26.05.2023

Pragmatische Digitalisierung bei der E-Akte

Zusammenhang von Zielen und Zweckmäßigkeit (Teil 2)

Pragmatische Digitalisierung bei der E-Akte

Zusammenhang von Zielen und Zweckmäßigkeit (Teil 2)

Ein Aktenplan ist stets ein kunstvoll geschaffenes Ordnungssystem. | © irina - stock.adobe.com
Ein Aktenplan ist stets ein kunstvoll geschaffenes Ordnungssystem. | © irina - stock.adobe.com

Die Fortsetzung des 1. Teils befasst sich mit weiteren Beispielen, mit denen die Digitalisierung von Papierakten vollzogen und die E-Akte eingeführt werden kann.

Pragmatische Scanprozesse

Pragmatismus ist auch bei der Digitalisierung vorhandener Papierakten geboten. Wie und mit welchen Anforderungen scannen öffentliche Verwaltungen Papierdokumente für die E-Akten? Das ist ein absolut wichtiges Thema auf dem Weg zur Umstellung öffentlicher Verwaltungen auf elektronische Akten, das oft auch Verzögerungen bei der Einführung der E-Akte nach sich zieht. Viele Verwaltungen orientieren sich dabei an der Technischen Richtlinie TR-03138 Ersetzendes Scannen (RESISCAN) der Bundesanstalt für Sicherheit in der Informationstechnik. Weil es diese Richtlinie gibt, denken viele Verwaltungen, sie müssten ersetzend Scannen. Ersetzend Scannen meint: Vom Akteninhalt der Papierakte bleibt nur das digitale Abbild übrig, vom Papier selbst nur Papierfasern in Recyclingprodukten. Das klingt einfach, wenn man das zum ersten Mal hört.

Das Scannen von Akteninhalten wird dadurch kompliziert, dass der Beweiswert der Akteninhalte gesichert werden muss. Die TR verlangt deshalb vor dem Scannen eine Analyse des Schutzbedarfs der digitalisierten Papierdokumente. Einzelnen Dokumenten werden dabei „Schutzklassen“ zugeordnet. Die Schutzklassen sollen sicherstellen, dass das digitale Abbild dieselbe Beweiskraft hat wie das vernichtete Papier. Je nach erkanntem Schutzbedarf müssen einzelne Papierdokumente beim Scannen nach unterschiedlichem Standard behandelt werden. Wer ersetzend scannt, muss bei jedem einzelnen Dokument fragen: Kann ich dieses Papierdokument ohne größeren Aufwand scannen und das Original anschließend vernichten? Oder hat das Papier eine so hohe Rechtsqualität und damit Schutzklasse, dass der Scan zusätzlich eine digitale Signatur benötigt? Oder kommt dem Dokument gar so eine überragende Bedeutung zu, dass ich das Papieroriginal zusätzlich zum Digitalisat aufbewahren muss?


Das Verfahren klingt vordergründig nachvollziehbar, hat aber kostenintensive und zeitintensive Folgen. Grundvoraussetzung sind bereits hohe organisatorische und technische Anforderungen an die Scanstelle selbst. Diese Anforderungen sind bei Einzelplatzscannern kaum zu erfüllen, sodass viele Verwaltungen zentrale Scanstellen einrichten. Die entscheidende Frage heißt dann aber: Wer sortiert die Schutzklassen beim Scanprozess? Wer an einer zentralen Posteingangsstelle sortiert, benötigt eine hohe Qualifikation in allen Aufgabenbereichen der Kommunalverwaltung, da er die Schutzklasse für unterschiedlichste Aufgabenbereiche analysieren muss und das innerhalb kürzester Zeit. Diese Selektion muss sodann nicht nur den Scans, sondern auch den Papierdokumenten zugeordnet werden, damit die eigene Scanstelle oder der Scan-Dienstleister das Scangut entsprechend behandeln kann.

Im Folgenden stelle ich einen Fall der Retrodigitalisierung von 36 laufenden Metern Papierakten in einem baden-württembergischen Landratsamt vor. Dabei ergab die Schutzklassenanalyse, dass jede Akte Dokumente unterschiedlicher Schutzklassen enthielt. Das führte dazu, dass für den Dienstleister in jeder Akte diejenigen Dokumente kenntlich gemacht werden sollten, die er im Original zurückgeben oder für die digitale Signatur separat behandeln musste. Der Dienstleister bot seine Dienstleistung für die differenzierte Behandlung des Schriftguts für mehr als 12.000 Euro an. Dieser Betrag enthielt wohlgemerkt nicht die Kosten für die Vorselektierung und Kenntlichmachung der Dokumente mit kritischen Schutzklassen in den Papierakten. Das hätte die eigene Verwaltung mit eigenem Personal vorweg erledigen müssen, da die Schutzklassen-Zuordnung nicht an das Personal des Dienstleisters übertragen werden konnte.

