17.06.2022

Nur eine Frage der Toleranz?

Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Wohlverhalten einer Bataillonskommandeurin sorgt für Aufsehen

Nur eine Frage der Toleranz?

Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Wohlverhalten einer Bataillonskommandeurin sorgt für Aufsehen

LBGTQ: Wie korrespondieren Disziplinarrecht und Toleranz für Vorgesetzte in der Bundeswehr? ©Corri Seizinger – stock.adobe.com
LBGTQ: Wie korrespondieren Disziplinarrecht und Toleranz für Vorgesetzte in der Bundeswehr? ©Corri Seizinger – stock.adobe.com

Es ist nicht ungewöhnlich, dass gerade disziplinarrechtliche Entscheidungen zu einem Widerhall in den sozialen Medien führen. Aber mit den in einer Pressemitteilung angedeuteten Entscheidungsgründen zum Beschluss vom 25.5.2022 – 2 WRB 2.21 – zog das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Wohlverhalten einer Bataillonskommandeurin besonderen Unmut auf sich. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, wie die Entscheidungsgründe aus rechtlicher Sicht zu bewerten sind.

Die maßgeblichen Passagen lauten: „Die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verlangt, dass eine Soldatin in der besonders hervorgehobenen dienstlichen Stellung (…) bei der Wahl der verwendeten Worte und Bilder im Internet Rücksicht auf ihre berufliche Stellung nimmt. Sie muss daher Formulierungen vermeiden, die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität erwecken. Die Worte „offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome“ erwecken auch aus der Sicht eines verständigen Betrachters Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität…“

Entscheidung nicht überraschend

Eine vollständige Bewertung der Entscheidung wird warten müssen, bis ihre Gründe vorliegen. Bedenkt man aber die Zwecke des Disziplinarrechts, erscheint die Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt weder überraschend noch falsch.


Was war passiert? Mit einem Verweis ahndete die Bundeswehr die auf einer Datingplattform veröffentlichte Suchanzeige einer Bataillionskommandeurin. Gerade diese Soldatin wurde zuvor in den Medien als Beispiel für gelebte Toleranz und Diversität in der Bundeswehr herausgehoben. Eine breit gestreute Berichterstattung über ihre Person in den letzten Jahren (https://www.tagesschau.de/inland/transgender-bundeswehr-101.html, https://www.dw.com/de/deutschland-transgender-in-der-bundeswehr/av-55907597) sollte zeigen, dass die Bundeswehr längst aufgeschlossen ist für transsexuelle oder queere Lebensweisen. Um so größer ist die Aufregung, wenn die Bundeswehr nun disziplinarische Mittel einsetzt, weil diese Person im privaten Datingprofil ausdrücklich nach Sexpartnern jeden Geschlechts sucht.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht als Maßstab für dieses Verhalten die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht von Soldaten heran. Diese auch für Beamte und Richter geltenden Anforderungen sind verfassungsgerichtlich längst bestätigt, ebenso die sich daraus ergebenden Grenzen, etwa für Meinungsäußerungen.

Auch an eine soldatische Führungskraft werden diese zusätzlichen Anforderungen gestellt. Nach früheren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts müssen sie bei ihren Äußerungen Fehlinterpretationen und Missverständnisse einkalkulieren und deren Rückwirkung auf ihre Integrität und Wirksamkeit als Führungskraft bedenken (siehe Nachweise bei Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht Beamtenstrafrecht, 2.Aufl. 2021, Rn. 965).

Zusätzliche Anforderungen an soldatische Vorgesetzte

Es ergeben sich aus der Stellung als soldatische Vorgesetzte dadurch zusätzliche Anforderungen, die auch in den Bereich der privaten Lebensführung einwirken. So forderte das Bundesverwaltungsgericht erst vor Kurzem, dass für Vorgesetzte bei dienstlichen und außerdienstlichen Äußerungen Beschränkungen wie Achtung der Rechte anderer, Besonnenheit, Toleranz und Sachlichkeit gelten müssen. Diese sind unerlässlich, damit ein Vorgesetzter seine dienstlichen Aufgaben erfüllen und seinen Untergebenen in Haltung und Pflichterfüllung ein Vorbild sein kann. In dem Fall ging es um rechtsradikale Äußerungen in einer Whats-App-Gruppe.

Auch „außerdienstlich“ Vorgesetzte?

Daraus folgt: Vorgesetzte sind auch „außerdienstlich“ Vorgesetzte und nicht völlig privat. Aber kann die gegen außerdienstliche Straftaten und rechtsradikale Äußerungen wirkende außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht auch für die Suchanzeige nach privaten Sexkontakten herangezogen werden? Das Bundesverwaltungsgericht bejaht dies – allerdings nicht wegen der „Wahllosigkeit“ bei den Sexualkontakten.

