Sorgerechtsentziehung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20
Sorgerechtsentziehung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Entzug wesentlicher Teile des Sorgerechts wegen des Verdachts erheblicher Körperverletzungen zum Nachteil des betroffenen Kindes im elterlichen Haushalt.
Sachverhalt
Der betroffene Säugling hatte wenige Wochen nach der Geburt einen Oberschenkelbruch und Hämatome erlitten, die nach Ansicht medizinischer Gutachter Folge einer massiven gewaltsamen Beinverdrehung sind. Wenig später stellten die Ärzte Veränderungen am Schädel fest, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Schütteltrauma zurückzuführen sind.
Das Familiengericht entzog den Eltern auf Antrag des Jugendamts das Sorgerecht und brachte das Kind in einer Pflegefamilie unter. Das Oberlandesgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
GG – Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Art. 6 Abs. 2 Satz 1, 2, Abs. 3 BGB – §§ 1666, 1666a
Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird.
Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20 – Verlags-Archiv Nr. 2023-03-01)
Aus den Gründen
Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern nachhaltig gefährdet wäre. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind dabei zu berücksichtigen und diese Folgen müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, sodass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert.
Dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann der verfassungsrechtliche Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz durch den Staat gegenüberstehen, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Ist das Kindeswohl nachhaltig gefährdet, kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten.
Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die ein oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder.
Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Ob etwa Psychologen als Sachverständige hinzuzuziehen sind, um die für die Prognose notwendigen Erkenntnisse zu erlangen, muss das erkennende Gericht im Lichte seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen.
Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird.
Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Oberlandesgericht eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung durch mögliche zukünftige Misshandlungen oder erhebliche körperliche Verletzungen des Kindes festgestellt hat, obwohl es keine konkreteren Feststellungen zu den einzelnen Verletzungshandlungen oder Versäumnissen der Beschwerdeführenden als die erfolgten treffen konnte. Wegen des auf beanstandungsfrei gewonnener tatsächlicher Grundlage prognostizierten schweren gesundheitlichen Schadens für das Kind ist der Schluss aus den festgestellten Tatsachen darauf, dass bei der Betreuung durch die Beschwerdeführenden mit ziemlicher Sicherheit mit weiteren ähnlichen Verletzungen des Kindes zu rechnen ist, verfassungsrechtlich unbedenklich.
Bei beiden Verletzungen handelt es sich um erhebliche Verletzungen, letztere ist potenziell lebensbedrohlich. Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden sind verfassungsrechtlich keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und auch keine weitergehende Konkretisierung möglicher Verletzungshandlungen geboten.
Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 3/2023, Lz. 103.