18.05.2023

Pragmatische Digitalisierung bei der E-Akte

Zusammenhang von Zielen und Zweckmäßigkeit (Teil 1)

Pragmatische Digitalisierung bei der E-Akte

Zusammenhang von Zielen und Zweckmäßigkeit (Teil 1)

Ein Aktenplan ist stets ein kunstvoll geschaffenes Ordnungssystem. | © irina - stock.adobe.com
Ein Aktenplan ist stets ein kunstvoll geschaffenes Ordnungssystem. | © irina - stock.adobe.com

Der Begriff „Digitalisierung“ kommt mitunter mit einem sehr idealistischen, manchmal sogar ideologischen Anspruch daher: Digitalisierung erscheint als umfassender Heilsbringer in einer Welt mit immer unüberschaubareren Vernetzungen und Regelungsbedarfen. Anhand von vier Beispielen im Zusammenhang mit der Einführung der E-Akte soll gezeigt werden, dass sich auch bei der Digitalisierung die Frage nach dem Sinnvollen und zuverlässig Machbaren stellt. Wer die Frage stellt, gewinnt Steuerungsmöglichkeiten zur Beschleunigung der Einführung digitaler Verfahren. Der Begriff „pragmatische Digitalisierung“ versucht, Digitalisierung in den Zusammenhang von Zielen und Zweckmäßigkeit zu stellen.

Wie würden Sie für die E-Akte werben? Vielleicht so: Gehen Sie unter in der E-Mail-Flut? Ersticken Sie unter dem Papierberg auf Ihrem Schreibtisch? Schleppen Sie noch Leitz-Ordner ins Homeoffice? Für die bildlich aufgeworfenen Probleme gibt es eine einfache Antwort: Ja, wir können E-Akte. Zu den drei Punkten bietet, Stand heute, nahezu jedes Dokumentenmanagementsystem Lösungen. Warum dauert die Einführung der E-Akte in der öffentlichen Verwaltung dann so lange? Die Antwort ist simpel: Weil sich kaum eine Verwaltung auf Lösungen für die drei aufgeworfenen Fragen beschränkt. Denn vor der Einführung von E-Akten werden häufig erst einmal Wünsche gesammelt.

Eine qualitative Kurzbefragung zeigte im Landratsamt Tübingen, dass die E-Akte in denjenigen Organisationseinheiten erfolgreich eingeführt werden konnte, die sich am jeweils Machbaren orientierten. Sie verzichteten auf Wünschbarkeiten, wie sie sehr häufig mit E-Akten-Projekten einhergehen. So verlangten sie zunächst keine unmittelbare Schnittstelle zu vorhandenen Fachanwendungen. Auf das Einscannen vorhergehender Papierakten verzichteten sie. Die Dateien ihrer Explorer-Ablagen, die frühere Dokumente enthalten, verteilten sie zunächst nicht auf neue E-Akten. Sie machten in beiden Fällen einen Zeitschnitt zwischen führender Papierakte und führender E-Akte. Einerseits ersetzte der Zeitschnitt eine aufwändige Retrodigitalisierung. Andererseits genügte ihnen ein lesender Zugriff auf frühere Explorer-Ablagen, sodass sie in einer Übergangszeit bei Bedarf auf einzelne Dokumente zugreifen und diese in E-Akten überführen können. Schließlich machten diejenigen Organisationseinheiten, die gleich ganze Verwaltungsprozesse in der E-Akte mit abgebildet haben wollten, keine guten Erfahrungen mit dieser Anforderung. Der Leiter der betroffenen Organisationseinheit identifizierte diese Anforderung im Nachhinein als Irrweg.


Mit diesen Beispielen ist ein Katalog von Wünschbarkeiten erstellt, die häufig bei der Einführung von E-Akten auf der Tagesordnung stehen. Dahinter steht eine Methode, alles Denkbare zu sammeln und eine Lösung für alles auf einmal zu erarbeiten und Digitalisierung so groß wie möglich zu denken. Oft führen derartige Anforderungen in der Praxis zu deutlichen Verzögerungen bei der Einführung von E-Akten und anderen digitalen Instrumenten. Geschwindigkeit stirbt mit Komplexität. Vor dem Hintergrund dieser Befunde sollen im Folgenden Steuerungspotenziale bei der Digitalisierung durch pragmatische Vorgehensweisen identifiziert und zur Diskussion gestellt werden.

