Schönenbroicher: „Das Grundgesetz gewährleistet die Freiheitlichkeit des Lebens in Deutschland“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 11
Schönenbroicher: „Das Grundgesetz gewährleistet die Freiheitlichkeit des Lebens in Deutschland“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 11

Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Mit dieser PUBLICUS-Interviewreihe zum Jubiläum haben wir renommierte Juristen befragt und ein Stimmungsbild zur deutschen Verfassung eingeholt.
Folge 11: Prof. Dr. Klaus Schönenbroicher, Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
PUBLICUS: Das Grundgesetz sei eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik, sagten 86 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage vor fünf Jahren. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese positive Rezeption?
Schönenbroicher: Das Grundgesetz gewährleistet die Freiheitlichkeit des Lebens in Deutschland. Ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung ist das Wichtigste und Höchste, was Staat und Verfassung den Bürgerinnen und Bürgern garantieren können. Die hohe Zustimmung zeigt, dass diese Zusammenhänge den Deutschen sehr bewusst sind.
PUBLICUS: Dennoch hat das Grundgesetz durch 67 Änderungsgesetze 237 Einzeländerungen erfahren. Von 122 geänderten Artikeln wurden 59 Artikel mehrfach geändert. Folgt dies aus der Notwendigkeit, eine Verfassung aktuell zu halten, oder wurde das Grundgesetz angesichts der Vielzahl der Änderungen nicht eher zur politischen Verfügungsmasse?
Schönenbroicher: Die meisten Änderungen sind gleichsam technischer Natur. Der Grundrechtskatalog, der für die Bürgerinnen und Bürger von zentraler Bedeutung ist, wurde seit 1949 kaum geändert. Die wichtigste Änderung war die vom Bundesverfassungsgericht umfassend gebilligte Einführung des Konzepts der sicheren Drittstaaten in Art. 16a Abs. 2 GG, um den millionenfachen Missbrauch des Asylgrundrechts zu verhindern. Diese Regelung ist seitens der Regierung Merkel im Jahre 2015 leider in verfassungsrechtlich skandalöser Weise faktisch außer Kraft gesetzt worden, bis heute.
PUBLICUS: Eine Verfassung soll nicht zuletzt, so eine landläufige Vorstellung, die Garantie von Grundrechten und Freiheiten „von der Agenda“ nehmen, um diese den Wechselfällen der tagespolitischen Opportunität zu entziehen. Vor dem Hintergrund auch der Bedrohung durch einen erstarkenden politischen Extremismus: Inwiefern wird das Grundgesetz dieser Funktion gerecht?
Schönenbroicher: Die Art. 5 und 8 GG garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, auch und gerade bei Versammlungen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer beeindruckenden und brillanten Rechtsprechung diese Freiheiten seit Mitte der 1950er-Jahre konturiert und ausgeformt. Sie gelten z. B. auch für linke und rechte Extremisten oder für radikal-islamische Muslime, solange diese nicht Straftaten begehen bzw. mit einem aktiven Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung beginnen, solange also nicht „aus Worten Taten werden“.
Manchen heute passt diese freiheitliche Rechtsprechung allerdings wohl nicht mehr. Wir beobachten mit Sorge die Zunahme strukturell konformistischer oder sogar totalitärer Denkweisen bei staatlichen Organwaltern und an den Universitäten, auch im Öffentlichen Recht. Es gibt Leute, die wollten friedliche Proteste nach Art. 8 GG, der im Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als überragend bedeutsam bezeichneten Versammlungsfreiheit, gegen die Corona-Gesundheitspolitik inhaltlich unterdrücken bzw. von Staats wegen diffamieren, und es gibt andere, die jeden als „Nazi“ bezeichnen und gewissermaßen grundrechtsschutzlos stellen wollen, der die aktuelle faktische Ausländerpolitik der Bundesregierung und der CDU/CSU kritisiert.
