15.03.2011

Verfall des tariflichen Mehrurlaubs?

Schicksal des Urlaubsanspruches bei Langzeiterkrankung bleibt ungeklärt

Verfall des tariflichen Mehrurlaubs?

Schicksal des Urlaubsanspruches bei Langzeiterkrankung bleibt ungeklärt

Schultz-Hoff-Urteil des EuGH: Urlaub verfällt nicht bei längerer Erkrankung. | © Chad McDermott - Fotolia
Schultz-Hoff-Urteil des EuGH: Urlaub verfällt nicht bei längerer Erkrankung. | © Chad McDermott - Fotolia

In Reaktion auf die sog. Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH (EuGH, Urt. v. 20.01.2009 – Rs. C-350-06) wurde das BAG gezwungen, seine Rechtsprechung zum Verfall des gesetzlichen Urlaubsanspruches bei Langzeiterkrankungen aufzugeben. Seit der Entscheidung des BAG (BAG, Urt. v. 24.03.2009 – 9 AZR 983/07 ) erlischt der Anspruch auf gesetzlichen Voll- oder Teilurlaub nicht, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraumes erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. Ungeklärt bleibt, welches Schicksal der über den gesetzlichen Urlaub hinausgehende tarifliche Mehrurlaub nimmt, der im TVöD und TV-L geregelt ist. Bei einer 5-Tage-Woche beträgt der gesetzliche Anspruch auf Erholungsurlaub nach § 3 Abs. 1 BUrlG 20 Tage, der tarifliche Urlaub beträgt – gestaffelt nach dem Alter – 26 bis 30 Tage.

Die Wende des EuGH

Solange das deutsche Urlaubsrecht gesondert betrachtet werden konnte, leitete das BAG die Antwort, wie bei Langzeiterkrankungen mit Urlaubsansprüchen umzugehen sei, aus dem Wortlaut des § 7 Absatz 3, 4 BUrlG ab: Urlaub, den der Arbeitnehmer aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum Ende eines Urlaubsjahres und/oder des gesetzlichen Übertragungszeitraumes, dem 31.03. des Folgejahres, antreten konnte, war verfallen. Die Möglichkeit der Urlaubserteilung setzte die Arbeitsfähigkeit voraus. Ist jemand nicht arbeitsfähig, kann ihm der Urlaub auch nicht erteilt werden, so dass der Urlaubsanspruch nach der gesetzlichen Systematik verfallen konnte. Die Schultz-Hoff-Entscheidung gab dem BAG auf, bei der Anwendung der deutschen Rechtsnorm Artikel 7 Absatz 1 und 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 (sog. Arbeitszeitrichtlinie) zu berücksichtigen. Die Arbeitszeitrichtlinie sei dahingehend auszulegen, dass sie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegen stehe, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Ablauf des Bezugszeitraumes selbst dann erlischt, wenn der Arbeitnehmer krankgeschrieben war. Artikel 7 Absatz 1 der Arbeitszeitrichtlinie sehe vor, dass Urlaub erst dann verfallen kann, wenn der Arbeitnehmer den ihm von der Richtlinie verliehenen Mindesturlaubsanspruch auch tatsächlich ausüben konnte. Nach Auffassung des EuGH sei der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaften. Von ihm dürfe auch nicht bei Krankheit abgewichen werden.

Auswirkungen auf deutsche Arbeitgeber

In Anwendung dieser europäischen Rechtsprechung musste das BAG in der Entscheidung vom 24.03.2009 (9 AZR 983/07) seine bisherige Praxis ausdrücklich aufgeben und erklären, § 7 des deutschen Bundesurlaubsgesetzes nunmehr „richtlinienkonform“ auszulegen. Artikel 7 Absatz 1 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie bestimmt, dass jedem Arbeitnehmer in einer 5-Tage-Woche ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen zu gewähren ist. Dieser gesetzliche Mindestanspruch sei auch im deutschen Bundesurlaubsgesetz in § 3 BUrlG vorgesehen und könne demnach nicht bei Krankheit verfallen. Ergänzend hat das Bundesarbeitsgericht per 23.03.2010 (9 AZR 128/09) entschieden, dass auch der gesetzliche Schwerbehindertenzusatzurlaub aus § 125 Absatz 1 Satz 1 SGB IX nicht in Folge einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit verfallen kann.


