08.06.2022

Stadtluft macht frei

Bundesverwaltungsgericht stärkt Meinungsfreiheit beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen

Stadtluft macht frei

Bundesverwaltungsgericht stärkt Meinungsfreiheit beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen

Es braucht offene Räume für freie Diskurse so dringend wie eine funktionierende Wasser- und Stromversorgung.  | © Manuel Schönfeld - stock.adobe.
Es braucht offene Räume für freie Diskurse so dringend wie eine funktionierende Wasser- und Stromversorgung.  | © Manuel Schönfeld - stock.adobe.

Wenn Meinungsäußerungen den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden, können sie durch staatliche Maßnahmen beschränkt werden.

Bundesverwaltungsgericht stärkt Meinungsfreiheit beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen

„So gut das Schwert der Wahrheit auch sein mag; es bleibt nur scharf, wenn es ständig gegen die Äxte und Keulen der Unwahrheit gebraucht wird“ (Timothy Garton Ash, Redefreiheit, Sonderausgabe 2017, S. 116).


In seinem jüngst schriftlich veröffentlichten Urteil vom 20.01.2022 (Az. 8 C 35.20) bricht das Bundesverwaltungsgericht eine Lanze für das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach jedermann das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Dieses Grundrecht sei verletzt, wenn eine Stadt die Nutzung einer kommunalen öffentlichen Einrichtung für Diskussionsveranstaltungen derart einschränkt, dass bereits ausgeschlossen werde, sich mit einem bestimmten Thema zu befassen.

Rat zieht städtische Mauern höher

Die drastische gerichtliche Intervention hat eine mehrjährige Vorgeschichte. Zudem ist sie eingebettet in eine äußerst kontroverse politische Diskussion, die am Ende des Tages indes juristisch eine untergeordnete Rolle spielt.

Am 13.12.2017 hatte der Rat der Stadt München beschlossen, dass für bestimmte Veranstaltungen keine städtischen Räume zur Verfügung gestellt werden dürfen. Konkret zielte der Ratsbeschluss auf Veranstaltungen, die sich mit Inhalten, Themen und Zielen der sog. BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben (mit umfangreicher Begründung: https://risi.muenchen.de/risi/dokument/v/4760943).

Diese deutliche Positionierung der Stadt München ist verständlich. Richtet sie sich doch gegen eine weltweit medial auftretende 2005 gegründete palästinensische Propagandakampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will (BDS: „Boycott, Divestments und Sanctions“). Der darin verbreitete Judenhass kann als eine Form des Antisemitismus bezeichnet werden. Im NPD-Urteil hat das BVerfG auf antisemitischen Vorstellungen beruhende politische Konzepte wegen ihrer zweifelsfrei bestehenden Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als verfassungswidrig angesehen (BVerfG Urt. v. 17.01.2017, BVerfGE 144, 20, Rn. 541).

Bürger klopft auf Einlass und pocht auf sein Recht

Nach dem Beschluss beantragte der Kläger im April 2018 bei der Stadt, ihm für eine Podiumsveranstaltung zum Thema „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? – Der Stadtratsbeschluss vom 13. Dezember 2017 und seine Folgen“ einen städtischen Saal zu überlassen. Die Stadt lehnte unter Bezugnahme auf eben diesen Beschluss den Antrag ab. Schon die Befassung mit dem Thema BDS reiche für eine Versagung, da Umgehungen verhindert werden sollen.

Das VG München wies die auf Überlassung gerichtete Verpflichtungsklage zunächst zurück. Der VGH München hob diese Entscheidung jedoch mit Urteil vom 17.11.2020 (DÖV 2021, 31) wieder auf und verpflichtete die Stadt, den Zugang zum Bürgersaal im Rahmen der Kapazitäten zu verschaffen. Die hiergegen gerichtete Revision der Stadt hatte nun keinen Erfolg. Beflügelt mag die Einlegung ein vorheriger Beschluss des Deutschen Bundestages vom 17.05.2019 (Drucksache 19/10191) haben, der die BDS-Kampagne unverhohlen als antisemitisch brandmarkt.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Nutzungsanspruch des erfolgreich klagenden Münchener Pensionärs ist § 21 Abs. 1 Satz der bayerischen Gemeindeordnung.  Danach sind Gemeindeangehörigen nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen.

Ähnliche Vorschriften finden sich bundesweit in allen Gemeindeordnungen der Länder (etwa § 8 Abs. 2 GO NRW, § 10 Abs. 2 Satz 2 GemO BW). Rechtlich maßgeblich für Inhalt und Umfang des Rechtsanspruchs der Bürger und Bürgerinnen zu öffentlichen Einrichtungen ist die sog. Widmung, also die durch Satzung, Ratsbeschluss oder Verwaltungspraxis verbindliche Festlegung des Zwecks der jeweiligen Nutzung. Der Widmungszweck des Bürgersaales umfasste privat organisierte Veranstaltungen zu kommunalpolitischen Themen.  Der angegriffene Ratsbeschluss aus 2017 engte den Widmungszweck nachträglich wieder ein.