Wie sähe die pragmatische Alternative aus? Das Ziel bleibt: Die Papierakten einscannen und für die elektronische und mobile Arbeit nutzbar machen. Das leistet auch beim pragmatischen Scannen der Scanprozess. Zusätzlich wird aber die Voraussetzung des ersetzenden Scannens infrage gestellt: Ersetzendes Scannen bedeutet TR ResiScan, bedeutet Schutzklassen. Wer sagt denn, dass die Papierakten ersetzend gescannt werden müssen? Nur das ersetzende Scannen zieht den dargestellten Aufwand der Schutzklassenanalyse nach sich. Wer Papier nicht ersetzend scannt, benötigt die Schutzklassenanalyse und möglicherweise auch andere Anforderungen der TR ResiScan nicht. Das Landratsamt hat geprüft, die eingescannten Papierakten nicht zeitnah zu vernichten, sondern sie nach dem Scannen auf Paletten zu packen und einzulagern. Eine Palette hat eine Grundfläche von 0,96 Quadratmetern. Normalerweise werden Paletten bis zu 1,8 Meter hoch gepackt. Die 36 laufenden Meter Registraturgut füllen etwa zwei Paletten. Nach derzeitigen Preisen ist bei zehnjähriger Einlagerung von vielleicht 1000 Euro je Palette Lagerkosten auszugehen. Demnach stünden Lagerkosten von 2000 Euro alleine selektionsbedingte Kosten beim Scandienstleister von mindestens 12.000 Euro und ein erheblicher verwaltungsinterner Vorbereitungsaufwand gegenüber. Der Erhalt der Papierakten ersetzt in diesem Fall die aufwändige Selektion nach Schutzklassen. Nach zehn Jahren wären die eingelagerten Bestände auszusondern oder nachzubewerten. Die Vorteile dieser Vorgehensweise addieren sich: Zu der deutlichen Kostenersparnis kommt ein deutlich reduzierter Vorbereitungsaufwand in der eigenen Verwaltung. Gleichzeitig wird die Durchführung des Scanprozesses offener, weil auch Scanlösungen an Einzelplatzscannern wieder ins Kalkül gezogen werden können. Den Beweiswert sichert im Zweifelsfall das Papieroriginal, das notfalls – mit Gabelstapler – aus dem Palettenlager gezogen werden muss. Es ist zu überdenken, welchem Rechtsbereich solche Lager am besten zugeordnet werden sollten. Handelt es sich um ein Depot der Registratur, gilt allgemeines Verwaltungsrecht. Handelt es sich um ein Zwischenarchiv, in dem die Unterlagen bis zur archivischen Bewertung gelagert sind, gilt Archivrecht. Letzteres könnte Vorteile haben.

Pragmatische Aussonderungsschnittstelle

Was für das Scannen gilt, trifft auch auf das Aussondern zu. Es empfiehlt sich, über die elektronischen Systeme hinauszudenken. Mit Aussondern ist der einzig legitime Prozess gemeint, durch den Verwaltungen ihre nicht mehr benötigten Akten wieder loswerden können. Manche Gesetze geben sogar Fristen vor, innerhalb derer bestimmte Unterlagen „gelöscht“ werden müssen. Dabei ist mit „Löschen“ ebenfalls der Aussonderungsprozess gemeint. Wenn Verwaltungen E-Akten einführen, müssen sie deshalb das Aussondern gleich mit ermöglichen. Der Aussonderungsprozess beginnt damit, dass eine Akte geschlossen wird. Dann muss die Organisationseinheit, der diese Akte gehört („aktenführende Stelle“), erklären, ob sie die Akte noch benötigt oder wie lange die Akte aus rechtlichen Gründen aufbewahrt werden muss („Aufbewahrungsfrist“). Wird die Akte nicht mehr benötigt und unterliegt sie keiner Aufbewahrungsfrist, wird sie vom Archiv bewertet. Damit ist sicherstellt, dass eine Verwaltung ihre Akten nur nach dem Vieraugenprinzip unter Einbeziehung einer fachneutralen Stelle vernichtet. Die oberste Rechtsprechung verhandelt diesen Prozess deshalb auch unter dem Vorzeichen der Korruptionsprävention. Das Archiv entscheidet dann abschließend, welche (wenigen) Akten es dauerhaft ins Archiv übernimmt und welche vernichtet werden müssen.

