch eine Notlagenverschuldung finanziert werden. Ein entsprechendes Vorgehen des Haushaltsgesetzgebers steht auch nach Auffassung des Bundesrechnungshofs in einem Spannungsfeld zu den Grundsätzen der Jährlichkeit, der Fälligkeit sowie der Haushaltswahrheit. Da ein nicht unerheblicher Teil der jetzt „ins Schaufenster gestellten“ investiven Mittel dort zunächst verbleibt, wird nicht einmal der für 2020/2021 erhoffte konjunkturelle Effekt zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Corona-Folgen eintreten. Gleichlautende Argumente können gegen die Zuführungen durch den 2. Nachtragshaushalt 2020 in andere Sondervermögen wie „Digitale Infrastruktur“ (1 Mrd. Euro), „Kinderbetreuungsausbau“ (0,5 Mrd. Euro), „Ganztagsschulausbau“ (1,5 Mrd. Euro) sowie zusätzliche Investitionsausgaben für Verwaltung und Militär (3 Mrd. Euro) eingewendet werden. All diesen Investitionsausgaben liegen offensichtlich allgemeine Aufgaben des Bundes zugrunde, die völlig unabhängig von der „Corona-Krise“ anfallen und zukünftige Haushalte vorbelasten.

Umgekehrt, aber leider ebenso kritikwürdig, verhält sich der Bund bei der Verwendung bereits früher gebildeter Rücklagen. Die zusätzliche Nettokreditaufnahme (NKA) fällt nämlich auch deswegen so hoch aus, da die Bundesregierung die aus Überschüssen der Haushalte 2015 bis 2019 angesparte „Asyl-Rücklage“ von 48,2 Mrd. Euro für die Haushaltsjahre 2023 und 2024 „auf Vorrat“ halten möchte. Da die bei ihrer Einführung bestehende Unsicherheit hinsichtlich der Höhe der finanziellen Herausforderungen der Flüchtlingsintegration nicht mehr besteht, hätte diese hätte bereits durch den Nachtragshaushalt 2020 vollständig aufgelöst werden sollen, um durch die darin enthaltenen Haushaltsmittel die erhöhte NKA zu vermeiden. Faktisch erfolgte damit eine komplette Kreditfinanzierung der Maßnahmen zur Überwindung der Krise.

Gleichzeitig verschärft sich die Schieflage im Bundeshaushalt zwischen dem Sozialbudget, das gegenwärtig bereits einen Anteil von 51,6 % mit weiter steigender Tendenz hat, und Investitionen, die auch in den nächsten Haushalten weniger als ein Viertel der Sozialausgaben ausmachen. Viele der strukturellen Probleme stammen bereits aus der Zeit vor der Pandemie.

Zwar lag die Schuldenstandquote 2020 mit 71,2 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP – vorläufiges Ergebnis) unter dem Niveau des Jahres 2010 (82,3 % des BIP), allerdings wachsen die pandemiebedingten Schäden von Woche zu Woche.

Auch unabhängig von dieser Dynamik ist diese Zahl kein wirklicher Trost, denn im Bundeshaushalt sind ähnliche Entlastungen wie in den Jahren nach der Finanzkrise nicht zu erwarten: Anders als damals werden weder die Zinsen noch die Rohstoffpreise weiter fallen. Auch das fortwährende Wachstum der Steuereinnahmen bis zum Jahr 2019 dürfte sich in dieser Größenordnung nicht wiederholen. Wachsen wird allenfalls der demografische Druck auf die Sozialsysteme.

An den politischen Dauerbrennerthemen wie insbesondere stringente Prioritätensetzung, Aufgabenkritik und Subventionsabbau wird – für welche Regierungskoalition auch immer – kein Weg vorbeiführen. Ansonsten wäre die Schuldenbremse faktisch nicht mehr zu halten. Ihre Aufweichung oder gar Abschaffung wäre aber auch im Hinblick auf ihre Vorbildfunktion fatal, denn sie stabilisiert gleichermaßen das Fortbestehen des Euroraums.

 

Michael Heinrich

Dozent an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung in Mannheim
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