21.05.2021

Das Kreuz mit Corona (2)

Herausforderungen an demokratische Wahlen in Zeiten der Pandemie (Teil 2)

Das Kreuz mit Corona (2)

Herausforderungen an demokratische Wahlen in Zeiten der Pandemie (Teil 2)

Bei allen Wahlen türmt sich eine Fülle rechtlicher Fragen auf. © fotomek – fotolia.com
Bei allen Wahlen türmt sich eine Fülle rechtlicher Fragen auf. © fotomek – fotolia.com

Die große Aufgabe der Demokratie, ihr Ritual und ihr Fest – das ist die Wahl.
(H.G. Wells)

Von den Chinesen könnten wir derzeit viel lernen. Sie haben für Krise und Chance dasselbe Schriftzeichen.
(Richard von Weizsäcker)

Wäre das covidsche Regiment abwählbar, hätten wir dies schon längst getan. Doch wir müssen mit dem Virus weiterleben. Es bleibt uns auf absehbare Zeit nichts anderes übrig, als seine verheerenden Folgen für Menschen, Gesellschaft und Staat regulierend und administrierend abzumildern. Bei der Aufstellung, Umsetzung und Beurteilung der grundrechtseinschränkenden Corona-Maßnahmen müssen gleichwohl rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze strikt beachtet werden.


Gefährdungen der Chancengleichheit der Parteien

Über parteiinterne elektronische Abstimmungen hinaus müssen Wahlgesetze im Hinblick auf die Einreichung von Unterstützungsunterschriften an das Pandemiegeschehen angepasst werden. Mit mehreren Beschlüssen vom 17.3.2021 erklärte der Berliner Verfassungsgerichtshof bestehende Regeln zur Teilnahme kleinerer Parteien an den parallel zur Bundestagswahl stattfindenden Landeswahlen für verfassungswidrig (VerfGH 4/21). Unter den außergewöhnlichen Bedingungen der Corona-Pandemie sei die Vorgabe eines Quorums für Unterstützungsunterschriften zu den Wahlkreisvorschlägen, welches schon auf 50 % abgesenkt wurde, immer noch zu hoch. Das Werben um Unterschriften mit persönlicher Kontaktaufnahme sei derzeit nicht zumutbar, das Werben im Internet ein schlechter Ersatz. Das Gericht regte eine Absenkung des Quorums um 70 bis 80 % an.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Gegensatz zu dieser und weiteren Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte (etwa Beschluss des Verfassungsgerichtshofes NRW vom 22.7.2020, VerfGH 102/20.VB-2: Reduzierung auf 60 %) in einer neuen Eilentscheidung vom 13.4.2021 (2 BvE 1/21 und 3/21) die von der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschland und der Bayernpartei jeweils beantragte Aussetzung bzw. Anpassung der Quoren für die Bundestagswahl aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen indes abgelehnt. Für Parteien, die weder im aktuellen Bundestag noch in einem Landtag ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, sieht das Bundeswahlgesetz vor, dass Direktkandidaten mindestens 200 Unterschriften von Wahlberechtigten ihres Wahlkreises vorlegen müssen. Landeslisten müssen von einem von Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens 2.000 Wahlberechtigten „persönlich und handschriftlich unterzeichnet“ sein.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist eine veritable prozessuale Ohrfeige. Es hat beide Anträge jeweils wegen unzureichender Begründung als unzulässig verworfen. Eine mögliche Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG sei nicht ausreichend dargelegt worden. Zwar attestiert das Gericht den antragstellenden Parteien, erkannt und ausgeführt zu haben, dass wahlrechtliche Unterschriftenquoren in dieses Recht eingriffen. Nach ständiger Rechtsprechung seien diese sachlich gerechtfertigt, wenn und soweit sie dazu dienten, den Wahlakt auf ernsthafte Wahlvorschläge zu beschränken und so der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen. Ebenfalls sei hinreichend erläutert, dass die pandemiebedingten, auf nicht absehbare Zeit fortbestehenden Kontaktverbote und -beschränkungen eine Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für das Sammeln der erforderlichen Unterstützungsunterschriften darstellten.

Nach Auffassung des Gerichts fehlt es jedoch an einer nachvollziehbaren Begründung, weshalb der Gesetzgeber angesichts dieser offenkundigen Erschwernisse gerade mit Blick auf die Antragsteller aus Verfassungsgründen zur Aussetzung oder Absenkung der Quoren verpflichtet werden müsse. Das Erfordernis des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme sei weiter zu beachten und rechtfertige unter normalen Umständen Unterschriftenquoren bis zu 0,25 % der Wahlberechtigten. Dahinter bliebe die gesetzliche Regelung im BWahlG deutlich zurück.

