Die Genehmigungsfiktion im Rehabilitations- und Teilhaberecht
Eine Herausforderung für die Sozialversicherungsträger - Teil 1
Die Genehmigungsfiktion im Rehabilitations- und Teilhaberecht
Eine Herausforderung für die Sozialversicherungsträger - Teil 1

Die Genehmigungsfiktion im Rehabilitations- und Teilhaberecht ist mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) zum 1. Januar 2018 eingeführt worden. Es handelt sich vordergründig um eine kleine rechtstechnische Regelung. Die Bestimmung weist aber erhebliches Konfliktpotenzial auf. Das Vorbild gab die umstrittene Genehmigungsfiktion des Krankenversicherungsrechts, die für anhaltende Rechtsstreitigkeiten und Rechtsunsicherheit gesorgt hat.
In der Datenbank von juris sind aktuell 40 Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zu der Genehmigungsfiktion im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung dokumentiert, und das obwohl die diesbezügliche Regelung des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (Gesetzliche Krankenversicherung – SGB V) erst zehn Jahre alt ist.
I. Einleitung
Zum genaueren Verständnis der Rechtsentwicklung sind die Entstehung der Vorschrift zur Genehmigungsfiktion im Teilhaberecht sowie die allgemeine Zielsetzung der Regelung zu untersuchen.
1. Normgenese
Bei der Einführung der Genehmigungsfiktion im Teilhaberecht wollte der Gesetzgeber offenbar alles besser machen als im Krankenversicherungsrecht und er hat in § 18 Abs. 3 bis 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – SGB IX) eine sehr elaborierte Regelung getroffen. Die Bundestagsdrucksachen enthalten eine ausführliche Begründung der Bundesregierung zur Entwurfsfassung.1BReg., Begründung zum Entwurf des BTHG, BT-Drs. 18/9522, S. 238 f.
Das BSG sah in der Neueinführung der Genehmigungsfiktion im Teilhaberecht offenbar eine Gelegenheit, die umstrittene Auslegung der älteren Bestimmung des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts (§ 13 Abs. 3 a SGB V) zu revidieren, und leitete mit seinen viel diskutierten Entscheidungen aus dem Jahr 2020 eine Kehrtwende in seiner Rechtsprechungspraxis ein.2 Diese Zusammen-hänge zeigen, dass die Auslegungsergebnisse des BSG zum SGB V auch reziprok für die Interpretation der hier untersuchten Geneh-migungsfiktion im SGB IX herangezogen werden können.
2. Zielsetzung der Genehmigungsfiktion
Das Ziel der Genehmigungsfiktion liegt in der Schaffung effizienterer Verfahrensabläufe bei den Rehabilitationsträgern und der Herbeiführung schnellerer behördlicher Entscheidungen. Wenn der Leistungsträger dies nicht sicherstellen kann, wird er dadurch sanktioniert, dass er die Kosten für die Selbstbeschaffung überneh-men muss, und zwar ungeachtet der Frage, ob die Selbstbeschaffung wirtschaftlich war oder überhaupt hätte rechtmäßigerweise bewilligt werden können. Mit dem „Recht auf Selbstbeschaffung“ soll die Position der Leistungsberechtigten gestärkt werden.2BT-Drs. 18/9522, S. 238. Leistende Rehabilitationsträger, die durch die Fiktionsregelung gebunden werden, sind die Träger der gesetzlichen Sozialversicherungen inklusive der Bundesagentur für Arbeit. Die Träger der Eingliederungshilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der sozialen Entschädigung (soweit diese Leistungen zur Teilhabe nach § 62 Satz 1 Nr. 1 bis 3 Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch – Soziale Entschädigung – SGB XIV erbringen) sind nach § 18 Abs. 7 SGB IX ausgenommen.3Krit. hierzu bereits Kellner, NJW 2018, 3486 (3490).
II. Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion
Für den Eintritt der Genehmigungsfiktion bestehen im Wesentlichen drei Voraussetzungen. Zunächst muss ein fiktionsfähiger Antrag bei dem Rehabilitationsträger gestellt werden (sub 1). Weiterhin muss die für den Rehabilitationsträger vorgesehene Bearbeitungsfrist ergebnislos verstrichen sein (sub 2.). Und schließlich muss der Antragsteller dahingehend gutgläubig sein, dass die gewünschte Leistung vom Leistungskatalog der Rehabilitationsträger gedeckt ist und er die gewünschten Leistungen auf Kosten des Rehabilitationsträgers erwerben darf (sub 3).
1. Fiktionsfähiger Antrag
Erste Voraussetzung ist ein fiktionsfähiger Antrag auf Leistungen zur Teilhabe, der bei dem Rehabilitationsträger gestellt wird. Der Antrag muss gerichtet sein auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft an Menschen mit Behinderungen und an von Behinderung bedrohte Menschen (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Die Teilhabeleistungen umfassen insbesondere die Leistungsgruppen der Leis-tungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (§ 5 Nr. 1 bis 3 SGB IX).