E-Akte: Prozessabbild oder Prozessdurchführung?

In der öffentlichen Verwaltung gibt es unterschiedliche Vorstellungen von dem, was als ‚E-Akte‘ zu bezeichnen ist. Der Begriff ‚Akte‘ und was dahinter steckt ist demgegenüber in der Papierwelt klarer: Das Bundesverfassungsgericht stellt deren Dokumentationsfunktion in den Vordergrund. Im Kern geht es darum, dass Verwaltungen ein institutionelles Gedächtnis brauchen. Ihnen genügen die Gedächtnisse einzelner lebender Mitarbeitender nicht, weil die institutionellen Gedächtnisse über Jahrzehnte hinweg präzise funktionieren müssen. Verwaltungen brauchen auch dann Erinnerungen, wenn Personal wechselt oder wenn Menschen Dinge vergessen. Verwaltungen gewinnen ihre dauerhafteren Gedächtnisse durch Verschriftlichung: Ihre Mitarbeitenden schreiben auf, wie sie Anträge behandelt und ihren Ermessensspielraum ausgeübt haben. Ihre Aufschriebe legen sie geordnet in Akten ab. Darin können Nachfolger/-innen nachlesen und auf dieser Informationsgrundlage einen Fall, der vor ihrer Zeit begann, übernehmen und weiterführen oder einen Jahrzehnte alten Fall mit einem aktuellen Fall vergleichen. Diese aktenmäßige Dokumentation hat geradezu verfassungsmäßigen Wert, jedenfalls wenn man den Urteilen der obersten Rechtsprechung folgt. Denn die Akte als Träger des institutionellen Gedächtnisses ermöglicht, dass Verwaltungen nicht willkürlich handeln, sondern Fälle selbst dann kontinuierlich weiterbetreiben, wenn Mitarbeitende wechseln. Sie stellt zudem sicher, dass Verwaltungen Antragsteller/-innen gleichbehandeln, selbst wenn sie zum Vergleich Fälle heranziehen müssen, die Vorgänger/-innen Jahrzehnte früher entschieden haben. Die schriftliche Dokumentation ermöglicht es im Anschluss Betroffenen und Untersuchungsbehörden, ihre Rechte gegenüber der Verwaltung wahrzunehmen. Wenn sie beispielsweise anzweifeln, dass eine Behörde ihr Ermessen richtig ausgeübt hat, können sie in den Akten nachlesen, wie die Behörde vorgegangen ist und ihren Ermessensspielraum wahrgenommen hat. Im Streitfall lassen sich Verwaltungsgerichte immer die Akten vorlegen. Akten ermöglichen also rechtsstaatliches Handeln. Die Dokumentation des Verwaltungshandelns für das institutionelle Gedächtnis ist deshalb ein eigener und vorrangiger Zweck der Aktenführung.

