15.03.2011

Eine Rechnung mit zwei Unbekannten

Wahl und Wahlrecht in Baden-Württemberg

Eine Rechnung mit zwei Unbekannten

Wahl und Wahlrecht in Baden-Württemberg

Überhangmandate: „one man two votes“? | © Greg Epperson - Fotolia
Überhangmandate: „one man two votes“? | © Greg Epperson - Fotolia

Wer geglaubt hat, Überhangmandate würden nur dann entstehen, wenn die Wähler zwei Stimmen haben und sie an verschiedene Parteien vergeben, der hat sich gründlich getäuscht und muss umlernen. In Baden-Württemberg gibt es kein Stimmensplitting. Trotzdem sind die Überhangmandate nicht von der Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil, sind sie ein bestimmendes Element des Landtags. So gab es: 1980: 4; 1984 : 6; 1988: 5; 1992: 26; 1996: 35; 2001: 8 und 2006: 19 Überhang- inklusive Ausgleichsmandate.

Die Grundzüge des Wahlrechts

Baden-Württemberg hat sich für die Verhältniswahl entschieden. Der Wähler hat zwar nur eine Stimme, mit der er zuerst über den Parteienproporz im Landtag, zugleich aber auch über Sieger und Verlierer in den Wahlkreisen entscheidet. Das Stimmensplitting ist somit ausgeschlossen. Die Stimmen werden aber zweimal ausgezählt, erstens um die Mehrheitsverhältnisse im ganzen Land zu ermitteln und zweitens um die Reihenfolge der Bewerber im jeweiligen Wahlkreis festzustellen, die dann nach dem Parteienproporz in den Landtag einziehen.

Der Landtag umfasst 120 Sitze, die durch Überhang- und weitere Ausgleichsmandate aufgestockt werden. Die Sitze im Landtag werden – seit 2006 nach dem Verfahren von Sante-Laguë – auf die Parteien im Verhältnis der von ihnen errungenen Anteile an der Gesamtzahl aller gültig abgegebenen Stimmen verteilt. Sodann wird wiederum nach dem Verfahren von Sante-Laguë eine weitere „Sollzahl“ an Sitzen pro Partei in den vier Regierungsbezirken ermittelt.


Die erlangten Sitze werden von den Parteien mit ihren Kandidaten aus insgesamt 70 Wahlkreisen besetzt. Die Auswahl erfolgt an Hand der im Wahlkreis errungenen Stimmenanteile. Die insgesamt 70 Sieger kommen also zuerst zum Zuge. Ihnen wird das sogenannte „Erstmandat“ zugesprochen. Das genügt aber nicht, um 120 Sitze zu belegen. Es müssen also mindestens 50 im Wahlkreis unterlegene Bewerber nachgeschoben werden, die das sogenannte „Zweitmandat“ erlangen.

Würde man darauf verzichten, könnten die kleinen Parteien, die zu wenige oder kein Direktmandat erringen, die ihnen zukommenden Sitze nicht mit Abgeordneten besetzen. Wohlgemerkt werden auch die Bewerber für die Zweitmandate, wenn auch als „Abgeordnete zweiter Klasse“, direkt gewählt. Durch die Proporzwahl werden also die Mehrheitsverhältnisse im Landtag bestimmt. Die Direktwahl in den Wahlkreisen hat lediglich den Sinn, die Personen zu benennen, die auf den Sitzen Platz nehmen sollen, die den Parteien zustehen.

Soweit so gut, wenn da nicht zwei Klippen zu umschiffen wären: die „verflixte“ negative Stimmenmacht und die dreimal „verflixten“ Ausgleichsmandate. So wird die Wahl in Baden-Württemberg zu einer Rechnung mit zwei Unbekannten.

Die negative Stimmenmacht – ein Damoklesschwert?

Das Bundesverfassungsgericht hat die „negative Stimmenmacht“ verworfen und im Bund bis zum 30.06.2011 eine Änderung des Wahlrechts verlangt. Baden-Württemberg fühlte sich davon nicht angesprochen und hat deshalb nicht vorsorgend auf das Urteil reagiert. Daher steht das Land unter verschärfter Beobachtung. Lässt sich nämlich nachweisen, dass mit weniger Stimmen für eine Partei mehr Mandate zu erringen wären, dann gibt es kein Halten mehr: Organklagen werden dann wie Blitz und Donner über das Land fegen und es wird Wahleinsprüche vom Himmel hageln.

Wie ursprünglich im Bund gibt es auch in Baden-Württemberg ein zweistufiges Verfahren für die Verteilung der Sitze auf die Parteien. In beiden Fällen wird zuerst das Stimmenverhältnis insgesamt ermittelt und dann auf die Bundesländer bzw. auf die vier Regierungsbezirke Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen „heruntergebrochen“. Um die negative Stimmenmacht bei der Verteilung der Restmandate zu vermeiden, wollen die Berliner Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP diese zweistufige Sitzverteilung bei der Bundestagswahl abschaffen und durch eine einstufiges Verfahren ersetzen.

