18.03.2024

Der konkurrenzlos antretende Kandidat

Regelungsdefizite im Zusammenhang mit der Wahl eines Minderheitsministerpräsidenten

Der konkurrenzlos antretende Kandidat

Regelungsdefizite im Zusammenhang mit der Wahl eines Minderheitsministerpräsidenten

Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Der Beitrag widmet sich der anhaltenden Diskussion um die Notwendigkeit, die Vorschrift über die Wahl des Ministerpräsidenten im Hinblick auf die Situation zu ändern, dass in dem dritten Wahlgang nach Art. 70 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf nur ein Bewerber um das Amt zur Wahl steht. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass ein Regelungsbedarf durchaus besteht, weil sich das vom Verfassungsgeber gewählte Konzept für die Kreation des Regierungschefs bezüglich ebendieser und noch zweier weiterer Szenarien als lückenhaft darstellt und in der Konsequenz das Risiko einer manifesten Verfassungskrise birgt, dem es im Wege verfassungsändernder Gesetzgebung zu begegnen gilt. Dazu werden unter Berücksichtigung der Ergebnisse eines verfassungsvergleichenden Überblicks verschiedene legistische Ansätze in Anlehnung an die zur geltenden Rechtslage vertretenen Auffassungen aufgezeigt. Nicht zuletzt stellt der Beitrag heraus, dass die Landesverfassung bislang nur unzureichend Vorsorge getroffen hat für den Fall, dass eine Ministerpräsidentenwahl endgültig ergebnislos bleibt. Hierfür kommt als letztes Mittel nur die Anordnung einer Auflösung des Landtags nach Ablauf einer durch die Erledigung des Amts des Ministerpräsidenten ausgelösten Frist für dessen Neubesetzung infrage, wofür eine entsprechende Ergänzung des Art. 50 Abs. 2 ThürVerf geboten ist.

 

I. Problemaufriss und Begründung des Regelungsbedarfs

Die Wahl des Ministerpräsidenten als grundlegende erste Stufe der Regierungsbildung richtet sich im Regelfall nach Art. 70 Abs. 3 ThürVerf. Die Vorschrift lautet de constitutione lata wie folgt:

„Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt. Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zu Stande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“


Bislang konnte nach der zitierten Vorschrift in der Verfassungspraxis des Freistaats Thüringen zwar immer ein Ministerpräsident gewählt werden. Allerdings ist – obgleich es auch bezüglich dieses Problems bisher nicht zum Schwur kam – die Anforderung an die Wahl eines Ministerpräsidenten in dem „weiteren“ (d. h. dritten und letzten) Wahlgang nach Art. 70 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf für den Fall streitig, dass sich nur ein Bewerber, also ohne Gegenkandidaten, zur Wahl stellt. Während nach einer Rechtsauffassung das sog. Meiststimmenverfahren dann verlange, dass auf den konkurrenzlos kandidierenden Bewerber mehr Ja- als Nein-Stimmen entfallen, sollen nach anderer Lesart Gegenstimmen von vornherein nicht zu erfassen sein oder zumindest unberücksichtigt bleiben mit der Folge, dass dem allein Kandidierenden eine einzige Stimme zur Wahl ausreicht. Die verfassungsdogmatischen, demokratietheoretischen wie auch staatspolitischen Argumente sind einstweilen wohl hinlänglich ausgetauscht worden. Obwohl der vorliegende Beitrag zu diesem Streitstand keine neuen Erkenntnisse beizusteuern vermag, so bedarf es zur Konstatierung eines etwaigen Änderungsbedarfs und zur Sondierung von Optionen für eine Neuregelung zunächst doch immerhin einer Einordnung der Rechtslage de lege lata als Ausgangspunkt für derartige Erwägungen.

Die Auffassung, die Gegenstimmen zulassen und berücksichtigt wissen will, hat für sich, dass es zumindest prima facie schwerlich vermittelbar erscheint, einen Kandidaten als gewählt anzusehen, der von mehr Abgeordneten abgelehnt als unterstützt wird. Indes streitet für die wohl vorherrschende Gegenauffassung neben dem Wortlaut und der Regelungslogik des Art. 70 Abs. 3 ThürVerf, dass sie mit dem Verzicht auf die Beachtung von Nein-Stimmen eine wegen des unbedingten Kreationsauftrags aus Art. 48 Abs. 2 ThürVerf problematische Weigerungshaltung und Verhinderungstaktik von vornherein ausschließt.

Gleichwohl wird man die von Zeh erhobenen Bedenken gegen eine Feststellung der Wahl trotz überwiegender Ablehnung des „Gewählten“ nicht gänzlich abtun können. Dem Einwand kann zwar entgegengehalten werden, dass nach dem Meiststimmenverfahren ein Kandidat unstreitig auch dann gewählt ist, wenn im Falle vorhandener Gegenkandidaten diese in ihrer Gesamtheit mehr Stimmen auf sich vereinigen als der Gewählte, der damit ebenfalls in der Summe mehr Ablehnung als Zustimmung erfahren hat. Das Argument verfängt allerdings nur bei mehreren Gegenkandidaten, also bei insgesamt mindestens drei Wahlbewerbern. Hingegen besteht bei nur zwei Kandidierenden kein Unterschied zwischen den Anforderungen der relativen Mehrheit („die meisten Stimmen“) und der einfachen Mehrheit („Mehrheit der abgegebenen Stimmen“). Wer mehr Stimmen erhält als sein einziger Kontrahent, hat notwendigerweise stets auch mehr Stimmen auf sich vereinigt als die Gesamtheit seiner Gegenkandidaten, welche schließlich nur aus ebendiesem einen Mitbewerber besteht. Weil es sich auch bei einer Ja/Nein-Entscheidung um eine binäre Abstimmung handelt, liegt es – die Zulässigkeit des Votierens mit Nein einmal unterstellt – nahe, Gegenstimmen mit positiven Stimmen für einen fiktiven Gegenkandidaten gleichzusetzen. Unter dieser Prämisse wäre also davon auszugehen, dass eine überwiegende Anzahl von Nein- Stimmen einen erfolgreichen Wahlausgang ausschließt.

