15.03.2011

Es gibt nur ein Existenzminimum

Sozialleistungen nach dem AsylbLG noch verfassungsgemäß?

Es gibt nur ein Existenzminimum

Sozialleistungen nach dem AsylbLG noch verfassungsgemäß?

Ist es verfassungsgemäß, die Menschenwürde mit zweierlei Maß zu messen? | © Dmitry Nikolaev - Fotolia
Ist es verfassungsgemäß, die Menschenwürde mit zweierlei Maß zu messen? | © Dmitry Nikolaev - Fotolia

Mitte des letzten Jahrhunderts hat der englische Schriftsteller George Orwell in literarischer Form zwei Urbilder menschlichen Zusammenlebens gezeichnet: In dem Zukunftsroman „1984“ die Freiheit und in der Tierparabel „Animal farm“ die Gleichheit. In der „Farm der Tiere“ übernehmen die Tiere die Macht und handeln zunächst streng nach ihren sieben hehren Geboten, von denen eines lautet „Alle Tiere sind gleich“. Im Laufe der Zeit nehmen sich die Schweine immer mehr Privilegien heraus und am Ende bekommt selbst das allein übrig gebliebene Gleichheitsgebot einen verräterischen Zusatz: „Manche Tiere sind gleicher“.

Asylbewerber, Flüchtlinge und andere Migranten mit unsicherem Aufenthaltsstatus haben noch nie zu einer solchen bevorzugten Gruppe gezählt. Schon seit jeher werden sie in schlechteren Unterkünften untergebracht und erhalten geringere staatliche Leistungen für lebensnotwendige Ernährung und Kleidung als bedürftige Deutsche.

Es ist eine gesellschaftliche und rechtliche Diskussion entbrannt, ob diese Praxis unserem Grundgesetz, respektive dem Menschenwürdegebot des Art. 1 GG und dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs.1 GG entspricht.


Aktuell wird im Bundestag darüber debattiert und schon bald wird das Bundesverfassungsgericht über eine Reihe von Vorlagebeschlüssen (Art. 100 GG) der Landessozialgerichte (LSG) zu entscheiden haben. Statten wir der „Farm der Menschen“ daher einen intensiveren Besuch ab.

Der Gesetzgeber legt los

Generell sind auch Ausländer mit tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland mit Abstrichen sozialhilfeberechtigt, § 23 SGB XII. Angesichts steigender Asylbewerberzahlen wurde 1993, forciert durch ein tendenziell rassistisches gesellschaftliches Gesamtklima, das Asylrecht für politisch Verfolgte verschärft und in Art. 16 a GG neu geregelt. Zugleich wurden die Vorschriften für Asylbewerber und für bestimmte Gruppen gleichgestellter Ausländer aus der Sozialhilfe herausgenommen.

Für sie wurde mit dem ab November 1993 gültigen Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) vom 30.06.1993 ein eigenes Leistungsgesetz geschaffen (BGBl. I 1993 S. 1074 ff.). Wesentliche Neuerung war die gewollte gesetzliche Beschränkung auf das für das Existenzminimum unerlässliche Maß an Daseinssicherung, regelmäßig nur in Form von sogenannten Sachleistungen (vgl. BT-Drs. 12/4451 S.6 f.). Begründet wurde dies mit dem vorübergehenden Charakter des Aufenthaltes. Unverhohlenes gesetzgeberisches Ziel war es, den Aufenthalt nicht zu attraktiv zu gestalten, um keine Einreiseanreize zu bieten.

Leistungsbeschränkung auf das „Unabweisbar Gebotene“

1998 wurde eine Neuregelung eingefügt, wonach für Personen, die allein zum Zweck des Bezugs von Sozialleistungen nach Deutschland gekommen waren, die Leistungen nach dem AsylbLG nochmals nachhaltig bis auf das „unabweisbar Gebotene“ eingeschränkt werden können. Das Bundessozialgericht (BSG) legt diese fragwürdige Klausel zu Recht restriktiv aus und verlangt neben dem objektiven Tatbestand ein vorsätzliches auf die Aufenthaltsverlängerung zielendes sozialwidriges Verhalten (etwa BSG, Urt. v. 17.06.2008 Az. B8 AY 13/7 R).

