18.03.2024

Strukturbrüche im Wahlrecht?

Zur Wahlrechtsreform der so genannten Ampel-Koalition

Strukturbrüche im Wahlrecht?

Zur Wahlrechtsreform der so genannten Ampel-Koalition

Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Der Bundesgesetzgeber hat mit der Wahlrechtsreform aus dem Frühjahr 2023 den Versuch unternommen, die – durch Überhangs- und Ausgleichsmandate bedingte – Größe des Bundestages zu begrenzen; indes ist der dafür beschrittene Weg, der bei dieser Gelegenheit auch noch die föderale bzw. regionale Komponente des Wahlrechts schwächt – ein erheblicher Systembruch mit der herkömmlichen und dem Grunde nach bewährten Konzeption des bundesdeutschen Wahlrechts. Der vom Gesetzgeber gewählte Weg mag zwar dem Ziel einer stabilen Begrenzung der Anzahl der Abgeordneten Rechnung tragen; der dafür gewählte Weg ist ein weiterer Beitrag zur Geschichte des Scheiterns der Reformen des Wahlrechts.

A. Zur Vorgeschichte der Änderung des Wahlrechts

Das Wahlrecht – als materielles Staatsrecht – ist die entscheidende normative Basis, damit das wahlberechtigte Volk seinen Willen über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages verbindlich kundtun kann; mit Wahlen wird zugleich auch eine Entscheidung über Chancen und Maß des vorhandenen und des zumindest in der Wahlentscheidung auch manifestierten künftigen politischen Gestaltungwillens getroffen. Dass Wahlen – schon als Prozess der Massendemokratie – geregelt und damit einer rechtlichen Prägung bedürfen, ist nicht nur eine Notwendigkeit des demokratischen Verfassungsstaates; es handelt sich vielmehr um die zentrale Voraussetzung für die Möglichkeit der Umsetzung politischen Willens in staatliche Machtpositionen auf der Grundlage einer entsprechenden demokratischen Legitimation durch eine Entscheidung des dazu berufenen Souveräns. Insoweit erweist sich das in Art. 20 Abs. 2 und in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Prinzip der Repräsentation als Organisationsmodell, das dem Volk die maßgebliche Bestimmungsmacht über die staatliche Gewalt verschafft.

Während das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 als Grundlage der Bundestagswahlen in seinen wesentlichen Grundzügen – unbeschadet aller Änderungen im Detail – mit einer Fünfprozentklausel und einer Grundmandatsklausel mit drei Direktmandaten (§ 3 Abs. 3 Satz 1 BWahlG) bis heute gültig ist und der Gesetzgeber damit der Grundvorstellung einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) folgt, ist als Konsequenz eines sich wandelnden Wählerverhaltens und einer zunehmenden Zersplitterung der Parteienlandschaft wegen der Architektur des geltenden Wahlrechts die Anzahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages in den letzten Jahren seit der Bundestagswahl 2013 deutlich gestiegen und von seiner gesetzlichen Soll-Zahl von 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) deutlich abgewichen. Bestand der Bundestag nach der Bundestagswahl 2013 noch aus 631 Abgeordneten, so ergab bereits die Bundestagswahl 2017 eine Anzahl von 709 Abgeordneten. Die Bundestagswahl 2021 führte schließlich zu einer Größe von 736 Abgeordneten und damit zu einer Ist-Zahl der Mitglieder des Bundestages, die damit um 20 Prozent größer ist als die Sollzahl.


