23.06.2022

Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen (2)

Das Dilemma von Hochschulprüfungen – Teil 2

Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen (2)

Das Dilemma von Hochschulprüfungen – Teil 2

War die Umstellung auf digitale Lehre 2020 noch gut zu bewältigen, betrat man mit elektronischen Fernprüfungen jedoch Neuland. © Elena – stock.adobe.com
War die Umstellung auf digitale Lehre 2020 noch gut zu bewältigen, betrat man mit elektronischen Fernprüfungen jedoch Neuland. © Elena – stock.adobe.com

Genau ein Jahr nachdem das erste „Pandemiesemester“ an den deutschen Hochschulen mit zahlreichen Prüfungen, zumeist als Fern- bzw. Online-Prüfungen, endete, geriet die Prüfungspraxis ins Visier der Datenschützer: „Kritik an Spähsoftware: Massive Eingriffe in Freiheit der Studenten“, hieß es in den Schlagzeilen. Ob diese Kritik berechtigt ist, klärt der nachfolgende Beitrag aus dem Blickwinkel der beiden Verfasser der bundesweit ersten Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen (BayFEV).

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – immer und überall

Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt bei elektronischen Fernprüfungen, die selbst ein breites Spektrum von möglichen Prüfungssituationen umfassen, herausragende Bedeutung zu. Nutzt man technische Hilfsmittel – wie einen Computer zur Durchführung von Prüfungen – so erreicht man dadurch nicht nur gewisse Annehmlichkeiten, sondern öffnet zugleich das Tor für weitere Einsatzfelder. Der Einsatz von Technik per se ist dabei weder pauschal als negativ noch positiv zu bewerten. Es erfolgt nicht ein Einsatz nur um der Technik willen, vielmehr ist im Einzelfall zu entscheiden, ob es hierdurch zu Eingriffen in den Rechtskreis kommt, und ob diese gerechtfertigt werden können, oder eben nicht.

Im Zuge der Pandemie haben sich eine Vielzahl von Anbietern für sog. Proctoring- Lösungen aufgetan. Sie versprechen vor allem, Täuschungshandlungen zu verhindern und dadurch die Prüfungen „besser“ oder „sicherer“ zu machen. Einerseits erfolgt dies durch Softwarelösungen, die verhindern sollen, dass die Prüflinge auf unzulässige Inhalte bei der Klausurbearbeitung zugreifen. Andererseits gilt es vor allem durch die Nutzung von Kamera und Mikrofon, eine Aufsicht in der heimischen Umgebung zu ermöglichen. In beiden Bereichen kommt es zu grundrechtlichen Eingriffen (in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), die zunächst auch einen legitimen Zweck, nämlich die Durchführung von chancengerechten Prüfungen, verfolgen. Oftmals werden die eingesetzten Mittel auch geeignet sein, ab der Stufe der Erforderlichkeit wird es jedoch kniffliger. Es zeigt sich schnell, dass bestimmte Maßnahmen, wie das Aufstellen weiterer Kameras, eine Rundumüberwachung, eine dauerhafte Speicherung oder die Auswertung von Verhaltensmustern mittels einer KI schlicht unverhältnismäßig und daher rechtswidrig wären. Hier werden die Unterschiede der verschiedenen Prüfungsformate deutlich. Bei elektronischen Fernprüfungen stehen eben nur bestimmte Aufsichtsmöglichkeiten im Vergleich zu einer Prüfung im Hörsaal bereit. Diese Divergenzen gilt es nicht mit aller (technischen) Gewalt auszugleichen, sondern durch andere, z. B. didaktische Komponenten auszugleichen und den verbleibenden Rest schlicht hinzunehmen.


Weitergehendes Vertrauensprinzip – Anstoß eines Paradigmenwechsels

Wenn es um den Einsatz von Technologien in besonders sensiblen Bereichen geht (man denke ebenso an den Gesundheitssektor), kommt dem Vertrauen der Beteiligten eine Schlüsselrolle für deren Erfolg zu. Für staatliche Hochschulen kommen die Auswirkungen des sogenannten privacy paradox hinzu. Wir neigen im Allgemeinen dazu, bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch öffentliche Stellen deutlich kritischer und zurückhaltender zu sein, als wir dies im Umgang mit unseren Daten bei großen privaten Unternehmen wie Facebook, Amazon oder Google sind. Die Hochschulen sind hier daher besonders gefordert, das notwendige Vertrauen aufzubauen. Denn Vertrauen ist nicht nur notwendig, um elektronische Fernprüfungen erfolgreich durchführen zu können, sondern umgekehrt hätte ein Misstrauen gegenüber diesem Prüfungsformat sicherlich ein Scheitern dieses ambitionierten Projekts zur Folge.

