Der nachträgliche Beitritt von Abgeordneten
Antrag auf Auflösung des Thüringer Landtags nach Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ThürVerf
Der nachträgliche Beitritt von Abgeordneten
Antrag auf Auflösung des Thüringer Landtags nach Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ThürVerf
Art. 50 Abs. 2 Sa 1 Nr. 1 Thüringer Verfassung (ThürVerf) sieht vor, dass eine Neuwahl des Thüringer Landtags vorzeitig durchgeführt wird, wenn der Landtag seine Auflösung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder auf Antrag von einem Drittel seiner Mitglieder beschließt.[1]
Mit Blick auf einen solchen Antrag stellt sich die Frage, ob diesem nachträglich weitere Abgeordnete beitreten und ihn damit sachlich unterstützen können. Darüber hinaus ist zu klären, ob Abgeordnete dem Antrag, den sie zunächst unterstützt haben, auch nachträglich wieder ihre Unterstützung entziehen können. Schließlich ist die Frage zu erörtern, welche Konsequenzen es hat, wenn während der Frist des Art. 50 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf sowohl Abgeordnete ihre zunächst bekundete Unterstützung für den Antrag zurückziehen als auch weitere Abgeordnete dem Antrag beitreten.
Parlamentarische Anträge
Das Recht, Anträge zu stellen und in den parlamentarischen Betrieb einzubringen, zählt zu den grundlegenden Rechten der Abgeordneten. Neben dem Rede- und Stimmrecht, dem Frage- und Informationsrecht, dem Recht, sich an den vom Parlament vorzunehmenden Wahlen zu beteiligen, und dem Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen, zählt auch das Recht, parlamentarische Initiativen zu ergreifen, zu den grundlegenden Rechten des einzelnen Abgeordneten. Namentlich die Antragsrechte lassen sich daher als wesentlicher Bestandteil des freien Mandats begreifen.[2]
Der Antrag nach Art. 50 Abs. 2 ThürVerf
Von Bedeutung im vorliegenden Kontext ist, dass sich der Antrag nach Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ThürVerf von sonstigen parlamentarischen Anträgen, die vielfach auf die Einbringung von Gesetzentwürfen gerichtet sind, dadurch unterscheidet, dass er auf die vorzeitige Auflösung des Landtages gerichtet ist. Er weist daher gegenüber anderen Anträgen Besonderheiten auf.
Um einer allzu leichtfertigen Anwendung der Bestimmung entgegenzuwirken, hat der Verfassungsgeber zwei Sicherunginstrumente in die Norm aufgenommen. So muss zum einen der Antrag von einem Drittel der Mitglieder des Landtages beschlossen werden; damit wird sichergestellt, dass sich eine hinreichende Anzahl von Parlamentariern hinter dem Antrag versammelt. Das Quorum ist aus diesem Grund gegenüber einem regulären parlamentarischen Antrag weitaus höher ausgestaltet. Zum anderen formuliert Art. 50 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf eine zeitliche Vorgabe dahingehend, dass über den Antrag frühestens am elften Tag nach Antragstellung abgestimmt werden darf und spätestens am 30. Tag nach der Antragstellung.
Diese beiden Eckpfeiler bieten nach Auffassung des Verfassungsgebers eine hinreichende Gewähr dafür, dass die Entscheidung der Abgeordneten über den Antrag in Ausübung des ihnen zukommenden freien Mandats mit der erforderlichen Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen getroffen wird.
Weitere Einschränkungen hat der Verfassungsgeber im Hinblick auf den Antrag auf Auflösung des Landtags nicht getroffen. Insbesondere hat er keine Bestimmung darüber getroffen, dass das antragstellende Drittel der Abgeordneten von der Antragstellung bis zum Beschluss über den Antrag personenidentisch sein muss, mithin die Abgeordneten, die den Antrag stellen, auch zum Zeitpunkt der Beschlussfassung noch hinter dem Antrag stehen müssen. Erkennbar geht die Bestimmung – wenn man so will: lediglich – von der Antragsidentität aus; Aussagen über die Antragstelleridentität lassen sich der Bestimmung jedenfalls nicht entnehmen.
Der Regelungszweck der Norm: die teleologische Auslegung
Legt man mit Blick auf diese Vorgaben die Bestimmungen des Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 2 ThürVerf aus, so lassen sich weder einer historischen noch der grammatikalischen bzw. wörtlichen Auslegung Hinweise darauf entnehmen, welche weiteren Voraussetzungen an den Antrag gestellt werden müssen.