Folglich könne nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Beibehaltung der gesetzlichen Quoren die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschreite. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, verständlich zu begründen, dass aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen für das Sammeln von Unterstützungsunterschriften die Wahlteilnahme hierdurch praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werde. Dies werde von den Antragstellenden aber nur unsubstantiiert und pauschal behauptet. Bei der Bayernpartei mit 5.000 Mitgliedern in Bayern erschloss sich für das Gericht verständlicherweise nicht, weshalb es nicht möglich sein solle, die gesetzlichen Unterschriftenquoren von bis zu 2000 Unterschriften zu erfüllen. Schließlich hielt es beiden Parteien vor, dass sie bisher ein Jahr Zeit gehabt hätten, Unterstützungsunterschriften beizubringen.

Letzteres Argument überzeugt und erklärt auch, weshalb in den Ländern die Entscheidungen anders ausfielen. Dort waren die Zeiträume vor den Wahlen zur Sammlung von Unterschriften deutlich kürzer bemessen. Der Karlsruher Beschluss erscheint auch deshalb als zwar hart, aber gerecht, weil beide Parteien wie die meisten anderen Parteien mit Vehemenz und vermutlich einigem Erfolg auf ihren Webseiten um Unterstützung werben. Die Unterschriftenformulare stehen mit sorgsamen Hinweisen dort als PDF zum Download bereit.

Obgleich die antragstellenden Parteien prozessual ziemlich „baden gingen“, wird ihr Ausflug nach Karlsruhe am Ende des Tages nicht ohne Auswirkungen auf die Gesetzgebung bleiben. Das Gericht hat in seinem ausführlichen Beschluss dem Bundestag deutliche Zeichen gegeben, dass er die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts im Rahmen seines ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Gestaltungsspielraums, an neu auftretenden tatsächlichen Entwicklungen und unvorhergesehenen Gefahren für die Integration von Wahlen ausrichten muss.

Angesichts der auch für das Bundesverfassungsgericht offenkundigen pandemiebedingten Erschwernisse bei der Beibringung der Unterstützungsunterschriften wundert es nicht, dass die politischen Stimmen im Bundestag lauter werden, das Wahlrecht für die Bundestagswahl 2021 kurzfristig noch zu ändern und die Wahlantrittshürden zu senken. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments wird in diesem Fall kaum leiden, weil die fünfprozentige Sperrklausel weiterhin eine Zersplitterung der zudem noch recht gefestigten Parteienlandschaft wirksam verhindert.

Durchführung der Wahlen infektionsschutzfest gestalten

Wahlen bleiben zunächst weiter Präsenzwahlen mit dem sonntäglichen Gang ins Wahllokal als Ritual. Die strikte Beachtung der AHA-Regeln, die Einbahnstraßensysteme im Wahlraum mit Bodenabklebungen, Spuckschutzwände, Desinfektionen und die Nutzung eines eigenen Stiftes bzw. die Ausgabe desinfizierter Stifte sind dabei selbstverständlich geworden und sichern relativ zuverlässig eine ansteckungsfreie Stimmabgabe. Die Gemeindebehörden erstellen die erforderlichen Hygienekonzepte in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt. Eine Maskenpflicht für Wahlvorstände verletzt hierbei nicht etwa das wahlrechtliche „Verschleierungsverbot“.

Fortschreitende Impfungen mindern ferner Infektionsgefahren, die Bürger*innen vor einem Besuch ihres Wahllokals abschrecken könnten. Hilfreich auch, dass die Coronavirus-Impfverordnung des Bundes nunmehr zurecht Wahlhelfer*innen als systemrelevante Personengruppe in Prioritätsgruppe 3 eingestuft hat.

Wohlgemeinte Vorschläge oder Versuche wie bei den bayerischen Kommunalwahlen 2020, die Wahl bzw. Stichwahl in einer Pandemie als reine Briefwahl (§ 36 BWahlG) durchzuführen, sind abzulehnen. Briefwahlen sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur ausnahmsweise zulässig, um in der Abwägung der Wahlgrundsätze die Allgemeinheit der Wahl zu fördern (etwa BVerfGE 59, 119).

