Graßhof: „Die grundrechtlichen Abwehrkräfte unseres Staates sind beträchtlich“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 4
Graßhof: „Die grundrechtlichen Abwehrkräfte unseres Staates sind beträchtlich“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 4
Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Mit dieser PUBLICUS-Interviewreihe zum Jubiläum haben wir renommierte Juristen befragt und ein Stimmungsbild zur deutschen Verfassung eingeholt.
Folge 4: Prof. Dr. Malte Graßhof, Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
PUBLICUS: Das Grundgesetz sei eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik, sagten 86 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage vor fünf Jahren. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese positive Rezeption?
Graßhof: Der evidente Erfolg der auf dem Boden des Grundgesetzes errichteten Bundesrepublik führte zu einer hohen Output-Legitimation: Wirtschaftliche Prosperität, Einbindung in die Wertegemeinschaft von EU und Nato, ein dichtgeknüpftes soziales Netz und gesellschaftliche Modernisierung waren der handfeste Beweis für eine gute Verfassung. Dazu kam eine stabile demokratische Ordnung (auch im Vergleich zu europäischen Nachbarn) sowie ein umfassender und praktisch wirksamer Grundrechtsschutz. Inzwischen ist ein weiterer Faktor sicher auch ein fasziniert-freudiges Staunen darüber, dass das nur als Übergangslösung gedachte Grundgesetz jetzt schon 75 Jahre alt geworden ist.
PUBLICUS: Dennoch hat das Grundgesetz durch 67 Änderungsgesetze 237 Einzeländerungen erfahren. Von 122 geänderten Artikeln wurden 59 Artikel mehrfach geändert. Folgt dies aus der Notwendigkeit, eine Verfassung aktuell zu halten, oder wurde das Grundgesetz angesichts der Vielzahl der Änderungen nicht eher zur politischen Verfügungsmasse?
Graßhof: Das Grundgesetz hat nach meinem Eindruck eine ziemlich gute Balance zwischen seiner eigenen Stabilität und Unverfügbarkeit auf der einen Seite und der Offenheit für Änderungen und Anpassungen an neue Lebensverhältnisse auf der anderen Seite gefunden. Im Großen und Ganzen ist die Verfassungsänderung auch nicht zur kleinen Münze des politischen Alltags, sondern sorgfältig dosiert eingesetzt worden. Dass die nachträglich eingefügten Texte sich gelegentlich im Detail verlieren, ist natürlich auch der besonderen Situation punktueller Verfassungsänderungen im Unterschied zu dem großen Wurf einer umfassenden Neuschöpfung geschuldet.
Bei einigen Fragen wäre sogar eine aktivere Befassung des verfassungsändernden Gesetzgebers wünschenswert gewesen; so ist etwa die „Neuerfindung“ von Grundrechten eigentlich nicht Sache der Verfassungsgerichtsbarkeit, und auch die fundamentale Neuausrichtung von grundrechtlichen Schutzbereichen sollte im Rahmen einer breiten politischen Debatte erfolgen.
PUBLICUS: Eine Verfassung soll nicht zuletzt, so eine landläufige Vorstellung, die Garantie von Grundrechten und Freiheiten „von der Agenda“ nehmen, um diese den Wechselfällen der tagespolitischen Opportunität zu entziehen. Vor dem Hintergrund auch der Bedrohung durch einen erstarkenden politischen Extremismus: Inwiefern wird das Grundgesetz dieser Funktion gerecht?
Graßhof: Die Grundrechte des Grundgesetzes werden dank des starken Bundesverfassungsgerichts in jeder Hinsicht – Zugang zum Gericht, Kontrolldichte, Rechtsfolgen und Befolgung – außerordentlich effektiv geschützt. Eigentlich findet seit vielen Jahren nur noch eine Feinjustierung der Grundrechte statt, weil auch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung ein grundrechtsgeprägtes Denken internalisiert haben. Die grundrechtlichen Abwehrkräfte unseres Staates sind daher beträchtlich.
PUBLICUS: Die aktuelle politische Situation hat die Diskussion wieder entfacht: Sind die Instrumente, die das Grundgesetz unter dem vom BVerfG geprägten Begriff der „wehrhaften Demokratie“ zur Bekämpfung seiner Gegner bereithält, aus Ihrer Sicht ausreichend?
Graßhof: Der Begriff der „wehrhaften Demokratie“ kann zu dem Eindruck verführen, die Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen sei primär Aufgabe von dafür im Grundgesetz vorgesehenen speziellen Verfahren und Einrichtungen, dass also für den Schutz der Verfassung in erster Linie der Verfassungsschutz zuständig sei. Primär setzt das Grundgesetz aber darauf, dass Verfassungsfeinde sich in einer freien politischen Diskussion letztlich nicht durchsetzen werden. Unsere Aufmerksamkeit sollte daher vor allem dieser Diskussion und ihrem Schutz gelten. Dafür kann es aber geboten sein, alle Mittel der „wehrhaften Diskussion“ auszunutzen.
PUBLICUS: Sind trotz der Vielzahl der Änderungen weitere Anpassungen erforderlich – und wenn ja: Welche?
