15.03.2011

Hartz IV: Klagewelle rollt

Der Rechtsstaat in der Falle?

Hartz IV: Klagewelle rollt

Der Rechtsstaat in der Falle?

Klagewellen charakterisieren auch einen funktionierenden Rechtsstaat. | © mowitsch - Fotolia
Klagewellen charakterisieren auch einen funktionierenden Rechtsstaat. | © mowitsch - Fotolia

6,7 Mio. Menschen erhalten Grundsicherung für Arbeitsuchende – sprich: Hartz IV. Das kann nicht ohne Konflikte ablaufen: 2010 gingen in Berlin 32.000 neue Anträge bzw. Klagen beim Sozialgericht ein. In Hessen hat man 2010 mehr als 10.000 Verfahren aus den Bereichen Grundsicherung und Sozialhilfe gezählt. Die Zahl der Kläger ist natürlich viel niedriger: Wer einstweiligen Rechtsschutz begehrt, muss fast gleichzeitig auch gegen den Widerspruchsbescheid klagen, 6 Monate später das Ganze noch einmal usw. Pro Jahr ergehen ca. 25 Mio. Bescheide. Vor Gericht aufgehoben oder verändert wurden davon im Jahr 2009 ca. 0,2 % – so die Sichtweise der Bundesagentur für Arbeit.

Unzufriedenheit auf allen Seiten

Wer auch nur mit einem dieser Verfahren befasst ist, weiß wie kompliziert es ist, die Voraussetzungen für „angemessene“ Unterkunftskosten oder eine „nicht eheliche Lebensgemeinschaft“ festzustellen. Dazu muss man prüfen, ob das Paar „so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen“. Dass die Gerichte Mehrarbeit beklagen, dass sich die Betroffenen über die Verfahrensdauer beschweren und die Zivilgesellschaft stirnrunzelnd fragt, ob der Aufwand lohnt, all das kann niemanden verwundern.

Ein weiteres Beispiel: Der ehemals Selbständige ist noch privat krankenversichert. Obwohl die Krankenversicherung auf Basistarif umgestellt wurde, zahlt die ARGE nur einen Teil der angefallenen Beiträge. Der Hartz-IV-Empfänger sieht sich bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts in einer Zwickmühle: Zahlt er die Differenz aus dem Regelsatz (von zuletzt 359 EUR pro Monat) oder häuft er Schulden auf, die er im Rentenalter kaum zurückzahlen kann. Zwar schützt das Gesetz auch den „Hartz-IV-ler“ vor Überforderung, z. B. durch § 193 Abs. 6 VVG, wonach die Versicherung Leistungen nicht einschränken darf, nicht aber vor Beitragsschulden. Das Problem ist seit Jahren bekannt. Wer nicht geklagt hat, bleibt auf den in der Vergangenheit aufgelaufenen Beitragsschulden „sitzen“, trotz Bundessozialgericht vom 18. 01. 2011! (BSG, Urt. v. 18. 01. 2011 – AZ B 4 AS 108/10 R) Dieses hat nun – 5 Jahre nach Einführung der Grundsicherung – im Sinne der Betroffenen entschieden und das Jobcenter zur Zahlung des vollen Beitrags verpflichtet.


Kläger ist nicht immer Wutbürger oder Sozialbetrüger

Die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin hat Recht: Auf den „Wutbürger“, der sein Schicksal selbst in die Hand nehmen will, das Jobcenter als Vormund verachtet und alles rausholt, was nur zu holen ist – bis zum Sozialbetrug lässt sich die Klagewelle nicht reduzieren! Es gibt unter den Hartz-IV-Empfängern Personen mit Problemen, vielleicht auch Anpassungsstörungen, aber der Prozentsatz ist sicherlich nicht höher als in anderen Gesellschaftsschichten. Im Hartz-IV-Bezug landen Menschen, die häufig schon zuvor Rückschläge erlitten haben – Konflikte in Familie und Beziehungen, Krankheit, Jobverlust, schief gelaufene Lebensplanung etc. Hier könnten die gewohnte Umgebung (Wohnkosten „angemessen“?), das Auto, der Mini-Job und der berufliche Stolz besondere Bedeutung erlangen – quasi als letzter Halt. Wer vor diesem Hintergrund klagt, hat nichts zu verlieren. Die Statistik beweist im Gegenteil, dass die Erfolgsquote hoch ist – sogar überdurchschnittlich hoch im Verhältnis zu all den anderen Sozialbereichen. Beweis für überkomplizierte Gesetze und überforderte Jobcenter.

Verbesserungsvorschläge

Eine Gruppe von kompetenten Praktikern hat im Oktober 2010 eine Art Werkstattbericht mit Vorschlägen vorgelegt, wie man die Verfahrensabläufe sowie die Kommunikation zwischen Jobcenter/ARGE und Hartz-IV-Empfängern verbessern kann. Die Sozialgerichtsbarkeit soll nicht mehr als „Ersatzbehörde“ herhalten müssen.

Ein Beispiel: Das Sozialgericht erlässt eine einstweilige Anordnung, mit der die bisherigen Unterkunftskosten für sechs Monate weiter gezahlt werden müssen. Die ARGE zahlt, erlässt aber zugleich einen Widerspruchsbescheid, wonach dem Betroffenen doch nur die geringeren Unterkunftskosten bezahlt werden. Dagegen muss er Klage erheben, da er andernfalls das in der einstweiligen Anordnung erstrittene Geld zurückzuzahlen hat. Sinn machen solche Doppelverfahren kaum. Mit der einstweiligen Anordnung sollte es sein Bewenden haben.

