18.03.2024

Die wahlgleichheitsrechtlichen Anforderungen der Mehrheitswahl

Bedeutung für die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition

Die wahlgleichheitsrechtlichen Anforderungen der Mehrheitswahl

Bedeutung für die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition

Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Die Mehrheitswahl (Personenwahl in Einerwahlkreisen) bildet das Volk in einer territorial (nach Wahlkreisen) gegliederten Gestalt ab. Dementsprechend ist ein strikter Gebietsproporz der Repräsentation (gleichmäßiges Vertretersein aller Wahlkreise) bei der Mehrheitswahl das oberste Gebot des (wahlsystemabhängigen) Wahlgleichheitsgrundsatzes. Die von der Ampelkoalition durchgesetzte Reform des Bundestagswahlrechts behält das bewährte System zweier Stimmen (Erst- und Zweitstimme/Wahlkreis- und Listenwahl) bei und setzt damit weiterhin auch auf ein mehrheits-/personenwahlrechtliches Element. Zugleich führt das neu eingeführte Prinzip der Zweitstimmendeckung jedoch zur großflächigen Inkaufnahme so genannter „verwaister“ Wahlkreise (die keinen Direktkandidaten entsenden dürfen) und kann in Verbindung mit dem in letzter Minute beschlossenen Wegfall der Grundmandatsklausel sogar zur Folge haben, dass äußerstenfalls ganze Bundesländer ohne direkt gewählte Repräsentanz bleiben. Das zentrale wahlgleichheitsrechtliche Postulat der Mehrheitswahl – das gleichmäßige Vertretersein aller Wahlkreise und Landesteile durch direkt gewählte Wahlkreiskandidaten – wird dadurch auf das Krasseste verfehlt und geradezu konterkariert. Hierin liegt – wie dieser Beitrag aufzeigt – eine der größten verfassungsrechtlichen Angriffsflächen der Wahlrechtsreform.

1. Die tatsächliche und rechtliche Problematik der Wahlrechtsreform

Um eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages (auf künftig 630 Mandate, vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) zu erreichen, behält die mit den Stimmen der Ampelkoalition beschlossene Wahlrechtsreform zwar das bisherige System zweier Stimmen (Erst- und Zweitstimme) bei (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 BWahlG: Wahl eines Wahlkreisbewerbers mit der Erststimme nach Grundsätzen der Mehrheitswahl, Wahl einer Parteiliste mit der Zweitstimme nach Grundsätzen der Verhältniswahl), stellt die Wahl des Wahlkreisbewerbers (für die weiterhin das Erfordernis einer relativen Mehrheit gilt; vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 BWahlG: „die meisten Erststimmen“) aber unter den zusätzlichen Vorbehalt, dass die Sitzzuteilung durch Zweitstimmen gedeckt ist (§ 1 Abs. 3 Satz 2, § 6 Abs. 1 BWahlG; Prinzip der Zweitstimmendeckung). Zur Vermeidung von Überhangmandaten (und in der Folge auch Ausgleichsmandaten) nimmt das Gesetz auf diese Weise planmäßig in Kauf, dass einzelne Wahlkreise ohne Repräsentanz bleiben (verwaiste Wahlkreise).