Nachdem indes die Anzahl der Bundestagsmandate – gerade auch durch die verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleichsmandate – stetig gestiegen ist und eine weitere Vergrößerung zu befürchten stand, sah sich der Bundesgesetzgeber zu weiteren Korrekturen am Wahlrecht gezwungen. Auf der Grundlage eines Zwischenberichts der in § 55 BWahlG vorgesehenen Reformkommission haben die Regierungsfraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und FDP dann einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vorgelegt. Um eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages zu erreichen, bleibt zwar das bisherige System von Erst- und Zweitstimme erhalten; die in Zukunft als „Hauptstimme“ bezeichnete Stimme, mit der sich die Wählerinnen und Wähler für eine Parteiliste entscheiden können, wird zur maßgeblichen Bestimmungsgröße des Wahlergebnisses. Die durch sie bestimmte Zahl der an einer Partei gehenden Sitze wird nicht mehr durch Überhangs- und Ausgleichsmandate erhöht; die Zuweisung eines Sitzes an einen Bewerber mit der relativen Mehrheit in einem Wahlkreis steht aber unter der Bedingung, dass diese Sitzzuteilung auch durch den Anteil der Zweitstimmen gedeckt ist. Dabei sieht das Gesetz eine Reihung der Bewerber einer Partei, die in ihrem Wahlkreis eine Mehrheit erhalten haben, nach ihrem Wahlkreisstimmenanteil vor. Dieser Reihe werden dann höchsten so viele Mandate zugeordnet, wie der Partei nach ihrem Zweitstimmenanteil im Land zustehen. Erreicht also ein Wahlkreiskandidat eine relative Mehrheit in seinem Wahlkreis, aber in der Reihung der Wahlkreisgewinner nur einen Platz, der von der Zahl der Sitze, die der Landesliste zustehen, nicht gedeckt ist (sog. fehlende Zweitstimmendeckung), so wird das Wahlkreismandat nicht vergeben. Dementsprechend setzt die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis in Zukunft neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch die Hauptstimmen voraus.

Der Gesetzentwurf vom 24. Januar 2023 wurde nach einer Anhörung im Innenausschuss am 6. Februar 2023 in der 92. Sitzung des 20. Deutschen Bundestages am 17. März 2023 in zweiter und dritter Lesung beraten und in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat vom15. März 2023 nach kontroverser Debatte mit 399 Ja-Stimmen gegen 261 Nein-Stimmen und bei 23 Enthaltungen angenommen. Im Rahmen der Ausschussbefassung hat der Gesetzentwurf noch einige Änderungen erfahren. So ist zum einen die gesetzliche Anzahl der Mitglieder des Bundestages von 598 Mitgliedern auf 630 Mitglieder erhöht worden. Nachdem sowohl die Fünfprozentklausel als auch die Grundmandatsklausel noch im Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen als dortiger § 4 Abs. 2 enthalten waren, ist die Grundmandatsklausel im Zuge der Ausschussbefassung ersatzlos gestrichen worden, da die Fortgeltung der Grundmandatsklausel im System der Zweitstimmendeckung einen stärkeren Systembruch darstelle, als dies bisher der Fall war. Denn die Wahl in den Wahlkreisen diene der vorrangigen Besetzung der von den Parteien nach ihrem Zweitstimmenergebnis errungenen Sitze und nicht wie bisher der Personenwahl. Eine Ausnahme für Parteien, die im Wahlgebiet weniger als fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen, aber in drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten haben, mit der Folge, dass diese nach dem Verhältnis ihrer Zweitstimmen einzieht, sei im System der Zweitstimmendeckung verfassungsrechtlich nur schwer zu rechtfertigen. Daher solle die Grundmandatsklausel ersatzlos entfallen.

B. Die Verfassungsmäßigkeit der Novellierung des Bundeswahlgesetzes

Die nachstehenden Einwände gegen die Novellierung des Bundeswahlgesetzes setzen zunächst eine Darstellung der Systementscheidungen des Gesetzgebers voraus (dazu unter I.); in einem weiteren Schritt werden das sogenannte „Kappungsmodell“ (dazu unter II.) und die Streichung der Grundmandatsklausel (dazu unter III.) beurteilt, bevor abschließend auf das Problem der Gleichheit in der Zeit (dazu unter IV.) und die Problematik der Bestimmtheit (dazu unter V.) eingegangen wird.

