Sander: „Ein unerschütterliches Fundament für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 9
Sander: „Ein unerschütterliches Fundament für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten“
PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 9
Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Mit dieser PUBLICUS-Interviewreihe zum Jubiläum haben wir renommierte Juristen befragt und ein Stimmungsbild zur deutschen Verfassung eingeholt.
Folge 9: Prof. Dr. iur. Gerald G. Sander, M. A., Mag. rer. publ., Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg
PUBLICUS: Das Grundgesetz sei eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik, sagten 86 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage vor fünf Jahren. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese positive Rezeption?
Sander: Das Grundgesetz hat seit seiner Verabschiedung im Jahr 1949 als Verfassung Deutschlands eine bemerkenswerte Kontinuität und Stabilität gewährleistet. Trotz politischer und gesellschaftlicher Veränderungen hat es seine Bedeutung und Wirksamkeit nachgewiesen. Zudem etabliert es Deutschland als Rechtsstaat, in dem die Regierung und alle staatlichen Institutionen an die Gesetze gebunden sind. Dies schafft Vertrauen in die Rechtsordnung und gewährleistet einen fairen Umgang mit allen Bürgerinnen und Bürgern. Die Bürgerinnen und Bürger zeigen außerdem ein hohes Vertrauen in die Verfassungsinstitutionen wie den Bundestag und das Bundesverfassungsgericht, die entscheidend für die demokratische Ordnung und die Gewaltenteilung in Deutschland sind.
PUBLICUS: Dennoch hat das Grundgesetz durch 67 Änderungsgesetze 237 Einzeländerungen erfahren. Von 122 geänderten Artikeln wurden 59 Artikel mehrfach geändert. Folgt dies aus der Notwendigkeit, eine Verfassung aktuell zu halten, oder wurde das Grundgesetz angesichts der Vielzahl der Änderungen nicht eher zur politischen Verfügungsmasse?
Sander: Die Gründe für Verfassungsänderungen können vielfältig sein. Eine moderne Verfassung muss mit den sich wandelnden Bedürfnissen und Werten der Gesellschaft Schritt halten. Änderungen im Grundgesetz können daher notwendig sein, um neue Probleme anzugehen oder bisher unzureichend behandelte Fragen zu klären. Manchmal wurden Änderungen am Grundgesetz vorgenommen, um politische Reformen zu unterstützen, wie z. B. die Stärkung der Rechte des Bundestages oder die Neugestaltung der föderalen Struktur durch Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder. Auch die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union hat angesichts der sich vertiefenden Integration zu neuen Regelungen im Grundgesetz in Art. 23 geführt.
PUBLICUS: Eine Verfassung soll nicht zuletzt, so eine landläufige Vorstellung, die Garantie von Grundrechten und Freiheiten „von der Agenda“ nehmen, um diese den Wechselfällen der tagespolitischen Opportunität zu entziehen. Vor dem Hintergrund auch der Bedrohung durch einen erstarkenden politischen Extremismus: Inwiefern wird das Grundgesetz dieser Funktion gerecht?
Sander: Das Grundgesetz erklärt die Menschenwürde in Art. 1 für unantastbar. Die weiteren Grundrechte dürfen nur aus sachlichen Gründen verhältnismäßig eingeschränkt werden. Sie binden die Gesetzgebung, die Verwaltung und Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht kann dabei Gesetze, die gegen diese Grundrechte verstoßen, für nichtig erklären. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist somit ein wichtiger Mechanismus zur Sicherung der Grundrechte. Dies bedeutet, dass Grundrechte nicht einfach durch politische Entscheidungen oder Mehrheitsbeschlüsse eingeschränkt werden können, sondern einem besonders hohen Schutzstatus unterliegen. Weiterhin enthält das Grundgesetz eine sog. Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3, die bestimmte Grundprinzipien der Verfassung, wie die Menschenwürde und die demokratische Grundordnung, als unveränderlich erklärt. Hierdurch sollen grundlegende Werte und Prinzipien wie Demokratie, Sozialstaat und der Föderalismus vor Veränderungen geschützt werden. Insgesamt trägt das Grundgesetz durch diese Mechanismen und Prinzipien dazu bei, die Grundrechte und Freiheiten vor den Wechselfällen der tagespolitischen Opportunität zu schützen und sicherzustellen, dass sie einen festen und unveränderlichen Bestandteil des deutschen Rechtssystems bilden.
PUBLICUS: Die aktuelle politische Situation hat die Diskussion wieder entfacht: Sind die Instrumente, die das Grundgesetz unter dem vom BVerfG geprägten Begriff der „wehrhaften Demokratie“ zur Bekämpfung seiner Gegner bereithält, aus Ihrer Sicht ausreichend?
