16.06.2022

Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen (1)

Das Dilemma von Hochschulprüfungen – Teil 1

Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen (1)

Das Dilemma von Hochschulprüfungen – Teil 1

War die Umstellung auf digitale Lehre 2020 noch gut zu bewältigen, betrat man mit elektronischen Fernprüfungen jedoch Neuland. © Elena – stock.adobe.com
War die Umstellung auf digitale Lehre 2020 noch gut zu bewältigen, betrat man mit elektronischen Fernprüfungen jedoch Neuland. © Elena – stock.adobe.com

Genau ein Jahr nachdem das erste „Pandemiesemester“ an den deutschen Hochschulen mit zahlreichen Prüfungen, zumeist als Fern- bzw. Online-Prüfungen, endete, geriet die Prüfungspraxis ins Visier der Datenschützer: „Kritik an Spähsoftware: Massive Eingriffe in Freiheit der Studenten“, hieß es in den Schlagzeilen. Ob diese Kritik berechtigt ist, klärt der nachfolgende Beitrag aus dem Blickwinkel der beiden Verfasser der bundesweit ersten Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen (BayFEV).

Das Dilemma von Hochschulprüfungen während einer Pandemie

Als die Corona-Pandemie im März 2020 Deutschland mit voller Wucht erreichte, mussten nicht nur die Menschen, sondern auch Behörden, Unternehmen und Institutionen „auf Distanz“ gehen. Solange es keinen wirksamen Impfstoff in ausreichender Menge gab (und damit war – trotz sensationeller wissenschaftlicher Erfolge – nicht vor 2021 zu rechnen), waren Kontaktbeschränkungen das Gebot der Stunde. Auch wenn dies zahlreiche Grundrechtseinschränkungen bedeutete, weil der Gebrauch vieler Freiheitsrechte, aber auch die ebenfalls grundrechtlich geschützte berufliche oder kulturelle Entfaltung mit engem Kontakt einer Vielzahl von Menschen einhergehen, war dies durch die überragende Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) verfassungsrechtlich gerechtfertigt.1

Für die Hochschulen bedeutete dies: War die Umstellung auf digitale Lehre noch gut zu bewältigen, weil solche Formate schon seit langem erprobt wurden (so etwa an der Virtuellen Hochschule Bayern seit 2001), betrat man mit elektronischen Fernprüfungen bzw. Online-Prüfungen – die außerhalb von Prüfungsräumen der Hochschulen, zumeist in den Wohnungen der zu Prüfenden stattfanden – regelrecht Neuland. Dabei waren die Hochschulen einem Dilemma ausgesetzt: Egal wie man in der akuten Pandemie Prüfungen, insbesondere Klausuren organisieren wollte, stets wurde zumindest ein Grundrecht verletzt.2 Präsenzprüfungen kollidierten mit dem Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, Online-Klausuren mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (zumindest solange es keine dezidierte Rechtsgrundlage hierfür gab) und ein Verschieben der Prüfung mit dem Prüfungsanspruch aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG.


In dieser Situation galt es, mit Fingerspitzengefühl, transparent und kooperativ mit Vertretern der Studierenden einen pragmatischen Weg aus diesem Dilemma zu suchen, um parallel dazu schnellstmöglich eine Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen zu schaffen, die genau jenen Fairnesskriterien entsprechen sollte, die in der Dilemma-Situation interessengerecht entwickelt wurden. Diese Kriterien, die im Folgenden losgelöst vom Rechtsrahmen in einem bestimmten Bundesland dargestellt werden, gilt es am Ende auf die Verordnung zur Erprobung elektronischer Fernprüfungen an den Hochschulen in Bayern (BayFEV) zu beziehen. In ihr liegt auch die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage, inwiefern mit solchen Online-Prüfungen immer auch massive Grundrechtseingriffe verbunden sein müssen. Die Verfasser sehen bei rechtskonformer Gestaltung viel mehr Chancen als Risiken.