Die Hochschulen müssen dabei nicht nur das Vertrauen der Studierenden gewinnen, sondern ihnen dieses auch im gleichen Maße entgegenbringen. Die Einflussmöglichkeiten der Studierenden und damit auch ihrer Verantwortung für die Prüfungsumgebung hat einen Einflussverlust der Hochschulen zur Folge. Dieses Minus gilt es nun nicht im Wege eines „technischen Aufrüstens“ zu kompensieren, sondern mit einem vertrauensvollen Miteinander auszugleichen. Denn die Studierenden haben sich in der Regel bewusst und aus eigenem Interesse für ein bestimmtes Studienfach entschieden. Es wird dennoch – wie auch bei Präsenzprüfungen – keine hundertprozentige Sicherheit vor Täuschungsversuchen geben. Ein kleiner Anteil an Studierenden wird bestehende Vertrauensräume zum eigenen Vorteil ausnutzen. Doch das Verhalten dieser einzelnen Personen darf nicht dazu führen, dass der Gesamtheit der Studierenden unverhältnismäßige Überwachungsmaßnahmen auferlegt, in ihre Grundrechte weitergehend eingegriffen und das Vertrauensverhältnis zerstört wird. Die elektronische Fernprüfung ist eine Herausforderung für das bestehende Hochschulprüfungswesen, sie kann aber als Sprungbett für einen Paradigmenwechsel dienen. Denn sie bietet nicht nur die Chance für mehr Vertrauen, sondern bietet auch die Gelegenheit zu mehr kompetenzorientierten Prüfungen (die zugleich die Möglichkeiten von täuschungsbereiten Prüflingen drastisch reduzieren).

Ausblick: Die BayFEV als Musterverordnung

Die Verordnung zur Erprobung elektronischer Fernprüfungen an den Hochschulen in Bayern (BayFEV) vom 16. September 20207 ist rückwirkend zum 1. April 2020 in Kraft getreten.8 Sie ist damit bundesweit die erste Rechtsgrundlage für dieses neue Prüfungsformat und hat zugleich Vorbildcharakter: Weitere Bundesländer haben die BayFEV fast wortwörtlich übernommen, in vielen anderen Bundesländern gibt es Rechtsgrundlagen im Hochschulgesetz oder auch auf Satzungsebene der Hochschulen, die in wesentlichen Punkten der BayFEV nachempfunden wurden. Dass man das Regelungsregime in Bayern als ausgewogen und „mustergültig“ ansieht, zeigt auch das kürzlich veröffentlichte IT-Gutachten der Gesellschaft für Freiheitsrechte.9 Es misst insbesondere § 4 Abs. 4 BayFEV die Bedeutung eines (seinerseits verfassungskonformen) „Prüfungsmaßstabs“ zu und prüft dementsprechend die als problematisch ausgemachten Funktionen der Prüfungssoftware an den in dieser Vorschrift aufgestellten Anforderungen. Dabei kommt es zu dem Ergebnis, dass bestimmte Funktionen die Informationssicherheit und Vertraulichkeit beeinträchtigen können und in diesem Fall nicht den Anforderungen genügen, Prüfungen auf dieser Basis somit rechtswidrig machen.

In ähnlicher Weise beklagt der Landesdatenschutzbeauftragte in Baden-Württemberg eine rechtswidrige Prüfungspraxis. Hervorgehoben wird dort etwa die Aufzeichnung der Prüfung oder die Anfertigung von Persönlichkeitsprofilen. Ohne die konkreten Fälle, die solcher Kritik zugrunde liegen, zu kennen und hier zu benennen, fällt jedenfalls eines auf: Offenbar wird eine solche Prüfungspraxis beklagt, die sich nicht an die Vorgaben der BayFEV oder vergleichbarer Regelungen in anderen Bundesländern hält – insbesondere weil nur rudimentäre Regelungen, wie eben in Baden-Württemberg, getroffen wurden. Tatsächlich wurden die Standards der BayFEV mit dem bayerischen Datenschutzbeauftragten im Vorfeld abgestimmt und dies ist auch in die fruchtbare Diskussion mit den Studierenden und der Professorenschaft eingeflossen. Herausgekommen ist ein Ergebnis, das von allen Seiten als fair bezeichnet wurde, in dem nicht jegliche Kontrolltechnik zum Zuge kam, nur um auch den letzten Täuschungsversuch noch aufzudecken. Das Grundprinzip „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“10 kennzeichnet letztlich auch den Paradigmenwechsel, den sich Hochschulen zu eigen machen sollten: Je fairer, transparenter und didaktisch besser Lehre und Prüfungen verlaufen, je weniger Kontrollbedürfnis man überhaupt erst schafft, umso weniger Anlass sehen verführbare Prüflinge, vermeintliche Ungerechtigkeiten durch Täuschungshandlungen ausgleichen zu müssen. Redliche Prüflinge müssten ohnehin überhaupt nicht kontrolliert werden, die unverbesserlich rücksichtslosen mögen täuschend durch die Prüfung(en) kommen – ihr Leben meistern sie damit noch lange nicht (oder – wie Frank William Abagnale Junior – zu einem sehr hohen Preis).

 

Der Beitrag stammt aus dem »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«, Heft 2/2021.

 

7) GVBl. Bayern, S. 570.

8) Zur Zulässigkeit dieser Rückwirkung vgl. Heckmann/ Rachut (Fn. 5), § 21 Rn. 53.

9) https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/ uploads/2021/07/GFF_IT-Gutachten_Proctoring- Spaehsoftware-gegen-Studierende.pdf abgerufen am 23.07.21.

10) Heckmann/Rachut, COVuR 2021, 194.

 

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Die Serie: Elektronische Fernprüfungen: eine Frage von Fairness und Vertrauen

 

 

 

Prof. Dr. Dirk Heckmann

Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Center for Digital Public Services, TU München und PUBLICUS-Beirat
 

Sarah Rachut

Ass. jur., Center for Digital Public Services, TU München
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