Bundesverwaltungsgericht lüftet durch und setzt Grenzen

Durch diese Begrenzung des Widmungszwecks werde, so das Gericht, die Meinungsfreiheit in verfassungswidriger Weise verletzt. Beim einer subjektiven, von einem Dafürhalten geprägten Äußerung komme es nicht darauf an, ob die verbreitete Meinung begründet, emotional oder rational sei, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werde. Die Verfassung vertraue auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksame Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien (auch BVerfGE 124, 300, 320).

Dieses schlechthin den demokratischen Rechtsstaat konstituierende Grundrecht kann nach Art 5 Abs. 2 GG nur durch sog. allgemeine Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und durch das Recht der persönlichen Ehre eingeschränkt werden. Dabei sind die einschränkenden Gesetze im Lichte des Grundrechts der Meinungsfreiheit selbst wieder abwägend auszulegen (bereits Lüth-Urteil, BVerfGE, Bd. 7, 198 ff.)

Rechtlich schulmäßig und wenig überraschend stellt das Bundesverwaltungsgericht daher fest: Der Ratsbeschluss, der zum Ausschluss einer meinungsbildenden Auseinandersetzung zur BDS-Kampagne führe, fehle schon die nötige Gesetzesqualität. Als Rechtsnorm mit einem gleichen Inhalt wäre es ohnehin aber kein allgemeines Gesetz. Es ziele nicht meinungsneutral allgemein auf die Abwehr von Rechtsgutverletzungen, sondern schließe gezielt eine bestimmte Debatte aus.

Schließlich sei das Nutzungsverbot nicht zum Schutz allgemeiner Rechtsgüter erforderlich. Wie die Tatsachenvorinstanzen bindend festgestellt hätten, seien Diskussionen, die sich mit der BDS-Kampagne befassten, nicht regelmäßig mit Straftaten wie Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder Beleidigung (§ 185 BGB) verbunden. Ferner entfalte die Kampagne „gegenwärtig“ keine die Friedlichkeitsgrenze überschreitende Stimmungsmache gegen die jüdische Bevölkerung.

Schließanleitung für kommunale Tore

Das Gericht hält den Kommunen in der Entscheidung eine Verbotstür offen, die das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen aufgestoßen hatte. Wenn Meinungsäußerungen den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression und Rechtsbruch markieren, können sie durch staatliche Maßnahmen beschränkt werden.

Künftig dürfen Städte im Vorfeld also insbesondere dann kommunale Räume insbesondere für BDS-Veranstaltungen – aber auch für andere Diskussionen mit extremen Inhalten – versagen, wenn eine ernsthafte Gefahr von Straftaten droht bzw. mit diesen begründet zu rechnen ist. Es reicht nicht die vielleicht auch verständliche Intention, unerwünschte Meinungen zu verbannen. Leicht sollten es die Städte sich bei der Ablehnung nicht machen, obgleich gerade die Debatte die BDS-Kampagne als diskursives Mienenfeld zu schnellen Verboten animiert.

In diese Falle tappte zuletzt die Stadt Stuttgart, die einen Verein, der die BDS-Kampagne unterstützt, von der städtischen Website verbannte, auf der 7.000 Vereine in der Kommune aufgelistet sind. Das VG Stuttgart verurteilte die Stadt zur Aufnahme des Vereins auf die Website (Urt. v. 21.04.2022, Az. 7 K 3169/21). Zur schwierigen Grenzziehung können die Städte auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 11.06.2020 (Baldassi et autres c. France, Nr. 15271/16) heranziehen, wonach BDS-Aktionen als politische Meinungsäußerung nicht mehr zulässig sind, wenn sie zur Gewalt, zum Hass oder zur Intoleranz aufrufen.

Es sollte ferner dem Strafrecht überlassen bleiben, in unserer historischen Verantwortung liegende geeignete Mittel gegen die scheinbar unausrottbare Seuche des Antisemitismus bereitzustellen, der nach wie vor den dunkelbraunen Nährboden für jährlich hunderte von Angriffen und Anschlägen auf Juden in Deutschland bildet. Auch das Strafrecht findet seine Grenze allerdings im Grundrecht der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG.

Städte, in denen Diversität hochgehalten, Extreme stärker aufeinanderprallen und religiöse und politische Konflikte an der Tagesordnung sind, brauchen schließlich offene Räume für freie Diskurse so dringend wie eine funktionierende Wasser- und Stromversorgung. Ansonsten laufen wir noch mehr Gefahr, dass konträre extremere Ansichten sich nicht in öffentlicher Rede- und Gegenrede abschleifen, sondern in den anonymen Echokammern und Filterblasen des Internets demokratiefeindlich potenzieren und ihre Protagonisten/Protagonistinnen sich weiter radikalisieren.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
 

Marco Schütz

Leiter Stabsstelle Recht bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V.
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