Leistungsberechtigt nach dem AsylbLG sind neben Asylbewerbern auch sog. Geduldete, bei denen Abschiebehindernisse bestehen, oder Ausländer, die aus humanitären oder persönlichen Gründen eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis besitzen und jeweils deren Ehegatten, Lebenspartner oder Kinder. Die Grundleistungen nach §3 AsylbLG an Ernährung, Kleidung, Unterkunft usw. sollen grundsätzlich als sogenannte Sachleistungen gewährt werden.

Die zuständigen Kommunen halten sich oft strikt an diese Vorgabe, stellen Vollverpflegung oder Lebensmittelpakete sowie gebrauchte Kleidung zur Verfügung und weisen die betroffenen Personen in Gemeinschaftsunterkünfte und Heime ein. Eher wenige (Land-)Kreise oder Städte zahlen, obgleich dies verwaltungseffizienter wäre, neben dem Taschengeld für persönliche Bedürfnisse (Verkehrsmittel, Telefon, Schulbedarf usw.) von monatlich ca. 40,90 € für Erwachsene und 20,45 € für Kinder bis 13 Jahren, den weiteren Grundbedarf nach §3 Abs.2 AsylbLG von ca. 184 € für Erwachsene und 112 € (bzw. 158 € für Kinder ab 7 Jahre) in Geld aus. Diese seit 1993 nicht erhöhten Regelsätze liegen bei Erwachsenen rund 37 % und bei Kindern bis zu 47 % unter den bis Ende 2010 geltenden Hartz-IV-Regelsätzen – Stand 31.12.2010 – (rechnet man den Hausrat gesondert heraus).

Besondere Bedürfnislagen

Neben diesem Grundbedarf sind Leistungen im Fall der Krankheit, Schwangerschaft und Geburt gemäß §4 AsylbLG vorgesehen. Es handelt sich dabei um eine begrenzte Garantie medizinischer Grundbehandlung nur für erforderliche Leistungen einschließlich Medikamente bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen. Aus humanitären Gründen sollte diese Bestimmung von den Kommunen großzügig ausgelegt werden. §4 müsste zudem an sich im Hinblick auf europäische Richtlinien erweitert werden, wonach die erforderliche medizinische Behandlung sicherzustellen ist. Grundsätzlich haben Menschen nach dem AsylbLG schließlich keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine frei angemietete Wohnung, soweit der Sozialhilfeträger anbietet, sie in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen. §6 AsylbLG als Härtefallklausel für andere, atypische Bedarfe wird von der Rechtsprechung eng ausgelegt und kann die beschriebenen Leistungslücken nicht füllen.

Erhalt von Analogleistungen als „Aufstieg“

Erst nach vier Jahren des Bezugs von Grundleistungen nach §3 AsylbLG steigen die Betroffenen sprichwörtlich auf der Hühnerleiter auf und erhalten sog. Analogleistungen nach dem SGB XII. Sie werden dann nach §23 SGB XII wie sozialhilfeberechtigte Ausländer behandelt (EU-Bürger sind dagegen im Rahmen der Freizügigkeit sozialhilferechtlich Deutschen gleichgestellt). Nach der Regelung des §2 AsylbLG reichten bis in das Jahr 2007 noch 36 Monate laufender Leistungsbezug (1997 eingeführt), um in den Genuss dieses Privilegs zu kommen. Seitdem wird eine sogenannte Vorbezugszeit von 48 Monaten gefordert, wobei das BSG entgegen den meisten Obergerichten unverständlicherweise die schärfere Regelung gegen den Gesetzeszweck selbst auf die Personen anwendet, die schon viele Jahre Analogleistungen nach dem SGB XII erhalten haben (BSG, Urteil v. 17.06.2008 Az. B 8/9b AY 1/07 R).