Fairnesskriterien für elektronische Fernprüfungen

Elektronische Fernprüfungen ermöglichen unabhängig von der aktuellen Pandemie eine neue Art des Prüfens. Sie sind dabei jedoch nicht das technologische Abbild der Präsenzprüfungen, sondern zeichnen sich durch eigene Charakteristika aus. Unterschiede ergeben sich insbesondere daraus, dass die Hochschulen nicht auf die örtliche Prüfungsumgebung Einfluss nehmen können und sich der Prüfungsort oftmals in einem besonders geschützten Bereich, der Wohnung der Studierenden, befindet. Der Grundsatz der Chancengleichheit verpflichtet die Hochschulen sicherzustellen, dass die Prüflinge gleiche Prüfungschancen haben. Dies umfasst auch, dass ein Mindestmaß an Fairness garantiert wird, somit Täuschungshandlungen zu einem gewissen Grad verhindert und erkannt werden können.3 Das dabei auf Seiten der Hochschulen bestehende Aufsichtsbedürfnis schützt somit mittelbar auch die Belange der Studierenden.

Der Umstand, dass sich elektronische Fernprüfungen in einem besonders grundrechtssensiblen Bereich bewegen, die Studierenden aber gleichzeitig bedeutend mehr Einflussmöglichkeiten auf die Prüfung selbst haben und sich dabei die Prüfungsbedingungen individuell stark unterscheiden können, lenkt den Blick im Besonderen auf die Frage der Fairness. Fairness ist hierbei nicht nur Ausdruck der Chancengleichheit aus Art. 3 GG, sondern zugleich Voraussetzung für das Vertrauen in die Prüfungsform, die (Lern-) Motivation der Studierenden und die Erprobung eines neuen Prüfungsformates, welches das Potenzial hat, das Hochschulprüfungswesen nachhaltig zu verändern.

Transparenz und Information – Basis für Vertrauen

Transparenz- und Informationspflichten ergeben sich bereits aus den bestehenden rechtlichen Vorgaben, wie etwa den Regelungen der DSGVO. Sie sind dabei nicht als reiner Selbstzweck zu verstehen, sondern erfüllen wichtige Funktionen: So sind sie Voraussetzung dafür, dass die rechtlichen Entscheidungs- und Einschätzungsräume auch ausgenutzt werden und dienen mittelbar und unmittelbar dem (Grund-)Rechtsschutz der betroffenen Personen selbst. Dem Datenschutzrecht ist das Spannungsverhältnis zwischen sich gegenüberstehenden Grundrechten und Interessen immanent. Weder ein Recht auf Datenschutz (vor der DSGVO Recht auf informationelle Selbstbestimmung), noch ein Recht auf Datennutzung gelten absolut. Durch die Ausgestaltung bestimmter Verfahren und Rechte (wie Informationspflichten und Auskunftsrechten) wird indes sichergestellt, dass ein etwaiges Ungleichgewicht ausgeglichen wird. Konkret verfügen die Hochschulen zusammen mit den oftmals eingesetzten Softwareanbietern gegenüber den Studierenden über ein erhebliches Informationsübergewicht. Durch die Informationspflichten wird dieses relativiert und eine freie und selbstbestimmte Entscheidung der Studierenden überhaupt erst ermöglicht.

Darüber hinaus sind Transparenz und Information – ganz unabhängig von den konkreten rechtlichen Vorgaben – grundlegend für das Vertrauen der Beteiligten. Nur wer nachvollziehen kann, was wie und warum geschieht, wird sich letztlich auch für die elektronische Fernprüfung entscheiden. Befürchtungen, die zu Hemmungen gegenüber dem neuartigen Prüfungsformat führen könnten, lassen sich von Vornherein effektiv abbauen. Häufig bestehen z. B. Fragen hinsichtlich der zulässigen Aufsichtsmaßnahmen, dem konkreten Ablauf der Prüfung oder dem Umgang mit technischen Störungen. Diese gilt es auch mittels praktischer Übungsmöglichkeiten zu beantworten.