Der Antrag leitet das Verwaltungsverfahren ein, § 18 Satz 2 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X). Ihm muss zu entnehmen sein, wel-che konkrete Sachleistung als Teilhabeleistung begehrt wird. Denn nur dann lässt sich klären, für welche selbst beschaffte Leistung später ein Anspruch auf Kostenerstattung bestehen soll.4BSG, Urt. v. 16.08.2021 – B 1 KR 8/21 R, BeckRS 2021, 34164 m. Anm. Geckeler, NZS 2022, 230. Dies bedeutet aber auch, dass der Antragsteller insofern eine Ermessensreduzierung auf null geltend machen muss, die begriffsnotwendig nur in Ausnahmefällen vorliegt. Denn bei Teilhabeleistungen besteht regelmäßig ein Auswahlermessen des Leistungsträgers.5Vgl. Böttiger, in: Hassel/Gurgel/Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 6. Aufl. 2020, Kap. 11 Rn. 130.
Zum Verhältnis eines Leistungsantrages auf eine bestimmte Leistung zur Teilhabe und einem Leistungsantrag dem Grunde nach lässt sich Folgendes sagen:
a) Ein bzgl. der Genehmigungsfiktion informierter Antragsteller wird zunächst einen auf eine konkrete Leistung gerichteten Antrag bei der Behörde stellen und dann ggf. im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren auf die Geltendmachung eines Anspruchs dem Grunde nach bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) übergehen. Denkbar wäre es auch, eine bestimmte Teilhabeleistung zu beantragen und von Beginn an in einem Hilfsantrag den Anspruch dem Grunde nach geltend zu machen.6Kellner, NZS 2021, 577 (579).
b) Wenn dennoch zunächst Leistungen dem Grunde nach beantragt und bewilligt worden sind, können in einem zweiten Schritt konkrete Leistungen beantragt werden.7Zu dieser Konstellation LSG Berlin-Brandenburg Urt. v. 23.01.2019 – Auch in dem konkretisierenden Antrag ist ein fiktionsfähiger Antrag auf „Leistungen zur Teilhabe“ i. S. d. § 18 Abs. 1 SGB IX zu erkennen. Es spricht nichts dagegen, diesen Antrag genauso zu behandeln wie einen Antrag, der von Anfang an auf eine konkrete Leistung gerichtet war. Dies gilt umso mehr, als der Rehabilitationsträger in dieser Konstellation auf Ermittlungsergebnissen aus dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren aufbauen kann und nur noch sein (ggf. geschrumpftes) Auswahlermessen auszuüben hat.
2. Versäumnis des Rehabilitationsträgers
Die Genehmigungsfiktion greift nach § 18 Abs. 3 SGB IX, wenn innerhalb der Frist von zwei Monaten nicht über den Antrag entschieden wurde, gegenüber dem Antragsteller aber auch keine Mitteilung über die Gründe und den voraussichtlichen Entscheidungstermin erfolgte. Mit der sog. begründeten Mitteilung kann der Leistungsträger eine Fristverlängerung herbeiführen, für die bestimmte Vorgaben bestehen. So gilt insbesondere bei der Einschaltung von Sachverständigen, dass Gründlichkeit der Amtsermittlung Vorrang vor der Schnelligkeit des Verfahrens hat (vgl. § 18 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1. und 2 SGB IX).8Schaumberg, SGb 2019, 206 (211).
Bei der Frage der Einhaltung der Frist ist auf die Bekanntgabe des verfahrensbeendenden Bescheides bzw. der begründeten Mitteilung gegenüber dem Leistungsberechtigten abzustellen.9Schaumberg, SGb 2019, 206 (210); Ulrich, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., Stand 01.10.2023, § 18 SGB IX Rn. 38. Die begründete Mitteilung muss schriftlich erfolgen und auf den Tag genau mitteilen, bis wann über den Antrag entschieden wird. Sie muss – wie schon die Bezeichnung sagt – eine Begründung für die ausgebliebene Entscheidung geben. Ob die Begründung zutreffend ist, kann gerichtlich überprüft werden. Mit dem Sinn der Mitteilung, dem Antragsteller eine realistische Information zum Verfahrensstand zu geben, ist nur eine die Gegebenheiten wahrheitsgemäß wiedergebende Begründung vereinbar.10Kellner, in: BeckOK SozR, 71. Ed., Stand 01.12.2023, § 18 SGB IX Rn. 27. Fehlt es an einer solchen, kann die Genehmigungsfiktion eintreten.
Der Beitrag wird fortgesetzt.
Dieser Beitrag stammt aus der apf – Ausbildung-Prüfung-Fachpraxis, Heft 4/2024, Seite 109.
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- 1BReg., Begründung zum Entwurf des BTHG, BT-Drs. 18/9522, S. 238 f.
- 2BT-Drs. 18/9522, S. 238.
- 3Krit. hierzu bereits Kellner, NJW 2018, 3486 (3490).
- 4BSG, Urt. v. 16.08.2021 – B 1 KR 8/21 R, BeckRS 2021, 34164 m. Anm. Geckeler, NZS 2022, 230.
- 5Vgl. Böttiger, in: Hassel/Gurgel/Otto (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Sozialrecht, 6. Aufl. 2020, Kap. 11 Rn. 130.
- 6Kellner, NZS 2021, 577 (579).
- 7Zu dieser Konstellation LSG Berlin-Brandenburg Urt. v. 23.01.2019 –
- 8Schaumberg, SGb 2019, 206 (211).
- 9Schaumberg, SGb 2019, 206 (210); Ulrich, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., Stand 01.10.2023, § 18 SGB IX Rn. 38.
- 10Kellner, in: BeckOK SozR, 71. Ed., Stand 01.12.2023, § 18 SGB IX Rn. 27.