Das Phänomen verwaister Wahlkreise ist, legt man entsprechende Hochrechnungen zugrunde, keineswegs eine bloße Randerscheinung des neuen Wahlrechts: Hätte das neue Wahlrecht schon 2021 gegolten, wäre es bei der letzten Bundestagswahl zu 27 verwaisten Wahlkreisen (von 299) gekommen, bei der Wahl 2017 hätten sich 36 verwaiste Wahlkreise ergeben. Gut 9 Prozent beziehungsweise 12 Prozent der Wahlkreise wären also betroffen gewesen; fast ein Zehntel beziehungsweise ein Achtel der deutschen Bevölkerung wäre also ohne unmittelbar gewählten Wahlkreisrepräsentanten geblieben, was zugleich bedeutet: Die Erststimme jedes zehnten/achten Wählers wäre belanglos. Für Bayern und einige andere Länder wären die Auswirkungen noch drastischer: Hier wären 2021 sieben Wahlkreise (von 46 = 15,2 Prozent) verwaist geblieben; für Baden-Württemberg wären es zehn von 38 (26,3 Prozent), im Saarland 25 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 33,3 Prozent und in Brandenburg 30 Prozent gewesen; Ähnliches ergibt sich auch für 2017 (Bayern 11 Prozent, Baden-Württemberg 21 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern 33 Prozent, Brandenburg 30 Prozent, Sachsen-Anhalt 44 Prozent, Thüringen 37,5 Prozent); in jeweils vier beziehungsweise fünf Ländern hätte die Quote verwaister Wahlkreise also bei einem Viertel oder höher gelegen. Signifikant ist dabei, dass verwaiste Wahlkreise nicht etwa völlig verstreut und gleichverteilt, sondern clusterartig und in regionaler Häufung auftreten (mit einem besonderen Betroffensein des Südens und Ostens Deutschlands; es kommt also zu regionalen Repräsentationslücken); erschwerend kommt hinzu, dass sich solche Cluster auch in zeitlicher Hinsicht verfestigen können (acht Wahlkreise – vier davon in Bayern – wären sowohl 2017 als auch 2021 betroffen gewesen, mit der Folge eines unweigerlichen Gefühls des langfristigen Nichtvertretenseins dieser Regionen). Auffällig ist zum anderen, dass (zumal in Bayern) besonders die Großstädte betroffen sein würden (2021 wären das in Bayern wären drei von vier Münchener Wahlkreisen, ein Nürnberger Wahlkreis sowie der Wahlkreis Augsburg gewesen), da in ihnen die Ergebnisse erfahrungsgemäß knapp sind und das neue Wahlrecht ja die Wahlkreise mit den geringsten Mehrheiten kappt; Parteien wie der CSU, die es bislang schaffen, auch in Großstädten zumindest noch knappe Mehrheiten zu erzielen, würde es künftig erschwert, das großstädtische Milieu weiter erfolgreich zu vertreten; dass es überdies auch ganz allgemein höchst negative Konsequenzen für die Lebendigkeit der Demokratie hat, wenn gerade die umkämpften Wahlkreise (in reinen Mehrheitswahlsystemen spricht man hier von „swing constituencies“ oder „target seats“, auf die sich alle Aufmerksamkeit richtet) von der Kappung bedroht sind, kommt noch hinzu.


Die bis hierher umrissene regionale Unwucht des neuen Wahlsystems wird noch einmal auf das Krasseste gesteigert, wenn man die potenziellen Auswirkungen des im Gesetzgebungsverfahren erst ganz zum Schluss eingeführten ersatzlosen Wegfalls der so genannten Grundmandatsklausel hinzunimmt (die vormals Parteien, die mindestens drei Direktmandate errangen, von der Fünf-Prozent-Klausel befreite; künftig hingegen kann eine Partei, die an der nunmehr um keinerlei Regionalkomponente mehr abgemilderten Fünf-Prozent-Klausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG scheitert, auch wenn sie in einer Region noch so viele Wahlkreise gewinnt, infolge der Kombination von Zweitstimmendeckung und Wegfall der Grundmandatsklausel keinen einzigen davon besetzen). In Bayern hat die CSU bei der letzten Bundestagswahl bundesweit 5,2 Prozent der Zweitstimmen bekommen; zugleich hat sie mit den Erststimmen 45 von 46 bayerischen Wahlkreisen gewonnen. Man stelle sich vor, sie würde bei einer Bundestagswahl einen etwas geringeren Zweitstimmenerfolg erzielen und nur 4,9 Prozent erreichen, zugleich aber weiter (fast) alle Wahlkreise gewinnen: Kein einziger dieser Wahlkreise könnte in diesem Fall besetzt werden. (Fast) ein ganzes (großes) Bundesland bliebe in diesem Fall also ohne Repräsentanz durch direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete (Nichtvertretensein Bayerns durch unmittelbar gewählte Wahlkreisabgeordnete). Zugleich wäre die politische Mehrheit (d. h. die mit Abstand größte Wählergruppe) eines ganzen (großen) Bundeslandes im Bundestag nicht vertreten (Bayern wäre eklatant falsch vertreten, was die parteipolitischen Präferenzen seiner Wähler anbelangt). Und schließlich könnte Bayern aufgrund der Verteilungsmechanismen des neuen Wahlrechts in einem solchen Fall (infolge der Kappung) auch insgesamt (bezogen auf die Verhältnisse des Jahres 2021) nur 65 statt 98 Mandatsträger entsenden, es wäre als Land (verglichen mit seiner Bevölkerungszahl) im Verhältnis zu anderen Bundesländern also eklatant unterrepräsentiert. Die Integrations-, Repräsentations-, Legitimations- und Akzeptanzfunktion der demokratischen Wahl würde durch derart krasse, für Bayern geradezu unerträgliche Verzerrungen aufs Gravierendste gefährdet, und man mag sich kaum ausmalen, welchen Schaden das Vertrauen in die Demokratie in Bayern und der föderale Zusammenhalt in Deutschland durch ein solches Ergebnis nehmen würden. Auf die die Teilhabe Bayerns am deutschen Bundesstaat seit über 150 Jahre prägende Tradition und Besonderheit, dass die Bayerische Wählerschaft im deutschen Bundesparlament auch durch eine starke Landespartei vertreten sein will (diese Tradition reicht mit der CSU an die Wiege der Bundesrepublik, mit der Bayerischen Volkspartei in die Weimarer Zeit und mit der Bayerischen Zentrumspartei beziehungsweise Patriotenpartei bis an den Beginn der Kaiserzeit und sogar in das Zollparlament 1868 zurück), nimmt das neue Wahlrecht keine Rücksicht mehr.