In dem streitbefangenen Fall, dass gar nur ein Kandidat antritt, versagen aber beide genannten Mehrheitskonzepte, weshalb sich die bestehende Verfassungsrechtslage nach Art. 70 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf in dieser Konstellation als unbefriedigend erweist. Im primären Wahlmodus nach Art. 70 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 ThürVerf mit seinem Erfordernis einer Mitgliedermehrheit wirft das Ausbleiben von Gegenkandidaturen in rechtlicher Hinsicht keine Probleme auf. Denn eine absolute Mehrheit kann ohne jede Relation zu anderen Wahloptionen festgestellt werden. Ihr Referenzwert ist allein die (gesetzliche) Mitgliederzahl. Maßgebend ist demzufolge nur, ob ein Kandidat mehr Stimmen als die Hälfte dieser Mitgliederzahl erreicht hat. Anders verhält es sich indes bei der relativen wie auch bei der einfachen Mehrheit. Diese stehen per definitionem in Abhängigkeit zu für andere Wahlbewerber abgegebenen Stimmen. So meint die Wendung „die meisten Stimmen“, dass ein Wahlbewerber mehr Stimmen erhalten hat als jeder einzelne seiner Mitbewerber für sich betrachtet (relative Mehrheit), und die „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ umschreibt die Anforderung, dass auf einen Kandidaten mehr Stimmen entfallen als auf alle anderen Kandidaten zusammen (einfache Mehrheit). Steht kein weiterer Bewerber zur Wahl, geraten beide Mehrheitsanforderungen ihrem überkommenen Verständnis nach an ihre konzeptionelle Grenze, weil dann der Bezugspunkt für ihre Ermittlung fehlt. Umstritten ist also bei Lichte besehen nicht die Frage, welches Mehrheitserfordernis im dritten Wahlgang für den konkurrenzlosen Bewerber gilt, sondern die Frage nach der Möglichkeit eines wirksamen Votierens mit Nein. Wenn Zeh den fehlenden Gegenkandidaten durch die Option einer destruktiven Abstimmung ersetzen will, ist dies schon wegen der Kreationspflicht nach Art. 48 Abs. 2 ThürVerf, die dem Parlament eine positive Entscheidung über die Besetzung des Amtes des Ministerpräsidenten abverlangt, jedenfalls ohne eine explizite Festschreibung dieser Wahlmöglichkeit zweifelhaft. Die Gegenauffassung von Morlok et al. kann zwar das Wortlautargument anführen, wonach man das meiste von etwas hat, wenn niemand ebenso viel oder mehr von diesem Etwas hat, was auch – und sogar zwingend – dann der Fall ist, wenn niemand anderes als Vergleich zur Verfügung steht. Das darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass auch die Konzeption der relativen Mehrheit vom Vorhandensein mehrerer Kandidaten für einen Wahlvorgang ausgeht bzw. wenigstens einen weiteren Kandidaten als Bezugsgröße definitionsgemäß voraussetzt. Die grundsätzlich bedeutsame Differenzierung zwischen relativer und einfacher Mehrheit führt daher weder in dem Fall einer binären Wahl noch bei einem konkurrenzlos Kandidierenden weiter. Bei zwei Kandidaten stellen beide Konzepte identische Anforderungen, im Falle des alleine Kandidierenden sind sie nicht aussagekräftig. Folglich überzeugen beide vertretenen Lesarten des Meiststimmenprinzips nicht restlos.

Die im Schrifttum wie auch im Verfassungsausschuss des Landtags geführte Diskussion bringt – wenngleich selbst hierüber keine Einigkeit herrscht – die Erkenntnis, dass für die skizzierte Problematik ein vordringlicher Regelungs- oder zumindest Klarstellungsbedarf besteht. Eine auf streitiger Verfassungsgrundlage zu treffende und mithin angreifbare Feststellung über die Wahl und Entscheidung über die Vereidigung eines Ministerpräsidenten ließe nicht nur im Falle ihrer nachherigen verfassungsgerichtlichen Kassation eine Beschädigung der Ämter des Ministerpräsidenten wie auch des Präsidenten bzw. der Präsidentin des Landtags und in der Konsequenz eine Schwächung des Vertrauens in das parlamentarische Regierungssystem an sich besorgen. Dem entgegenzuwirken und die rechtssichere Wahl eines Ministerpräsidenten ohne eine absolute Mehrheit auch bei nur einem Kandidaten für das Amt zu gewährleisten, ist der Landtag als verfassungsändernder Landesgesetzgeber berufen.17 Diese Aufgabe erscheint umso vordringlicher, als dass die aktuellen politischen Verhältnisse auch mit Blick auf die kommende 8. Wahlperiode des Thüringer Landtags das Zustandekommen einer Landesregierung unter Führung eines mit absoluter Mehrheit gewählten Ministerpräsidenten schwerlich versichern.

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in den Thüringer Verwaltungsblättern Heft 1/2024, S. 1 ff.

 

Ralf Schleicher

Referent in der Verwaltung des Thüringer Landtags
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