Der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wird durch die bestehenden Maßnahmen bei der Urnenwahl und der zunehmend genutzten Briefwahl, die besonders für Menschen in Quarantäne probates Mittel der Wahl ist, genüge getan. Es ist nicht gerechtfertigt, dass der mit einer Briefwahl eingeschränkte Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl und die Gefährdung des Wahlgeheimnisses, die mit dem Ausfüllen des Stimmzettels zu Hause verbunden sind, in der Abwägung gänzlich zurücktreten.

Analoge Augen des Volkes

Online-Wahlen sind als infektionssichere Alternative aus verfassungsrechtlichen Gründen bei Parlaments- und Kommunalwahlen weiterhin ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2009 im Wahlcomputer-Urteil elektronische Wahlverfahren nur in engen Grenzen als zulässig erachtet (BVerfGE 123, 39). Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebiete, dass alle wesentlichen Schritte der Wahlen der öffentlichen Überprüfbarkeit unterlägen. Kontrolle sei nötig. Elektronische Wahlgeräte seien manipulierbar und fehleranfällig. Die Wählenden und auch die Wahlorgane müssten nachvollziehen können, ob die Stimmen für die Auszählung unverfälscht erfasst werden.

Die Bürger*innen und damit die Öffentlichkeit insgesamt können bislang eine Online-Wahl technisch nicht nachvollziehen und kontrollieren. Damit bleibt es vorerst bei der Wahl auf analogen Stimmzetteln, die unter Wahrung des Wahlgeheimnisses bei der Stimmabgabe in der Wahlkabine grundsätzlich in der Öffentlichkeit des Wahllokals in die Wahlurnen zu werfen sind, sowie der Möglichkeit der öffentlichen Beobachtung der Auszählung der Stimmen im Wahllokal.

Zukünftige Verbreitung des digitalen Virus bei Wahlen

Estland ist allerdings bereits seit 2005 Vorreiterin für flächendeckende online durchgeführte Wahlen. In dem kleinen Land mit internetaffinen 1,3 Millionen Einwohner*innen ist indes der Vernetzungsgrad hoch und die digitale Verwaltung viel weiter fortgeschritten. Wegen der dortigen Optionen, die Internetstimme bis zuletzt noch zu ändern oder alternativ final offline abzustimmen, hält der estnische Staatsgerichtshof die Wahlrechtsgleichheit zudem für gewahrt.

Deutschland bleibt von einer digitalen Wahlzukunft auf estnischem Niveau weit entfernt, obgleich es anachronistisch anmutet, Online-Wahlen auszuschließen. Beim sog. E-Voting kann eine Manipulation der gespeicherten Abstimmungsdaten durch äußere Einwirkung, insbesondere Hacker- oder Cyberangriffe, durch technisch zuverlässige Datensicherungssysteme bislang aber nicht ausgeschlossen werden. Daher hat die Gewährleistung der Wahlrechtsgrundsätze bei Parlaments- und Kommunalwahlen, vor allem die Sicherung einer freien, öffentlichen und geheimen Wahl, Vorrang vor digitalen Krisen-Experimenten. Dies darf aber nicht zu Denkverboten oder Stillstand führen. Vielmehr geben die rechtlichen und technischen Fortschritte sowie die praktischen Vorteile bei den Online-Hochschulwahlen und Online-Sozialwahlen Mut auch für Weiterentwicklungen bei den Parlaments- und Kommunalwahlen.

In den schwierigen Zeiten der Pandemie ist die makellose demokratische Legitimation der Gewählten wichtiger denn je, da diese Rechtseingriffe ungekannten Ausmaßes verantworten müssen. Eine lebendige Demokratie lässt sich normativ nicht erzwingen. Dennoch können digitale Formate vor allem im Wahlkampf oder bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen zur Ermunterung der Demokratie beitragen. Darüber hinaus wäre eine Entwicklung hin zu mehr „liquid democray“, in der digitale und alternative Beteiligungskonzepte als demokratische Laboratorien erprobt werden, zu begrüßen.

Hinzukommen muss indes spätestens in Nach-Corona-Zeiten eine Revitalisierung des politischen Streits als herrschaftsfreier Diskurs in öffentlichen Räumen und im Rahmen persönlicher Begegnungen ohne intolerante Meinungstabus und den diskriminierenden Ausschluss unerwünschter Ansichten. Schließlich sollten wir künftige Wahltage wieder in Gemeinschaft als Fest der Demokratie zelebrieren. Grund zu feiern haben wir dann genug.

 

Prof. Dr. Frank Bätge

Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen
 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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