Nach der Pressemitteilung gesteht das Bundesverwaltungsgericht der Soldatin jedenfalls zu, durch Ausübung ihrer Grundrechte im Bereich der privaten Lebensführung – etwa durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG – ihre sexuelle Selbstbestimmung zu verwirklichen. Dementsprechend habe sie den („falschen“) Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität mit ihrer Suchanzeige gerade nicht vermittelt. Nach mehr als 40 Jahren war auch eine Weiterentwicklung zu erwarten: 1980 hatte das Bundesverwaltungsgericht den einvernehmlichen außerdienstlichen gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt eines Unteroffiziers mit einem anderen Soldaten noch als Verletzung der Wohlverhaltenspflicht gerügt (vgl. 2 WD 80/79).

Das Bundesverwaltungsgericht stellte bei der Datinganzeige nun darauf ab, dass erst ein „verständiger Betrachter Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität“ hegen würde. Die „all genders“ umfassende Einladung zum Sexualkontakt könnte theoretisch doch den Eindruck eines wahllosen Sexuallebens erwecken. Damit ihre charakterliche Integrität nicht leide, hätte die Soldatin „Missverständlichkeiten“ bei ihrer Wortwahl vermeiden müssen. Es geht also um die – vom Gericht wohl als gering eingeschätzte – Toleranz anderer, möglicherweise der SoldatInnen, die der Kommandeurin unterstellt sind.

Auch mit der Betrachtung von „Auswirkungen“ der außerdienstlichen Äußerungen auf den dienstlichen Bereich liegt das Bundesverwaltungsgericht noch auf der Linie seiner bisherigen Argumentation: Ein Soldat müsse sich insbesondere dann in seinem privaten Verhalten mäßigen, wenn ein besonderer Bezug zur Dienstausübung, das heißt zu seinem militärischen Auftrag, zu seinen Kameraden oder zur Bundeswehr bestehe (siehe bereits 2 WD 17.19, 2 WD 4/21). Diesen Bezug sah das Bundesverwaltungsgericht bereits durch die herausgehobene Bekanntheit der Soldatin als gegeben an. Die Pressemitteilung betont, dass die Datinganzeige ein Profilbild mit erkennbaren Gesichtszügen und den tatsächlichen Vornamen enthielt.

Gericht stellt auf „Wirkung“ des außerdienstlichen Verhaltens ab

Weil das Gericht damit maßgeblich auf die „Wirkung“ des außerdienstlichen Verhaltens abstellt, kann man auf die Entscheidungsgründe wirklich gespannt sein: Das Gericht muss dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG Rechnung tragen, das jedwede Äußerung unabhängig davon schützt, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos sind. Dem steht die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht eine einfachgesetzliche Grenze (§ 10 Abs. 6 SG) gegenüber.

Es würde gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit verstoßen, einer Meinungsäußerung eine insgesamt nicht mehr verständliche, verschärfende und damit überzogene Deutung zu geben und sie in dieser Deutung einer disziplinarrechtlichen Würdigung und Ahndung zu unterwerfen. Für die disziplinarrechtliche Würdigung einer Erklärung ist ihr Inhalt objektiv und sachlich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehens, in dem sie gefallen ist, zu ermitteln. Dabei wird sich das Bundesverwaltungsgericht damit auseinandersetzen müssen, dass die Bildanzeige auf der Datingplattform üblich und auch die explizite Ansprache potenzieller Sexpartner jedweden Geschlechts nicht außergewöhnlich ist. Wenn die Soldatin auf diese Weise ihrer sexuellen Selbstbestimmung Ausdruck verleiht, sind die vom Bundesverwaltungsgericht befürchteten „Missverständnisse“ beim verständigen Betrachter abzugrenzen von den Vorbehalten gegen transsexuelle und queere Lebensformen, denen die Bundeswehr mit der Hervorhebung der Soldatin gerade entgegenzutreten versuchte.

Der Streit wird hoffentlich dazu beitragen, die Bereitschaft und Fähigkeit zum Umgang mit Diversität zu steigern, also jedenfalls den „verständigen Betrachter“ toleranter zu machen. Tinder-Profile sollten ausgehalten werden, egal ob von exponierten Trans*- oder „Normalo“-Personen. Die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht gilt aber zu Recht und kraft Gesetzes. Sie schützt den Dienstbetrieb und beugt Konflikten in Führungssituationen vor, die aus Integritätszweifeln herrühren, also aus einer inneren Ablehnung gegenüber der vorgesetzten Person. Wer diese Anforderungen für sich nicht gelten lassen möchte, muss weder Vorgesetzter noch Beamter, Richter oder Soldat bleiben.

 

Der Autor ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Dombert Rechtsanwälte PartmbB sowie Honorarprofessor für Verwaltungsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg und Lehrbeauftragter für Öffentliches Dienstrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Dr. Klaus Herrmann

Prof. Dr. Klaus Herrmann

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Partner der Sozietät Dombert Rechtsanwälte, Potsdam
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