Die klare Aussage des Grundgesetzes in seiner zutreffenden Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht lautet dazu: Eine staatliche Unterdrückung von Meinungen ist grundsätzlich verfassungswidrig und verboten. Und entsprechende Straftatbestände etwa zu den Äußerungsdelikten oder zur Volksverhetzung müssen nach der berühmten „Wechselwirkungslehre“ seitens des einfachen Parlamentsgesetzgebers „im Lichte“ der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit formuliert und seitens der Justiz angewendet werden.
Das Traurige ist, dass diese Zusammenhänge in den 1980er-Jahren, als ich Rechtswissenschaften studiert habe, in Gesetzgebung, Verwaltung und universitärer Lehre völlig unstreitig und selbstverständlich waren. Heute muss ständig daran erinnert werden; auch von juristischen Berufsträgern hört man da leider viel Verstörendes und Falsches. Eine für die Freiheitlichkeit in Deutschland keineswegs positive Entwicklung, die unbedingt im Sinne der Rückkehr zur Verfassungsrechtslage beendet werden muss.
PUBLICUS: Die aktuelle politische Situation hat die Diskussion wieder entfacht: Sind die Instrumente, die das Grundgesetz unter dem vom BVerfG geprägten Begriff der „wehrhaften Demokratie“ zur Bekämpfung seiner Gegner bereithält, aus Ihrer Sicht ausreichend?
Schönenbroicher: Die Weimarer Republik besaß keinen Verfassungsschutz, und die Weimarer Reichsverfassung wurde von großen Teilen der damaligen „Eliten“ in Staat und Gesellschaft abgelehnt und aktiv bekämpft. Maßgeblichen Politikern wie etwa dem preußischen Innenminister Albert Grzesinski (SPD) war dieses Manko schmerzhaft bewusst; er hat dies in seinen Lebenserinnerungen eindrucksvoll geschildert.
Die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“, vor allem die SPD mit dem großen Staatsrechtler Carlo Schmid, haben 1948 daraus ihre Lehren gezogen: Es ist Aufgabe der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder, die aktive Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu beobachten und dagegen Maßnahmen zu treffen, bis hin zu einem Parteienverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Dass ein freiheitlicher Staat 17 Verfassungsschutzämter mit 17 Verfassungsschutzgesetzen unterhält, ist im europäischen und weltweiten Vergleich die große Ausnahme. Von daher dürfte die Bundesrepublik sowohl legislativ wie administrativ kein Defizit bei dem Schutz des Grundgesetzes als „wehrhafter Verfassung“ haben. Aktuell sind einige Aktionen von Protagonisten vermutlich eher durchaus kritisch zu sehen, etwa die von der derzeitigen Bundesinnenministerin überraschend ausgerufene „Delegitimierung des Staates“ als angebliches „Arbeitsfeld“ des Verfassungsschutzes – manche fühlen sich an die „staatsfeindliche Hetze“ im DDR-Unrechtsstaat erinnert.
PUBLICUS: Sind trotz der Vielzahl der Änderungen weitere Anpassungen erforderlich – und wenn ja: Welche?
Schönenbroicher: Ich persönlich sehe keinen Novellierungsbedarf. Parlamente, Verwaltung und Justiz sind vielmehr aufgefordert, die Vorschriften des Grundgesetzes ausnahmslos zu beachten, zu befolgen und der Verfassung damit unbedingten Gehorsam zu leisten.
Ob das in den vergangenen Jahren immer geschehen ist, kann man sicher kontrovers erörtern. Die einfachgesetzliche Erstreckung der „Ehe“ auf gleichgeschlechtliche Paare ohne Grundgesetzänderung war zumindest eine verfassungspolitische Respektlosigkeit erster Güte: Auch mit solchen Aktionen kann man eine Grundordnung „delegitimieren“. Der wahre Grund dafür war natürlich: Es gab keine verfassungsändernde Mehrheit im Deutschen Bundestag, aber die gleichgeschlechtliche Lobby wollte sich unbedingt durchsetzen.
Eine ähnlich respektlose Entwicklung beobachten wir bei der „Schuldenbremse“, die seitens der SPD und der Grünen in Frage gestellt wird, um ihre gesellschaftspolitischen Lieblingsthemen und „Hobbys“ mit neuem geborgtem Geld auf Kosten der nachfolgenden Generationen auszustatten – bei weiterhin unterfinanzierter Infrastruktur und fehlenden Zukunftsinvestitionen.