Auswirkungen in finanzieller Hinsicht

Die finanziellen Auswirkungen dieses Wandels im Urlaubsrecht sind immens. Gerade der öffentliche Dienst tut sich auch bei lang andauernden Krankheiten mit krankheitsbedingten Kündigungen schwer. Dies gilt erst recht, soweit tarifvertraglich der Ausspruch der ordentlichen Kündigung ausgeschlossen ist. Die Entscheidungen bewirken, dass Mitarbeiter, die seit Jahren ohne Gegenleistung auf der Payroll stehen, nunmehr aus mehreren Jahren kumulierte Urlaubsansprüche angesammelt haben, die entweder bei Rückkehr zu gewähren oder bei Beendigung abzugelten sind. Da die im Öffentlichen Dienst maßgeblichen Tarifverträge TV-L und TVöD Urlaubsansprüche eröffnen, die noch über den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch hinausgehen, stellt sich die Frage, wie diese zu behandeln sind. Gilt zumindest insoweit die alte Rechtslage oder sind auch diese Ansprüche unverfallbar?

Rechtslage für tariflichen Mehrurlaub bleibt offen

Die Rechtsprechung dazu ist uneinheitlich. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 19.08.2010 – 10 Sa 244/10) hat entschieden, dass der über den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch von 20 Tagen bei einer 5-Tage-Woche hinausgehende tarifliche Mehrurlaub im öffentlichen Dienst verfällt, wenn der Arbeitnehmer diesen Mehrurlaub bis zur Beendigung des Übertragungszeitraumes nach dem TVöD, dem 31.05. des Folgejahres, nicht antreten konnte. Angeblich schufen die Urlaubsregelungen des § 26 TVöD ein „weitgehend vom Gesetzesrecht losgelöstes Urlaubsregime“. Die Tarifvertragsparteien seien bewusst von der gesetzlichen Regelung abgewichen, indem sie den Übertragungszeitraum des Urlaubsanspruches bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 31.03. des Folgejahres, sondern abweichend bis zum 31.05. befristet haben. Diese ausdrückliche Unterscheidung zwischen gesetzlicher und tariflicher Übertragungsregelung eröffne auch die Möglichkeit zwischen dem gesetzlichen Urlaub und dem tariflichen Mehrurlaub zu differenzieren. Der tarifliche Mehrurlaub könne daher verfallen.

Dem widerspricht die Entscheidung des LAG München (LAG München, Urt. v. 29.07.2010 – 3 Sa 280/10). Danach unterscheidet § 26 TV-L, der § 26 TVöD entspricht, nicht hinreichend deutlich zwischen gesetzlichem und übergesetzlichem Urlaub, so dass auch der übergesetzliche tarifliche Urlaub bei andauernder Krankheit nicht verfällt. Mit Spannung bleibt daher die Entscheidung des BAG abzuwarten. Für den öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber kann es sich entscheidend auswirken, ob die Langzeiterkrankten sich lediglich auf den gesetzlichen Urlaub oder aber auch auf die Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs freuen können.

Fazit

Bis zu einer abschließenden Entscheidung des BAG kann sich der Arbeitgeber auf die Rechtsprechung aus Rheinland-Pfalz stützen. Darüber hinaus wird Arbeitgebern geraten, den Urlaub bei der Urlaubserteilung mit einer sogenannten Tilgungsbestimmung zu versehen. Mitarbeiter sollten darauf hingewiesen werden, dass erteilte Urlaubsansprüche zunächst auf den (unverfallbaren) gesetzlichen Mindesturlaub und erst nach Verbrauch dieses Urlaubsanspruchs auf den (gegebenenfalls verfallbaren) tariflichen Mehrurlaub angerechnet werden. Dies soll bewirken, dass Arbeitnehmern, die zumindest teilweise in einem Jahr Urlaub nehmen und im Übrigen arbeitsunfähig verhindert sind, vornehmlich der tarifliche Mehrurlaub erhalten bleibt. Dieser tarifliche Mehrurlaub kann dann bei langer Krankheit nach Beendigung des Übertragungszeitraums dem Verfall ausgeliefert sein. Zwar mehren sich auch hier die ersten Stimmen in der Literatur, die behaupten, eine derartige Tilgungsbestimmung gehe aufgrund der Einheitlichkeit des Urlaubsanspruchs ins Leere. Solange das BAG aber diese Problematik nicht endgültig ausgeurteilt hat, kann man damit zumindest nichts falsch machen. Soweit Urlaub beantragt wird, sollte jeder Arbeitnehmer darauf hingewiesen werden, dass mit der Urlaubserteilung zunächst der gesetzliche Mindesturlaub erlischt. Es liegt dann in den Händen des BAG, ob diese Tilgungsbestimmung greift, oder aber öffentlich-rechtliche Arbeitgeber bei Langzeiterkrankungen einer nicht einschränkbaren Kumulation von Urlaubsansprüchen ausgesetzt sind.

 

Dr. Martin Römermann

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, SKW Schwarz, Berlin
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