I. Die Systementscheidungen des Bundeswahlgesetzgebers

Das (wahlberechtigte) Volk kann auf der Ebene des Bundes seinen Willen in rechtsverbindlicher Weise nur durch die Wahl des Bundestages zum Ausdruck bringen. Die Wahl des Plenums des Deutschen Bundestages verknüpft dann den Willen des Volkes mit demjenigen des Staates; sie ist Voraussetzung für die Rückführbarkeit auf den Inhaber aller staatlichen Gewalt und damit conditio sine qua non demokratischer Staatlichkeit. Der Gedanke der Repräsentation erweist sich damit als das vom Grundgesetz gewählte Organisationsmodell, das dem Volk die maßgebliche Bestimmungsgewalt über die staatliche Gewalt verschaffen soll.

Neben diesen zentralen Gedanken der demokratischen Legitimation von Herrschaftsausübung tritt aber auch der Integrationsgedanke von Wahlen, der sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachzeichnen lässt. Im Zusammenhang mit der Funktion und der Zulässigkeit von Sperrklauseln führt das Gericht dann aus, dass der Gesetzgeber auch die „… Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen (müsse) und verhindern (müsse), dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben“. Insoweit erweisen sich damit die Wahlen zum Deutschen Bundestag unter Beachtung und Wahrung des Integrationsgedankens auch als das „Gravitationszentrum des demokratischen Verfassungsstaates“.

Dabei wird schon an dieser Stelle deutlich, dass jede Stärkung des Verhältniswahlgedankens zulasten der Mehrheitswahl –wie sie auch dem Gesetzentwurf der Regierungskoalitionen deutlich zu entnehmen ist – die grundsätzliche Verpflichtung des Wahlrechts zur Integration berührt, weil sie sich letzten Endes als Stärkung der Rolle der Parteien zulasten des Gebots funktioneller und möglichst umfassender Integration des Wahlvolks erweist. Allerdings ist es gleichzeitig Sache des Gesetzgebers, die divergierenden Belange zwischen Funktionsfähigkeit des Parlaments einerseits und dem Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz sowie der Chancengleichheit politischer Parteien zum Ausgleich zu bringen, wobei das Gericht den damit verbundenen Spielraum nur dahingehend überprüft, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten sind, nicht aber ob der Gesetzgeber auch die zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösung gefunden hat. Das Gericht muss sich daher darauf beschränken, einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit nur dann feststellen zu können, wenn die Regelung entweder schon nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, wenn sie zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Ziels Erforderlichen überschreitet. Ausgehend von den vorstehenden Erwägungen ist es zunächst eine dem Gesetzgeber zufallende Aufgabe, einen Ausgleich unterschiedlicher Wahlziele zu erreichen; so muss das Wahlrecht sowohl das Ziel einer möglichst genauen Abbildung der im Volk vertretenen politischen Richtungen und die Gedanken der Regionalisierung ebenso in den Blick nehmen wie das Gebot der Funktionsfähigkeit des Parlaments im Allgemeinen und der Fähigkeit zur Regierungsbildung im Besonderen. Dieses Spannungsverhältnis auszugleichen, ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, der sich dieser anzunehmen und dabei einen Ausgleich zu finden hat, der nicht unter gänzlicher Vernachlässigung des einen zugunsten des anderen Ziels erfolgen darf. Dabei muss der Wahlgesetzgeber insbesondere systemwidrige Friktionen und Ergebnisse vermeiden; er ist verpflichtet, ein insgesamt den eigenen Zielsetzungen gerecht werdendes und die eigenen Prämissen konsequent verwirklichendes Wahlrecht zu schaffen.

[…]

Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie den Bayerischen Verwaltungsblättern Heft 24/2023, S. 833 ff.

 

 

Prof. Dr. Kyrill-A. Schwarz

Lehrprofessur für öffentliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
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