Weil Akten deshalb große Bedeutung haben, müssen sie bestimmten Anforderungen genügen. Das Bundesverfassungsgericht hat sinngemäß formuliert, dass Verwaltungen in ihren Akten den „Geschehensverlauf“ bei einem Verwaltungsvorgang abbilden sollen. Insofern enthält die Akte Dokumente eines Verwaltungsvorgangs in derjenigen zeitlich geordneten Abfolge, in der sie entstanden sind. Außerdem sollen alle aktenrelevanten Schriftstücke in der Akte abgelegt sein. Überträgt man dies auf die elektronische Welt, dann ist die E-Akte eine zeitlich geordnete Abfolge elektronischer Dokumente, die bei einem Verwaltungsvorgang entstehen. Auch der Zweck der E-Akte ist zunächst die Dokumentation des Verwaltungshandelns. Wir können, Stand heute, jede Papierakte als E-Akte abbilden. Die bisherigen Aktendeckel ersetzt bei der E-Akte ein Set von Metadaten, das einen elektronischen Container definiert und in eine Anwendung einfügt. Die Zuordnung von E-Mails, Office-Dokumenten oder Scans zu den elektronischen Containern ersetzt das frühere Lochen und Abheften einzelner Dokumente. Der große Vorteil von E-Akten ist, dass wir elektronisch erzeugte Kommunikation weitgehend medienbruchfrei in sie aufnehmen und in ihnen nutzen können. Das sind derzeit insbesondere und vor allem E-Mails, dann auch Office-Dokumente oder Scans und andere elektronische Abbildungen. Die Zusammenstellung und Verfügbarmachung dieser elektronischen Dokumente in einem elektronischen Container ermöglicht in vielen Fällen bereits Homeoffice und mobiles Arbeiten ohne Leitz-Ordner und die problemlose Ablage von E-Mails.

Auf den ersten Blick erscheint es charmant, den Dokumentationszweck bei der Einführung von E-Akten mit weitergehenden digitalen Funktionen des Verwaltungshandelns zu verbinden. Dabei folgen Verwaltungen gerne dem Prinzip ‚Einmal anfassen, alles erledigen‘. Deshalb sammeln öffentliche Verwaltungen häufig erst einmal alles Wünschbare, was man mit dem Instrument E-Akte machen könnte. Aus diesem Grund rückt bei der Einführung von E-Akten in die öffentliche Verwaltung häufig die Prozessdurchführung neben die Dokumentation. Oder sie drängt sich in den Vordergrund. Mit der „Digitalen Bauakte“ meinen manche vor allem Prozesse wie Bauantrag und Baugenehmigung, die innerhalb der E-Akte stattfinden sollen. Die Dokumente, die bei diesem Prozess entstehen, werden dann – sozusagen als Nebeneffekt – aktenmäßig abgelegt. Solche Synergien wären absolut zu begrüßen. Derartige Wünschbarkeiten sind aber selten „von der Stange“ zu bekommen. Man braucht „Schnittstellen“ zwischen dem Dokumentenmanagementsystem und der Anwendung, in der der Prozess des Bauverfahrens durchgeführt wird. Diese Schnittstellen denken wir meist als hoch entwickelt, sie sollen automatisch funktionieren. Gut, wenn es welche gibt. Wenn es keine gibt, sind insbesondere kleinere Verwaltungen rasch überfordert, auch finanziell. Denn sie müssten eine solche Schnittstelle selbst entwickeln und auf eigene Kosten programmieren lassen. Sobald etwas nicht „von der Stange“ genommen werden kann, empfiehlt sich deshalb eine deutliche Trennung der Zwecke Dokumentation und Prozessdurchführung bei der Einführung von E-Akten. In dem Augenblick, in dem man seine Ansprüche bei der E-Akten-Einführung auf den Zweck Prozessabbild beschränkt, gewinnt man Geschwindigkeit. Steht die Prozessdurchführung im Vordergrund, wird die E-Akten-Einführung womöglich wesentlich komplexer und erfahrungsgemäß langsamer. Es empfiehlt sich, das Thema Schnittstelle in diesem Zusammenhang mit größerer Distanz zu betrachten.