Auch der systematischen, auf das Verhältnis einzelner Normen zueinander abstellenden Auslegung lässt sich für die hier zu begutachtende Fragestellung nichts entnehmen. Der insoweit maßgebliche Bedeutungszusammenhang ist vorliegend unergiebig.
- Schutz vor vorschneller Entscheidung
Im Gegensatz hierzu lässt die am Normzweck ausgerichtete, nach der ratio legis der Norm fragende, an objektiven Kriterien ausgerichtete, zudem im Vordergrund der Auslegungsmethoden stehende teleologische Auslegung erkennen, dass der Wille der Norm eindeutig von dem Anliegen getragen ist, die Abgeordneten vor einer voreiligen Entscheidung über die Auflösung zu schützen. Die Norm will sicherstellen, dass die Abgeordneten nicht vorschnell eine Entscheidung von so großer Reichweite treffen, ohne sich hinreichend Gedanken über die – weitreichenden – Folgen einer solchen Entscheidung Klarheit verschafft zu haben. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass eine vorzeitige Parlamentsauflösung mit gravierenden Folgen für den einzelnen Abgeordneten verbunden sein kann, worauf auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Parlamentsauflösung durch Bundespräsident Köhler im Jahr 2005 deutlich hingewiesen hat[3]. Auch dies sollen sich die Abgeordneten bei ihrer Entscheidung bewusst machen.
Durch die in der Norm genannte Frist soll mithin eine ruhige und gründliche Abwägung und Abklärung ermöglicht werden[4] und einem Missbrauch des Selbstauflösungsrechts damit ein Riegel vorgeschoben werden. Damit soll zugleich Bedenken, die in der Literatur im Hinblick auf die Erfahrungen unter der Weimarer Reichsverfassung gegen ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments vorgebracht werden, Rechnung getragen werden.[5]
Nicht zu erstaunen vermag es daher, dass die Fristvorgabe auch deutliche Parallelen zu Regelungen im Grundgesetz aufweist. Denn dass Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für das parlamentarische System stets an eine gewisse Überlegungsfrist gekoppelt sind, erschließt der Blick auf die verschiedenen Szenarien, die zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages führen können. Zu nennen sind insoweit insbesondere Art. 67 Abs. 2 GG und Art. 68 Abs. 2 GG sowie Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG.
- Schaffung klarer Verhältnisse
Darüber hinaus geht das Anliegen der Verfassungsbestimmung aber auch dahin, für den Fall, dass ein vernünftiges politisches Arbeiten im Landtag insbesondere aufgrund einer Pattsituation nicht mehr möglich ist, möglichst schnell klare Verhältnisse herbeiführen zu können; dies sei, so wird vorgebracht, einer Konstellation, in der der Landtag womöglich jahrelang handlungsunfähig ist, vorzuziehen.[6]
- Zwischenfazit
Festzuhalten ist daher, dass die teleologische Auslegung von Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 ThürVerf zu dem Ergebnis führt, dass die maßgebliche Intention der Bestimmung darin besteht, eine vorschnelle Entscheidung im Zusammenhang mit der dem Landtag zukommenden Befugnis zu seiner Auflösung zu verhindern und auf diese Weise letztlich eine nicht sachgerechte oder gar missbräuchliche Handhabung dieses dem Landtag zukommenden Gestaltungsinstruments zu verhindern. Weitere Vorgaben lassen sich Art. 50 Abs. 2 ThürVerf nicht entnehmen.
Beitrag entnommen aus den ThürVBl., Heft 3/2022
[1] Ein solcher, auf Auflösung des Thüringer Landtags gerichteter Antrag ging mit Datum vom 30.06.2021 bei der Präsidentin des Thüringer Landtages ein, vgl. LT-Drucks. 7/3660.
[2] Vgl. nur Klein, Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl., 2005, § 51, Rn. 34.
[3] BVerfGE 114, 121/152 ff.
[4] Linck, in: Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 50, Rn. 15.
[5] Näher zu den einschlägigen Argumenten Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2021, Art. 39, Rn. 81 f.
[6] So Dette, in: Linck/Baldus/Lindner/Poppenhäger/Ruffert (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 2013, Art. 50, Rn. 17.