PUBLICUS: Wie stehen Sie z. B. zu einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge?
Schönenbroicher: Ich halte das Streikrecht für überragend wichtig, damit die abhängig Beschäftigten ihre legitimen Interessen gegen das große Kapital wahren können. Die Gewerkschaften haben ja auch jahrzehntelang eine sehr moderate Lohnpolitik mit ständiger Rücksicht auf die Produktivitätsfortschritte betrieben. Wir hatten über viele Jahrzehnte keine nennenswerten Streiks, auch und gerade dadurch (und durch die „Agenda 2010“ der Regierung Schröder) ist Deutschland wirtschaftlich so stark geworden.
Aus juristischer Sicht sollte man auf die deutsche Eigenheit hinweisen, kein parlamentsgesetzliches Streikgesetzbuch zu erlassen, was allgemein als rechtspolitisches Versagen des Deutschen Bundestags eingeordnet wird. Arbeitskampfrecht ist, unterhalb Art. 9 GG, weitgehend Richterrecht und als solches sicher nicht schlecht „nicht geregelt“.
Sie spielen in Ihrer Frage vermutlich auf die Lokomotivführer an, die gefühlt „ständig“ streiken. Diese Arbeitskampfmacht einer sehr kleinen Gruppe Beschäftigter ist jedoch eine direkte Folge der halbherzigen bzw. gescheiterten formellen und materiellen Privatisierung der Deutschen Bahn, die weitgehend immer noch Monopolist ist und sich außerhalb ihres Aufgabengebiets weltweit auf „Märkten“ herumtreibt, auf denen sie ordnungspolitisch nichts zu suchen hat. Die gescheiterte Bahnprivatisierung ist für die deutschen Bahnkunden eine Katastrophe allererster Güte – aber die Insider profitieren davon. Früher waren die Lokführer Beamte, da gab es keine Streiks. Monopolist auf der Schiene und Angestellte – da ist die ordnungspolitische Katastrophe natürlich vorprogrammiert.
PUBLICUS: Was verbinden Sie mit dem von Dolf Sternberger geprägten Begriff des „Verfassungspatriotismus“, und halten Sie ihn für eine geeignete Kategorie, um auch heute noch angemessen über die Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats zu sprechen?
Schönenbroicher: Mit dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ verbindet sich eine Auseinandersetzung über die Frage, ob die Liberalität und Weltoffenheit des Grundgesetzes allein Grundlage gedeihlichen Zusammenlebens des deutschen Volkes sein kann, oder ob es weiterer, gleichsam materiell-inhaltlicher Aspekte bedarf. Ich persönlich fand die Diskussion immer etwas akademisch und abgehoben und konnte ihr wenig abgewinnen. Heute hat sie indes neue Facetten bekommen, indem plötzlich der Verfassungsbegriff „Volk“ von manchen Linken und „Woken“ ins Zwielicht gerückt werden soll. Dabei ist das Wort „Volk“ einer der wichtigsten Rechtsbegriffe im Grundgesetz, und das Volk ist bekanntlich der Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation von Herrschaft.
PUBLICUS: Aus Artikel 140 des Grundgesetzes sowie den Bezugnahmen auf die Weimarer Verfassung ergibt sich das Verbot der Staatskirche sowie die institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Von den neun bundesweiten Feiertagen in Deutschland sind lediglich drei Feiertage ohne religiösen Bezug. Wird damit der Trennung von Staat und Kirche angemessen Rechnung getragen?
Schönenbroicher: Ach, wer wüsste nicht, dass dahinter der vom juristisch-genialen Carl Schmitt so begrifflich klargestellte „dilatorische Formelkompromiss“ der Weimarer Reichsverfassung steckt?