Ende 2009 erhielten in Deutschland 121 235 Personen Regelleistungen und etwa 38 000 Menschen zusätzlich besondere Leistungen (bei Krankheit, Schwangerschaft usw.) nach dem AsylbLG. Dafür wurden insgesamt 790 Millionen Euro aufgewendet.

Das Bundesverfassungsgericht legt die Messlatte hoch

Der schon viele Jahre von Flüchtlingsräten und anderen humanitären Organisationen erhobenen Forderung, das AsylbLG zu ändern oder ganz abzuschaffen, hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Hartz-IV-Regelleistungen vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) nun entscheidenden Antrieb gegeben. Das Verfassungsgericht hat darin ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert, das auf der Menschenwürdegarantie des Art.1 Abs.1 GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG beruht.

Das durch den Staat unverrückbar zu gewährleistende Existenzminimum umfasst dabei nicht nur die physische Existenz (Nahrung, Hausrat, Gesundheit usw.), sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Gesetzgeber hat die notwendige Mittelvergabe an den sich wandelnden Erkenntnissen des Gemeinwesens und den konkreten Lebensbedingungen zu orientieren. Sein Beurteilungsspielraum ist enger, soweit es um die physische Existenz geht, und weiter, wenn die soziale Teilhabe betroffen ist. Wie er dies bestimmt, vor allem wie er die Bedarfe festlegt, muss in einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren geschehen.

Dieses Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt für alle Menschen, also auch für die, welche Leistungen nach dem AsylbLG erhalten. Die Bundesregierung hat sehr bald nach diesem „Mount-Everest-Urteil“ der deutschen Sozialpolitik zugesichert, die Leistungen nach dem AsylbLG auf den Prüfstand zu stellen, sobald die Hausaufgaben erledigt seien, die das BVerfG aufgegeben hat (BT-Drs. 17/745). Dieses hatte die gültigen Hartz-IV-Regelsätze bekanntlich zwar nicht als evident verfassungswidrig gebrandmarkt, jedoch dem Gesetzgeber unmissverständlich ins Stammbuch geschrieben, dass die Regelsätze verfassungswidrig ermittelt, im Hinblick auf die Kinder sogar rein willkürlich „ins Blaue hinein“ geschätzt worden sind. Die daraufhin von der Regierungskoalition vorgelegten gesetzlichen Änderungen sind nach der Verabschiedung im Bundestag und einigem politischem Gerangel nun Ende Februar auch im Bundesrat abgesegnet worden.

Schon einmal hat sich das BVerfG am Rande mit dem AsylbLG befasst. Es sei grundsätzlich zulässig, für Asylbewerber mit dem AsylbLG ein eigenes Konzept zur Sicherung des Lebensbedarfes zu entwickeln und dabei auch Regelungen über die Gewährung von Leistungen abweichend vom Sozialhilferecht zu treffen; insbesondere sei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland abhängig zu machen (BVerfG, Urteil vom 11. 07. 2006 Az. 1 BvR 293/05 zur unzulässigen Anrechnung von Schmerzensgeld auf Asylbewerberleistungen).

Das Landessozialgericht NRW legt vor

Das LSG NRW hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit von §3 AsylbLG dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt (Beschluss v. 26.07.2010 Az. L 20 AY 13/09). Das LSG hält die Leistungen nach dem AsylbLG sogar für evident verfassungswidrig. Sie reichten offenbar nicht aus, um das menschenwürdige Existenzminimum sicherzustellen, da sie (nach Berücksichtigung des Hausrates) um ca. 31 % unter den zum streitigen Leistungszeitraum gültigen Hartz-IV-Regelsätzen (351 €) lägen.

Die Grundleistungen nach dem AsylbLG seien „ins Blaue hinein“ geschätzt worden. Ein transparentes und sachgerechtes Verfahren, den Bedarf zu ermitteln, wie das BVerfG dies verlange, sei nicht erkennbar. Zudem seien Preissteigerungen (seit 1993 ca. 30 %) nie berücksichtigt worden. Sollte sich das Verfassungsgericht der Ansicht der Essener Richter anschließen, müsste der Gesetzgeber die Höhe der Sätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz neu regeln.