Wahlrecht der Studierenden

Die besonderen Umstände einer elektronischen Fernprüfung machen zudem ein Wahlrecht der Studierenden erforderlich. Die Prüfenden können die individuellen Gegebenheiten nicht einschätzen und dadurch nicht für eine faire Prüfung garantieren. Eine Pflicht zur Teilnahme an einer elektronischen Fernprüfung wäre daher unverhältnismäßig. Die Prüflinge hingegen können einschätzen und entscheiden, ob die individuellen örtlichen Gegebenheiten einer ruhigen Prüfungsumgebung entsprechen und sie bereit sind, der Aufsichtsperson einen Einblick in ihre häusliche Umgebung zu gewähren, oder ob sie die Klausur lieber „bekannt und bewährt“ in den Räumen der Hochschule schreiben möchten. Im Rahmen der aktuellen Pandemie ist des Weiteren zu beachten, dass auch eine Präsenzprüfung nicht immer als Alternative gesehen werden kann, wenn dadurch kein „echtes“, wahrhaftiges Wahlrecht ermöglicht wird. So waren Präsenzprüfungen zeitweise aufgrund der geltenden Abstands- und Hygienemaßnahmen nicht, oder nur für einen kleinen Teil, der Prüfungskohorten möglich; hinzu kommen Ein- und Ausreisebeschränkungen, Quarantäneregelungen und das individuelle, möglicherweise gesteigerte Gesundheitsrisiko. Hier bedarf es daher weiterer Alternativen, wie das zeitliche Verschieben von Prüfungen ohne Nachteile im Studienverlauf, um ein Wahlrecht zu gewährleisten.

Das Wahlrecht, das im Datenschutzrecht vor allem aus dem Bereich der Einwilligung bekannt ist, verfolgt im Rahmen der geschaffenen Rechtsgrundlagen einen etwas anderen Zweck. Es dient gerade nicht dazu, eine von der DSGVO vorgesehene freiwillige Einwilligung in die Datenverarbeitung zu ermöglichen – die Möglichkeit einer solchen Freiwilligkeit ist bereits rechtlich umstritten4 –, sondern ist vielmehr Ausfluss der Verhältnismäßigkeit der Rechtsgrundlage selbst. Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten im Rahmen der Fernprüfung erfolgt daher nicht aufgrund einer Einwilligung, sondern bereits aufgrund einer bestehenden Rechtsgrundlage. Die Schaffung einer eigenen Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen in den Landeshochschulgesetzen oder eigenen Verordnung ist gegenüber isolierten Regelungen der Hochschulen aus zwei Gründen vorzuziehen: Einerseits machen die Grundrechtseingriffe und die auf Seiten der Rechtfertigung erforderliche dezidierte Abwägungsentscheidung im Wege der praktischen Konkordanz ein Handeln des parlamentarischen Gesetzgebers notwendig.5 Andererseits ist aus datenschutzrechtlicher Sicht eine Verarbeitung aufgrund einer Rechtsgrundlage (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. e, Abs. 3 DSGVO) gegenüber einer Einwilligungslösung (nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. a DSGV) vorzuziehen.6

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

Der Beitrag stammt aus dem »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«, Heft 2/2021.

 

1) Vgl. Heckmann, Praktische Konkordanz von Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten, in: Heinemann/ Matusiewicz, Rethink Healthcare, 2021, S. 299 ff.

2) S. hierzu auch den Beitrag von Birnbaum in dieser Ausgabe S. 44 ff.

3) Forgó/Graupe/Pfeiffenbring, Rechtliche Aspekte von E-Assessments an Hochschulen, 2016, 34, 36 f.

4) Albrecht/Mc Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 82 f.

5) Heckmann/Rachut in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 21 Rn. 51 f.

6) Heckmann/Rachut (Fn. 5), § 21 Rn. 55 f.

 

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Die Serie: Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen

 

 

 

Prof. Dr. Dirk Heckmann

Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Center for Digital Public Services, TU München und PUBLICUS-Beirat
 

Sarah Rachut

Ass. jur., Center for Digital Public Services, TU München
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