Statt bei Zeiten in eine einstufige Verteilung zu wechseln, hält Baden-Württemberg bei der Landtagswahl nach wie vor an der zweistufigen Sitzverteilung fest. Deshalb stehen die Vorzeichen schlecht, dass nicht doch „ein Haar in der Suppe“ gefunden wird. Kurzum muss man befürchten, dass die Landtagswahl vom 27. 03.2011 wegen der negativen Stimmenmacht zu Fall kommt. Die außerparlamentarische Opposition, die schon das Projekt „Stuttgart 21“ bis aufs Blut bekämpft hat, steht im Fall der Fälle „allzeit bereit“.

… und jetzt die Ausgleichsmandate?

Entsteht ein Mandatsüberhang hätte das zur Folge, dass nicht mehr der Parteienproporz, sondern die Zahl der direkt errungenen Erst- und Zweitmandate für die Sitzverteilung ausschlaggebend wäre, und zwar nur bei der vom Überhang betroffenen Partei, und auch nur innerhalb des betroffenen Regierungsbezirks. Um zu vermeiden, dass die einen weiter über die Verhältniswahl, die anderen aber überraschend durch die Direktwahl in den Landtag gelangen, hat – anders als im Bund – der Landesgesetzgeber in Baden-Württemberg die Ausgleichsmandate geschaffen.

Warum es überhaupt zu Mandatsüberhängen kommt bleibt rätselhaft. Für das Erst- wie das Zweitmandat ist gewählt, wer die meisten Stimmen errungen hat. Es genügt also die relative Mehrheit.

Wie auch immer lässt sich ein Überhang von Erst- und Zweitmandaten grundsätzlich keinem bestimmten Abgeordneten zuordnen. Es bleibt also kein anderer Ausweg: Man muss den Überhang entweder dulden und den damit verbundenen Wechsel zur Direktwahl in Kauf nehmen, den er der davon betroffenen Partei überraschend beschert. Oder man muss die Gleichheit der Wahl durch einen Mandatsausgleich wieder herstellen. Anders als im Bund, hat sich Baden-Württemberg für das Letztere entschieden … – und sich damit zugleich über das Grundprinzip der Demokratie: „Mehrheit entscheidet“ hinweggesetzt!

Doch Ausgleichsmandate haben einen noch größeren „Pferdefuss“. Sie werden nicht vom Wähler selbst vergeben. Denn für Ausgleichsmandate gibt es gar keine Stimmzettel. Ein Mandatsüberhang lässt sich nicht diesem oder jenem Abgeordneten zuweisen. Der Wähler weiß also bei der Abgabe seiner Stimme weder wo, noch wie viele Ausgleichsmandate anfallen. Wie will er da entscheiden, wem sie zukommen sollen? Wer ein Ausgleichsmandat erhält, wird erst nachträglich vom Wahlleiter festgestellt, natürlich „so wie das Gesetz es befiehlt“. Daher bestimmt er immer den Nächstbesten.

Doch die Abgeordneten werden auch nicht durch Gesetz bestimmt. „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.“ Diese zwingende Vorgabe des Art. 38 GG hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (BVerfGE Bd. 97, S. 317 ff (323)) ausdrücklich so bestätigt. Ausgleichsmandate gehen nicht unmittelbar auf den Willen des Wählers zurück und sind deshalb verfassungswidrig.

Die Direktwahl verdient den Vorzug

Man gerät in Teufels Küche, wenn man das demokratische Urprinzip: „one man one vote“ verlässt und an seine Stelle die bunt schillernde Idee: „one man two votes“ setzt. Ob die Wähler, wie im Bund, zwei Stimmzettel – noch dazu aus zwei sehr verschiedenen Wahlsystemen – ankreuzen oder, wie in Baden-Württemberg, nur einen Stimmzettel kennzeichnen, der aber zweimal ausgezählt wird, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Die klassische Direktwahl, bei der nur mit einer Stimme der jeweilige Kandidat und „uno actu“ natürlich auch dessen Partei bestimmt wird, kennt weder die verzwickten Probleme der negativen Stimmenmacht noch die Schwierigkeiten der Überhang- bzw. Ausgleichsmandate. Auch gibt es weder Bruchteile von Mandaten noch irgendwelche Reststimmen, die mehr recht als schlecht zu Mandaten zusammengestückelt werden. Mandate erster und zweiter Klasse findet man ebenfalls nicht. Und käme in Großbritannien – dem Hort der Demokratie – ein Wahlleiter auch nur auf die Idee, nach dem Urnengang einer schwächeren Partei auch nur ein einziges Ausgleichsmandat zuzuschanzen … – dann wäre die Hölle los!!!

 
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