In fortgeschrittene Dokumentenmanagementsysteme ist die Aussonderung durch Felder und programmierte Prozesse eingebaut. Oft fehlen aber solche „Aussonderungsschnittstellen“. Manche Organisationseinheiten erleben Jahrzehnte nach Einführung eines elektronischen aktenführenden Systems, dass solche Features fehlen und sie sich deshalb nicht datenschutzkonform verhalten können. Denn der Datenschutz schreibt für manche Verfahren das Löschen nach bestimmten Fristen explizit vor. Das aktenführende System muss mindestens Felder mit dem Status und Ablaufdatum einer E-Akte enthalten. Alles andere kann wieder in Entwicklungsstufen implementiert werden. Bei elektronischen aktenführenden Systemen existiert als Entwicklungsstufe 1, sozusagen als „Steinzeitlösung“ für die Aussonderung, wiederum die Druckschnittstelle. Der Aussonderungsprozess kann so gestaltet sein, dass ein E-Akten-führendes System jede auszusondernde Akte als mehrseitiges PDF ausgibt und gleichzeitig eine Liste mit einer Aufstellung der auszusondernden Akten erstellt. Dann muss die aktenführende Stelle anhand der ausgedruckten Liste prüfen, ob sie die jeweilige Akte noch benötigt und ob für diese noch Aufbewahrungsfristen gelten. Das Archiv kann seine Bewertung anschließend ebenfalls auf der Papierliste eintragen. Entwicklungsstufe 2 bedeutet bei der Aktenaussonderung, dass der Aussonderungsprozess durch Klicks der beteiligten Stellen direkt im System durchgeführt wird. Entwicklungsstufe 3 wären für manche Aufgabenbereiche automatisierte Aussonderungs-Prozesse aufgrund hinterlegter Bewertungsrichtlinien.

Über die Anwendungen hinausdenken

Pragmatische Digitalisierung meint also bei der E-Akte, dass Verwaltungen über die einzelnen Fachanwendungen hinausdenken sollten. Das gilt auch in strategischer Hinsicht. Wer sich für ein DMS entscheidet, muss so souverän bleiben, dass er seinen Anbieter und dessen System mit begrenztem Aufwand wechseln kann. Diese Perspektive hat Auswirkungen auf die Inhalte des DMS. Ein DMS bildet mindestens viererlei ab: 1. Das DMS besteht aus einer technischen Struktur für die Aufnahme der Daten und aus programmierten Prozessen für deren Verarbeitung. 2. Das DMS enthält ein Inventar der erfassten Akten. Wer nämlich eine E-Akte neu anlegt, trägt zunächst Informationen über die Akte wie Aktentitel oder Laufzeitbeginn in Felder ein. Das System legt diese Beschreibungen dann in einer Datenbank ab und vergibt eine eindeutige Nummer für diese E-Akte. Das ist im Kern nichts anderes als ein Eintrag in ein Akteninventarverzeichnis. 3. Im DMS ist eine menschlich-logische Ordnungsstruktur hinterlegt, in die die E-Akte einsortiert werden muss. Die Ordnungsstruktur ist der Kommunale Aktenplan 21. Indem das Verwaltungspersonal die E-Akte in dieses System einordnet, erhält die Akte als Ordnungsmerkmal ein Aktenzeichen. Die hinterlegte Ordnungsstruktur ermöglicht, dass Akten jenseits zufälliger Begriffssuchetreffer strukturiert abgelegt und strukturiert sowie zuverlässig gefunden werden können. 4. Das DMS ordnet elektronische Dokumente, etwa Office-Dokumente, Bilddateien oder PDFs einzelnen E-Akten zu.

Offen für einen Anbieterwechsel bleibt diejenige Verwaltung, die lediglich Punkt 1 dem Belieben eines Anbieters überlässt, also die grundlegenden technischen Funktionalitäten. Ab Punkt 2 sollten alle Strukturen und Inhalte des DMS nach den Maßgaben der Schriftgutorganisation definiert werden. Gerade Punkt 2, denn das Aktenverzeichnis ist anfällig für Fehlgestaltung. DMS-Anbieter neigen dazu, ihren Kunden als eindeutigen Identifikator jeder Akte Zeichencodes anzubieten, die ihr System nach einem eigenen inneren Algorithmus erzeugt. Das sind in der Praxis häufig vielstellige Mischungen aus Buchstaben, Zahlen und weiteren Zeichen, die für den Menschen nicht mehr gut unterscheidbar sind. Diese Zeichenketten sind auch bei Systemwechseln von einem neuen System nicht unbedingt logisch nachbildbar, da sie proprietär generiert sind. Wesentlich offener ist da die klassische Akteninventarnummer. Diese ist eine Ziffernfolge, die bei 1 beginnt und fortlaufend hochgezählt wird. Das Aktenverzeichnis hat einen eigenen Stellenwert. Es dokumentiert, welche elektronischen Akten unsere Verwaltung angelegt hat und überhaupt besitzt. Jedes Mal, wenn jemand eine neue E-Akte anlegt und dafür einen Aktentitel in das vorgesehene Metadatenfeld einträgt, erfasst das System dies in seinem internen Aktenverzeichnis. Damit wird elegant und ohne Mehraufwand die Anforderung des Bundesverfassungsgerichts nach Vollständigkeit des Aktenbestands erfüllt und gleichzeitig dokumentiert.

 

Prof. Dr. Wolfgang Sannwald

Projektleiter des Kommunalen Aktenplans 21 Baden-Württemberg
n/a