Dass das neue Wahlrecht eine Fülle an Verfassungsfragen aufwirft und daher auch vor dem BVerfG angegriffen worden ist, kann nicht verwundern. Kappungsmodelle, wie sie nun durch das Prinzip der Zweitstimmendeckung verwirklicht werden, sind traditionell überwiegend als verfassungswidrig angesehen worden; auch am neuen Modell hat sich dementsprechend vielfache Kritik entzündet. Auf ein besonders kritisches Echo ist der ersatzlose Wegfall der Grundmandatsklausel gestoßen; auch mehrere ursprüngliche Befürworter der Reform sehen zumindest in dieser (zunächst nicht vorgesehenen) zusätzlichen Erschwernis einen Kipppunkt erreicht, der die verfassungsrechtliche Validität der Reform gefährdet. Nur vereinzelt wird die Reform trotz dieser Kritik noch als rundweg bedenkenfrei erachtet. Im Überblick geht es vor allem um Folgendes:

– In einem sehr umfassenden und facettenreichen Sinn stellt sich zunächst die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gebot der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Hierbei geht es nicht allein um den in diesem Beitrag behandelten (und für besonders zentral erachteten) Aspekt der Wahlrechtsgleichheit (mehrheitswahlrechtlichen Gebot eines strikten Gebietsproporzes), sondern auch um viele weitere Fragestellungen: Kann es zulässig sein, dass das neue Wahlrecht den Erststimmen in verwaisten Wahlkreisen jeden Erfolgswert verweigert (Erfolgswertgleichheit)? Beruht es auf einem gerechten Vergleich, wenn das neue Wahlrecht für die Frage, bei welchem Wahlkreis die Kappung vorgenommen werden soll, die Erststimmenergebnisse unterschiedlicher Wahlkreise zueinander ins Verhältnis setzt oder sind die Wahlkreise nach sozio-demografischer Zusammensetzung und Konkurrenzsituation (Platzhirsch oder umkämpfter Wahlkreis?) nicht zu unterschiedlich, um so einen Vergleich zu rechtfertigen (Gebot der Erfolgschancengleichheit)? Ist es mit dem Gebot der Erfolgschancengleichheit und dem Parteienprivileg (Art. 21 GG) vereinbar, dass parteiunabhängige Wahlkreisbewerber von der Kappung ausgenommen und in diesem Sinne privilegiert werden (§ 6 Abs. 2 BWahlG)? Entspricht es dem wahlgleichheitsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot, dass das neue Wahlrecht auf das personen- und mehrheitswahlrechtliche Element auch künftig nicht verzichten will, dann aber die Ergebnisse der durchgeführten Personenwahl unter Umständen (kappungsbedingt) für völlig irrelevant erklärt? Lassen sich die zum Teil eklatanten Repräsentationsunterschiede zwischen den Ländern mit dem Gebot föderaler Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. dem Bundesstaatsprinzip) vereinbaren?

– Sodann geht es um die Frage der Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip: Verwiesen sei dabei auf die bereits konstatierten erheblichen Gefährdungen der demokratischen Integrations-, Legitimations-, Repräsentations- und Akzeptanzfunktion der Wahl, zu der das neue Wahlrecht führen kann. Die Nichtzuteilung eines mit Mehrheit gewählten Wahlkreiskandidaten wirft überdies die Frage der Vereinbarkeit mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip auf.

– Ein Wahlrecht, das einseitig zulasten derjenigen Parteien geht, die über eine breite Verankerung in der Fläche des Landes verfügen und so in einer strukturellen Überhangsituation stehen, und das die Wettbewerbsbedingungen einseitig zulasten der Oppositionsparteien verschiebt, ist des Weiteren am Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien zu messen.

– Der ersatzlose Wegfall der Grundmandatsklausel wirft schließlich die Grundsatzfrage auf, ob eine nackte, um keinerlei Regionalkomponente mehr gemilderte Fünf-Prozent- Klausel mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und dem Bundesstaatsprinzip vereinbar sein kann. Kann ein solches Wahlrecht (im Sinne der Integrationsfunktion der Wahl) wirklich noch gewährleisten, dass alle – für unseren Bundesstaat – bedeutsamen politischen Kräfte im Parlament vertreten sind?

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in den Bayerischen Verwaltungsblättern Heft 1/2024, S. 1 ff.

 

Prof. Dr. Markus Möstl

Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Bayreuth
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