Wesentlich leichter haben es die „Radikalreformer“: Sogar in der Koalitionsvereinbarung findet sich ein Abschnitt zum Thema Bürgergeld – mit Prüfauftrag. Andere plädieren für einen Abschied von dem Fürsorgegedanken und fordern anstelle des Systems von Hartz-IV öffentliche Arbeit für jedermann. Das Bürgergeld ist Gegenstand einer Reformkampagne des Drogeriemarktbesitzers Müller. Viele kluge Köpfe haben sich dazu geäußert, oftmals skeptisch: Zu teuer, mit gesellschaftspolitischen Risiken verbunden, die niemand auch nur annähernd beherrschen kann. Öffentliche Arbeit für alle bedeutet Aufwertung der 1-Euro-Jobs. Diese werden nun aber von Gewerkschaftsseite und manch anderen sehr kritisch gesehen: Schlussendlich provoziere solcherart öffentlich geförderte Arbeit eine Aushöhlung des Normalarbeitsverhältnisses und damit weitere Arbeitslosigkeit.

Was tun? Die Jobcenter sind mit Personen ausgestattet, die bislang nur befristete Arbeitsverträge haben und gleichzeitig unter erheblichem Druck stehen: Wenig Entscheidungsspielräume und möglichst schnelle Vermittlung. Das führt zu Fehlentscheidungen und zu Unmut bei dem Gesprächspartner, der als arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger nicht nur mehr Zeit hat, sondern auch ein berechtigtes Interesse an seiner Zukunft – und Angst vor seiner Zukunft.

Wer – nachdem er das viele Seiten umfassende Antragsformular ausgefüllt hat – mit dem „Bewilligungsbescheid“ konfrontiert wurde, weiß, dass er nichts weiß. Wenn überhaupt, enthalten die Bewilligungsbescheide – edv-gefertigt und schreibgeschützt! – als Begründung für Abzüge allenfalls einen Satz, oft auch nur Verrechnungen, die zu entschlüsseln den Normalbürger durchaus überfordern kann. Man kann das im Gespräch mit dem „Fallmanager“ klären. Dazu kommt es oftmals nicht. Oft hat sich so viel aufgestaut, dass das Gespräch mit Geschrei und Beleidigungen endet.

Mit der Agenda 2010 hat die Politik die Diskussion um das Existenzminimum in die Öffentlichkeit gebracht. Die Zeiten, in denen Sozialhilfeempfänger als Randgruppe abgetan werden konnten und deren Regelsätze allenfalls in kleinen Fachzirkeln diskutiert wurden, sind längst vorbei. Aktuell „verhandeln“ Politiker verschiedener Parteien über die exakte Berechnung des Regelsatzes – so wie es das BVerfG gemäß Urteil vom 09. 02. 2010 von ihnen verlangt. Die Diskussionen im Vermittlungsausschuss (und daneben) scheinen vielen nicht geeignet, die dem Gesetz innewohnende „Richtigkeitsgewähr“ herzustellen. Die Sozialgerichtsbarkeit wird wiederum als „Legitimationsreserve“ für den Gesetzgeber herhalten müssen.

Klagewelle hat auch Positives

Was ist eigentlich so schlimm an der „Klageflut“? Wir kennen solche Flutwellen schon seit längerem: In den 70er Jahren (bis heute) waren es die Abiturienten, die sich in die Universität einklagten und so dem „Numerus clausus“ die Stirn boten. Hat dadurch wirklich die Ausbildung Schaden genommen, oder sind die erfolgreichen Kläger schlechtere Ärzte, Psychologen, Biologen usw. als die anderen? Später stöhnten die Gerichte unter einer Unzahl von Klagen auf Anerkennung als Asylbewerber. Hier hat der Gesetzgeber eingegriffen – mit Maßnahmen, deren Strenge auf heftige Kritik stieß. Und heute sind es „Berufskläger“, die vor den Zivilgerichten Hauptversammlungsbeschlüsse regelhaft anfechten oder Bürger, die über Verluste nach risikoreichen Geldgeschäften klagen.

„Klagewellen“ sind Teil eines funktionierenden Rechtsstaats, der durch unabhängige Richter jedem Einzelnen eine sorgfältige Rechtsprüfung garantiert. Darauf müssen Menschen, die auf die Sicherung ihres Existenzminimums durch die Gesellschaft angewiesen sind, bauen können. Also klagen wir nicht, sondern kümmern uns um: mehr Arbeit oder Arbeit für alle, ein besseres Verwaltungsverfahren, das sich auf die Gegebenheiten des Einzelfalls zeitnah und effektiv einstellt und die Sicherung des Existenzminimums von Menschen, die wirklich darauf angewiesen sind.

Die Klageflut wird abebben, so wie die anderen Fluten auch. Spätestens, wenn mit Hilfe der Gerichte der Umgang mit dem Hartz-IV-ler entspannter wird und die wichtigsten „Gummiparagrafen“ eine Struktur bekommen haben.

 

Prof. Dr. Hermann Plagemann

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht, Frankfurt am Main
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