Sander: Angesichts aktueller Herausforderungen wie extremistischen Bewegungen, Desinformation, Cyberangriffen und autoritären Tendenzen stehen Demokratien weltweit vor neuen Bedrohungen. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, ob die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ ausreichend sind, um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen. Aktuell beinhaltet die Verfassung zum Schutz der Demokratie gegen ihre Feinde insbesondere das Verbot verfassungsfeindlicher Parteien sowie die vorübergehende Einschränkung bestimmter Grundrechte in Notsituationen.
Die bestehenden Instrumente sind schon sehr stark, um die demokratischen Institutionen und Werte zu schützen. Dennoch könnten Änderungen diskutiert werden; Vorschläge zielen etwa darauf, die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts stärker zu sichern. Das Grundgesetz könnte auch durch Anpassungen gestärkt werden, die die demokratischen Institutionen, wie z. B. den Bundestag oder die Regierung vor Manipulation und Einflussnahme zu schützen, etwa durch die Einführung strengerer Transparenzregeln für politische Parteien und Lobbygruppen.
PUBLICUS: Sind trotz der Vielzahl der Änderungen weitere Anpassungen erforderlich – und wenn ja: Welche?
Sander: Angesichts der raschen Entwicklung digitaler Technologien und der damit verbundenen Herausforderungen für die Privatsphäre und den Datenschutz könnten Anpassungen des Grundgesetzes erforderlich sein, um den Schutz digitaler Rechte und den Umgang mit Daten angemessen zu regeln. Im Hinblick auf die zunehmende Politikverdrossenheit und die Herausforderungen für die repräsentative Demokratie könnten weitere Anpassungen des Grundgesetzes erforderlich sein, um die Bürgerbeteiligung zu stärken. Aktuell liegt ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz vor, um klare rechtliche Grundlagen für den Schutz ihrer Rechte zu schaffen. Jede Änderung sollte aber auf breiter Basis und unter Berücksichtigung der verschiedenen Interessen und Perspektiven der Gesellschaft erfolgen.
PUBLICUS: Wie stehen Sie z. B. zu einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge?
Sander: Das Recht auf Streik ist ein grundlegendes Menschenrecht und ein wichtiges Instrument für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um ihre Interessen zu verteidigen und faire Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Gleichzeitig ist die Daseinsvorsorge, zu der Bereiche wie Gesundheitswesen, Bildung, Verkehr und Energieversorgung gehören, von entscheidender Bedeutung für das Wohlergehen und die Sicherheit der Gesellschaft. Einschränkungen des Streikrechts in diesen Bereichen könnten dazu beitragen, Störungen oder Engpässe zu vermeiden, die die öffentliche Gesundheit, Sicherheit oder Versorgung gefährden könnten. Viele Staaten haben bereits Regelungen eingeführt, um das Streikrecht im Bereich der Daseinsvorsorge zu regeln und Ausnahmen oder Einschränkungen zu ermöglichen, wenn es um die Aufrechterhaltung essentieller Dienstleistungen geht. Solche Regelungen könnten beispielsweise vorsehen, dass bestimmte Berufsgruppen oder Dienstleistungen als „unverzichtbar“ gelten und daher streikfrei sein sollten. Bei der Frage nach einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge ist eine sorgfältige Abwägung der Interessen und Rechte aller Beteiligten erforderlich. Sollt es dauerhaft zu untragbaren Situationen in der Daseinsvorsorge kommen, wären solche Regelungen auch für Deutschland eine Option.
PUBLICUS: Was verbinden Sie mit dem von Dolf Sternberger geprägten Begriff des „Verfassungspatriotismus“, und halten Sie ihn für eine geeignete Kategorie, um auch heute noch angemessen über die Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats zu sprechen?
Sander: Der Begriff des Verfassungspatriotismus beschreibt eine Form des Patriotismus, die nicht auf nationalen Symbolen oder einer gemeinsamen ethnischen oder kulturellen Identität basiert, sondern auf der Zustimmung zu den Werten und Prinzipien der Verfassung eines Staates. Verfassungspatriotismus bedeutet, dass die Bürger eines Landes stolz auf ihre Verfassung und die darin verankerten demokratischen Prinzipien sind und sich mit ihnen identifizieren, unabhängig von anderen nationalen oder kulturellen Bindungen. Insoweit halte ich den Begriff des Verfassungspatriotismus für geeignet, um auch heute noch angemessen über die Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats zu sprechen. Verfassungspatriotismus kann dazu beitragen, extremistische und autoritäre Tendenzen zu bekämpfen, indem er die Menschen dazu ermutigt, sich für die Werte und Institutionen der Verfassung einzusetzen und diese zu verteidigen. Er kann den Zusammenhalt und die Integration in einer pluralistischen Gesellschaft fördern, indem er eine gemeinsame Grundlage für alle Bürgerinnen und Bürger schafft, unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit.