Graßhof: Zwar leben wir in Krisenzeiten, die bislang aber gerade nicht zu erheblichen Verfassungskrisen geführt haben. (Auch die Pandemie war eine Bewährungsprobe, die das Grundgesetz glänzend bestanden hat!) Anlass für größere Änderungen des Grundgesetzes sehe ich derzeit nicht. Unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der „Resilienz“ lohnt es sich allerdings, über die punktuelle Hochzonung einiger Regelungen nachzudenken, die bislang in einfachen Gesetzen enthalten sind. Dabei stellen sich aber auch Folgeprobleme, die nicht trivial sind und daher sorgfältig bedacht werden müssen.
PUBLICUS: Wie stehen Sie z. B. zu einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge?
Graßhof: Gesetzesänderungen müssen auch auf aktuelle Ereignisse reagieren und stehen oft unter dem Eindruck tagespolitischer Debatten und Aufgeregtheiten. Änderungen der Verfassung, die nur schwer revidierbar sind, sollten möglichst „sine ira et studio“, also in aller Ruhe und mit Bedachtsamkeit erfolgen. Der letzte Lokführerstreik mag eine Debatte um eine gesetzliche Ausgestaltung des Streikrechts ausgelöst haben; eine Diskussion über eine Grundgesetzänderung halte ich jedoch für verfrüht.
PUBLICUS: Was verbinden Sie mit dem von Dolf Sternberger geprägten Begriff des „Verfassungspatriotismus“, und halten Sie ihn für eine geeignete Kategorie, um auch heute noch angemessen über die Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats zu sprechen?
Graßhof: „Verfassungspatriotismus“ kann positiv im Sinne einer Affirmation der allgemeinen Grundwerte unserer Verfassung und auch konkret im Sinne einer emotionalen Bindung an das Grundgesetz verstanden werden. Mit diesem Verständnis bietet der Begriff eine breite gesellschaftliche Identifikationsmöglichkeit, die ungemein wichtig ist. Je negativer der Begriff verstanden wird, etwa im Sinne der Ablehnung einer Identifikation mit jeglichen gemeinschaftlichen Werten, die über abstrakte Verfassungsprinzipien hinausgehen, desto problematischer wird er, weil er dann die emotionale Komponente einer wünschenswerten Bindung an das Gemeinwesen vernachlässigt. „Sommermärchen“ und „Verfassungspatriotismus“ schließen sich nicht aus!
PUBLICUS: Aus Artikel 140 des Grundgesetzes sowie den Bezugnahmen auf die Weimarer Verfassung ergibt sich das Verbot der Staatskirche sowie die institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Von den neun bundesweiten Feiertagen in Deutschland sind lediglich drei Feiertage ohne religiösen Bezug. Wird damit der Trennung von Staat und Kirche angemessen Rechnung getragen?
Graßhof: Die staatliche Regelung religiöser Feiertage stellt eine Freiheitsbeschränkung dar, die der Freiheitsausübung anderer dient, nämlich der Glaubensfreiheit. Zugleich werden damit Brauchtum und Traditionen geschützt, die sich auf Grundlage des Christentums entwickelt haben. Angesichts dieser Zielrichtung stellt das Verhältnis von kirchlichen und nicht-kirchlichen Feiertagen für sich genommen keine verfassungsrechtlich relevante Kategorie dar. Über die Ausgestaltung der Feiertage kann trefflich politisch debattiert werden; das Verfassungsrecht lässt dabei einen weiten Spielraum.
PUBLICUS: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, den 23. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären und auf einen der kirchlichen Feiertage zu verzichten?
Graßhof: Freie und demokratische Staaten müssen sich nicht andauernd selbst feiern, denn auch beim Feiern gilt, dass die Willensbildung vom Volk zum Staat gehen soll und nicht umgekehrt. Organisierter Staatsjubel kennzeichnet gerade autoritäre Staaten. Ein Nationalfeiertag im Jahr reicht daher völlig aus. Die Anknüpfung an den 23. Mai 1949 schiene mir etwas „west-lastig“ zu sein.
PUBLICUS: Sollte das Grundgesetz – nach lange vollzogener Herstellung der Deutschen Einheit – den Titel „Verfassung“ bekommen?
Graßhof: Bloß nicht! „Grundgesetz“ ist nicht nur anschaulich, eben das grundlegende Gesetz (also fast schon einfache Sprache; wer mag, darf aber auch an Kelsen denken), sondern erinnert auch identifikationsstiftend an die Entwicklung des aus staatsrechtlichen Trümmern geschaffenen Provisoriums zur Verfassung der deutschen Einheit.
PUBLICUS: Zu guter Letzt: Was wünschen Sie dem Grundgesetz zum 75. Geburtstag?
Graßhof: Möge sein letzter Artikel noch lange nicht praktisch relevant werden!
Zur Person:
Prof. Dr. Malte Graßhof ist Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg und Präsident des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sowie Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Er ist Mitherausgeber der im Richard Boorberg Verlag erscheinenden „Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg“.
Die Serie: 75. Jubiläum des Grundgesetzes