Aus dem Hartz-IV-Urteil des BVerG dürfte noch weitergehend der Schluss gerechtfertigt sein, dass migrationspolitische Erwägungen, wie den Zustrom von Asylsuchenden einzudämmen, bei der Festlegung von Sozialleistungen für diesen Personenkreis nichts zu suchen haben. Das Gericht orientiert die Höhe der Leistungen allein an der jeweiligen konkreten Lebenssituation. Ferner ist nicht generell nachweisbar, dass die Flüchtlinge ins Land kommen, weil hier der Sozialhilfesatz angeblich so hoch ist.

Dies ist folgerichtig, gebietet das Menschenwürdegebot doch, einen Menschen nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns aufzufassen. Diesen Beigeschmack hat jedoch eine migrationspolitisch motivierte Prägung von an sich lebensnotwendigen Leistungen in Form einer „Menschenwürde light“ im AsylbLG.

Die Grundrechte legen fest

Betrachtet man vorurteilslos die tatsächlichen Lebensbedingungen der betroffenen Menschen, lässt sich eine Bedarfsminderung auch im sozialen Teilhabebereich kaum rechtfertigen. Sie müssen mobil sein, um den Kontakt mit Behörden, Sozialarbeitern, Schulen usw. zu halten. Sie brauchen Mittel, um aus der Isolation tretend soziale Beziehungen erst einmal aufzubauen. Dazu gehört der Besuch von Sprachkursen oder kultureller (auch religiöser) Veranstaltungen. Ihre schulpflichtigen Kinder benötigen Geld für Schulbücher, Lernmaterial oder Klassenfahrten. Fehlende Mittel, sich sozial zu integrieren, leisten nur einer Stigmatisierung eher fördernden Gettoisierung Vorschub.

Schließlich dürfte auch der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG durch die geringen Leistungen nach dem AsylbLG verletzt sein. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung könnte allenfalls der nur vorübergehende Aufenthalt im Bundesgebiet sein, der andere Bedarfe begründet. Doch so vorübergehend sind die Aufenthalte nicht. Die Anerkennungsquote für Asylbewerber lag 2008 bei 37,7 % und 2009 bei 33,8 %. Die Mehrzahl der Leistungsberechtigten (58,6 %) lebt seit mehr als sechs Jahren in Deutschland.

Es dürfte allenfalls in den ersten Monaten gerechtfertigt sein, die Bedarfe geringer festzusetzen. Zu Beginn sind die Flüchtlinge oft in sogenannten Sammellagern untergebracht, sie werden noch an die Kommunen nach bestimmten Schlüsseln erst zugewiesen. Sobald sich aber der Aufenthalt einigermaßen verfestigt hat, erscheint eine schlechtere Behandlung hinsichtlich der Grundleistungen willkürlich. Im Hinblick auf die Wahrung der Menschenwürde und das Gleichheitsgebot sind die Kommunen auch gehalten, wenigstens für eine menschenwürdige Unterbringung ohne schimmelige Wände oder verdreckte Sanitäranlagen und mit ausreichendem Wohnraum zu sorgen. Die Umsetzung eines Rechtsanspruches auf eine übliche Wohnung ist wegen der oft prekären lokalen Wohnungsmarktsituation vor Ort allerdings problematisch, so dass der öffentliche Wohnungsbau vor Ort gefragt ist.

Uneingeschränkter Grundrechtsschutz

Die Grundrechte müssen uneingeschränkt für alle hier lebenden Menschen gelten. Nach Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen. Ein selektierendes Sonderrecht, respektive ein eigenes Leistungsregime passt nicht in die Landschaft eines sozialen Rechtsstaates. Seien wir schlauer als die Schweine in der „Farm der Tiere“. Die globalisierte Welt ist unteilbar – und die Menschenwürde auch.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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