PUBLICUS: Aus Artikel 140 des Grundgesetzes sowie den Bezugnahmen auf die Weimarer Verfassung ergibt sich das Verbot der Staatskirche sowie die institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Von den neun bundesweiten Feiertagen in Deutschland sind lediglich drei Feiertage ohne religiösen Bezug. Wird damit der Trennung von Staat und Kirche angemessen Rechnung getragen?
Sander: Die Anzahl und Auswahl der Feiertage in Deutschland sind das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung und von politischen Entscheidungen. Änderungen an diesem System erfordern sorgfältige Überlegungen und könnten aufgrund ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Gesellschaft kontrovers sein. Deutschland hat eine lange Geschichte und Tradition des Christentums, die sich in vielen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens widerspiegelt, einschließlich der Feiertage. Feiertage wie Weihnachten und Ostern haben eine tiefe kulturelle und historische Bedeutung und werden von vielen Menschen, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit, gefeiert. In einer pluralistischen Gesellschaft wie Deutschland ist es wichtig, die Vielfalt der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen angemessen zu berücksichtigen. Die Schaffung von Feiertagen ohne expliziten religiösen Bezug könnte dazu beitragen, die Inklusion und Akzeptanz verschiedener Glaubensrichtungen und Lebensstile zu fördern.
PUBLICUS: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, den 23. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären und auf einen der kirchlichen Feiertage zu verzichten?
Sander: Die Idee, den 23. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären, hat sicherlich einige positive Aspekte, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung dieses Datums für die deutsche Geschichte. Der 23. Mai markiert den Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und zur Etablierung ihrer demokratischen Grundordnung. Deutschland ist andererseits aber ein Land mit einer Vielzahl von religiösen Traditionen und Gemeinschaften. Die bestehenden kirchlichen Feiertage, wie Weihnachten oder Ostern, haben eine lange Tradition und sind für viele Menschen von großer Bedeutung. Die Streichung eines dieser Feiertage könnte daher auf Widerstand stoßen und zu Spannungen führen.
PUBLICUS: Sollte das Grundgesetz – nach lange vollzogener Herstellung der Deutschen Einheit – den Titel „Verfassung“ bekommen?
Sander: Das Grundgesetz wurde 1949 als provisorische Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Es war als vorläufige Lösung gedacht, bis eine endgültige Verfassung für ganz Deutschland erarbeitet werden konnte. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde das Grundgesetz auf das gesamte deutsche Staatsgebiet ausgedehnt, blieb jedoch als Grundlage des vereinten Deutschlands erhalten. Die Umbenennung des Grundgesetzes in „Verfassung“ könnte symbolisch die vollendete Einheit Deutschlands nach der Wiedervereinigung unterstreichen und die Souveränität des deutschen Volkes manifestieren. In der Praxis hat sich das Grundgesetz als stabiles und funktionierendes rechtliches Dokument erwiesen, das die Grundlage für die Bundesrepublik Deutschland bildet. Andererseits wäre die Umbenennung in „Verfassung“ eben lediglich eine symbolische Geste und würde keine wesentlichen rechtlichen oder institutionellen Änderungen mit sich bringen. Aus Sicht des Juristen wäre eine Umbenennung deshalb eigentlich entbehrlich.
PUBLICUS: Zu guter Letzt: Was wünschen Sie dem Grundgesetz zum 75. Geburtstag?
Sander: Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes wünsche ich ihm weiterhin eine starke Verankerung in den Herzen und Köpfen der Menschen in Deutschland. Möge es auch in den kommenden Jahren ein unerschütterliches Fundament für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten bleiben. Auf dass es weiterhin die Grundlage für eine gerechte und freie Gesellschaft bildet und sich den Herausforderungen der Zukunft mit Weisheit und Flexibilität stellt.
Zur Person:
Prof. Dr. iur. Gerald G. Sander, M. A., Mag. rer. publ., ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg sowie Co-Direktor des dort angesiedelten Instituts für Öffentliches Wirtschaftsrecht. Er ist Mitherausgeber der im Richard Boorberg Verlag beheimateten Reihe Ludwigsburger Schriften Öffentliche Verwaltung und Finanzen, in deren Rahmen u. a. das „Jahrbuch des Instituts für Angewandte Forschung“ erscheint.
Die Serie: 75. Jubiläum des Grundgesetzes