Die beiden großen christlichen Kirchen verlieren in großem Umfang Mitglieder, vermutlich auch, weil sie sich immer weiter in tagespolitische Fragen verheddern und damit einen Teil der Gläubigenschar abstoßen. Sie sind aber auf der anderen Seite auch staatlich relevante Körperschaften, schwimmen wegen der vom Staat exekutierten Kirchensteuerberechtigung nach wie vor im Geld und geben über die Feiertage auch weltanschaulich in gewisser Weise den Ton und Takt des Zusammenlebens vor. Auf der anderen Seite: Den 1. Mai haben die Nationalsozialisten förmlich zum Feiertag gemacht, und eine gut-proletarische „Feier“ der Arbeit war und ist für den Bürgerlichen oder den traditionellen Katholiken auf dem Lande ein sehr fremder Gedanke. Schließlich: Will man demnächst das „Zuckerfest“ von Staats wegen arbeitsfrei stellen?
Vermutlich wäre es in Zukunft das Beste, alle Feiertage staatlicherseits abzuschaffen, damit es keinen weltanschaulichen Streit darüber geben kann. Die Arbeitsbefreiung kann ja tariflich bzw. gesetzlich (für die Beamten etwa) geregelt werden. Allerdings müsste Deutschland dazu u. a. einmal die Kraft finden, den kirchenrechtlichen „dilatorischen Formelkompromiss“ des Jahres 1919 aufzuheben!
PUBLICUS: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, den 23. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären und auf einen der kirchlichen Feiertage zu verzichten?
Schönenbroicher: Persönlich halte ich von diesen angestrengt wirkenden staatlichen Jubelfeiern wenig. Übrigens bin ich auch insoweit ein klassisches „Boomer-Kind“ der „alten“ Bonner Bundesrepublik: Damals, vor 1989, war man nüchtern, sparsam, ernst und strikt symbolarm, was die staatliche Repräsentation anging, und das mit Recht. Dass am 23. Mai das Grundgesetz zustande kam, wissen die wenigsten. Man müsste das erst mühsam in das Bewusstsein der Menschen „einpflanzen“. Warum?
Dass die aktuellen Deutschen wenig Talent zum Feiertagefestsetzen haben, mag man auch daran ablesen, dass sie den 3. Oktober statt den 9. November zum Feiertag ausriefen: Statt des phänomenalen Mauerfalls den juristischen Staatsformelakt zu „feiern“ – typisch deutsch! Ich kenne niemanden, der den 3. Oktober „feiert“ oder auch nur würdigt. Wenn es einen „deutschen“ Feiertag geben sollte, müsste es der 9. November sein, der „Schicksalstag der Deutschen“. Aber diesen Tag zu nehmen, mit all seinen Implikationen, positiven und sehr furchtbaren, das war den Deutschen offenbar zu heikel. Dann lieber den harmlosen Beitritt nach Art. 23 GG damaliger Fassung. Zur Ehrenrettung der Deutschen: Die Franzosen sind noch instinktloser und feiern nach wie vor den 8. Mai als arbeitsfrei – auch kein besonders schöner Akt nach ca. 70 Jahren EWG/EG/EU.
PUBLICUS: Sollte das Grundgesetz – nach lange vollzogener Herstellung der Deutschen Einheit – den Titel „Verfassung“ bekommen?
Schönenbroicher: Auf keinen Fall. Das Grundgesetz ist juristisch das Grundgesetz. Es liegt allen Gesetzen zugrunde und steht über allen anderen Gesetzen. Die Bezeichnung ist völlig korrekt.
PUBLICUS: Zu guter Letzt: Was wünschen Sie dem Grundgesetz zum 75. Geburtstag?
Schönenbroicher: Strikte Befolgung und Beachtung seitens Legislativen und Exekutiven in Deutschland. Umfassender, unbeirrter Schutz durch das Bundesverfassungsgericht, vor allem in seiner freiheitlichen Dimension der Abwehrrechte gegen einen immer öfter übergriffigen, anmaßenden, selbstgefälligen und zeitgeistig-gefallsüchtigen Staat und seine gewählten oder beamteten Organwalter.
Zur Person:
Prof. Dr. Klaus Schönenbroicher ist Honorarprofessor und Lehrbeauftragter im Fachbereich Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Die Serie: 75. Jubiläum des Grundgesetzes