Entwicklungsstufen von Schnittstellen

Wer den Begriff ‚Schnittstelle‘ offen betrachtet, findet Schnittstellen unterschiedlicher Entwicklungsstufen. Etwas antiquiert wirkt als Entwicklungsstufe 1 der Ausdruck von Bescheiden aus dem Fachverfahren auf Papier und das nachgehende Einscannen des Papierdokuments für die E-Akte. Das Fachverfahren braucht dann lediglich eine Druckfunktion für einzelne Prozessschritte und insbesondere für Bescheide. Die Druckfunktion ist bei vielen Fachverfahren die Schnittstelle in die analoge Akte. Wer den Ausdruck anschließend einscannt, bekommt ihn auch so in die zugehörige E-Akte. Immerhin würde auch dieses umständliche Modell dazu führen, dass vollständige elektronische Akten entstehen. Schon komfortabler ist Entwicklungsstufe 2. Dabei werden aus dem Fachverfahren keine Bescheide mehr auf Papier gedruckt, sondern werden als PDF ausgegeben. Das erfordert lediglich die Auswahl eines anderen Druckertreibers. Das als PDF erzeugte Dokument muss im Folgenden nicht erst auf Papier ausgedruckt werden. Ob die Sachbearbeitung dann in Entwicklungsstufe 2a das PDF-Dokument manuell in die E-Akte ziehen muss oder ob dies in Entwicklungsstufe 2b automatisch erfolgt, ist eine graduelle Verbesserung. Vollständig eingebundene Fachverfahren würden in Entwicklungsstufe 3 ermöglichen, direkt aus der E-Akte heraus Prozesse im Fachverfahren anzustoßen und diese Prozesse dann gleichzeitig automatisch in der E-Akte abzubilden. Während Entwicklungsstufe 1 jederzeit machbar ist, bedeutet Entwicklungsstufe 2a nur den Austausch der jeweiligen Druckereinstellung. Das führt bei geringem Mehraufwand zu deutlich besserer Nutzbarkeit. Entwicklungsstufe 2b erfordert bereits eine aufwendigere Schnittstellenentwicklung, weil das Dokumentenmanagementsystem und mindestens eine Fachanwendung sich über ein oder mehrere gemeinsame Merkmale des jeweiligen Datensatzes abgleichen müssen. Entwicklungsstufe 3 zieht erfahrungsgemäß einen zeitaufwendigen Planungs-, Abstimmung- und Programmieraufwand nach sich, da sich das Dokumentenmanagementsystem und die Fachanwendung in mehrfacher Hinsicht ineinander integrieren müssen.

Hinsichtlich des Dokumentationszwecks ist gleichgültig, wie die elektronischen Dokumente in die E-Akte gelangen. Ergebnis von Entwicklungsstufe 1 bis 3 ist jeweils, dass die E-Akte den Geschehensverlauf des Verfahrens komplett dokumentiert. Innerhalb einer E-Akte kann das Niveau der Schnittstelle gegebenenfalls im Laufe der Zeit von Entwicklungsstufe 1 bis Entwicklungsstufe 3 gesteigert werden, sobald die entsprechenden Instrumente zur Verfügung stehen. Diese pragmatische Herangehensweise bringt einen riesigen Vorteil: Verwaltungen können die Qualität der Schnittstelle gelassener entwickeln und verzögern deshalb nicht die Einführung und Nutzung der E-Akte im Verwaltungsalltag. Ihre Vorteile entfaltet die E-Akte bereits in Entwicklungsstufe 1: Die E-Akte nimmt E-Mails auf, ermöglicht papierloses Arbeiten, mobiles Arbeiten oder Arbeiten im Homeoffice ohne Papierakten. Die pragmatische Digitalisierung bringt in diesem Fall einen anderen großen Vorteil: Bereits mit der E-Akte der Entwicklungsstufe 1 ist das Ziel jeder weiteren Schnittstellenentwicklung vordefiniert. Dieses Ziel ist das aktenführende Dokumentenmanagementsystem. Es enthält die Felder, mit denen eine Fachanwendung in der Entwicklungsstufe 3 korrespondieren muss, und deren Definitionen. Die Entwicklung von Schnittstellen der Entwicklungsstufe 1 zu solchen der Entwicklungsstufe 3 kann dann auch so erfolgen, dass bei künftigen Ausschreibungen von Fachanwendungen die Schnittstellenanforderung mit aufgenommen wird. Dabei ist nach wie vor das Ziel eine landesweit definierte Schnittstellenanforderung und gebündelte Ausschreibung, wie sie beispielsweise der Landkreistag Baden-Württemberg in Form seiner Digitalen Landkreiskonvois entwickelt hat.

Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Sannwald

Projektleiter des Kommunalen Aktenplans 21 Baden-Württemberg
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