24.05.2024

Roth: „Dem Grundgesetz steht eine besondere Bewährungsprobe bevor“

PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 7

Roth: „Dem Grundgesetz steht eine besondere Bewährungsprobe bevor“

PUBLICUS-Serie zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes – Folge 7

75 Jahre Grundgesetz: Meilenstein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. | © picoStudio; Binder Medienagentur  - stock.adobe.com
75 Jahre Grundgesetz: Meilenstein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. | © picoStudio; Binder Medienagentur - stock.adobe.com

Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Mit dieser PUBLICUS-Interviewreihe zum Jubiläum haben wir renommierte Juristen befragt und ein Stimmungsbild zur deutschen Verfassung eingeholt.

Folge 7: Dr. Andreas Roth, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg a. D.

PUBLICUS: Das Grundgesetz sei eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik, sagten 86 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage vor fünf Jahren. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese positive Rezeption?


Roth: Das Grundgesetz ermöglicht seit 75 Jahren Frieden, Freiheit und Demokratie. Es bildete das Fundament, auf dem Deutschland sich zu einer stabilen und freiheitlichen Demokratie in der westlichen Wertegemeinschaft und zu einem Pfeiler der europäischen Versöhnung und Einigung entwickelt hat. Auf seiner Grundlage ist ein beispielloser wirtschaftlicher Wiederaufbau und ein Aufstieg zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt gelungen und hat sich nicht zuletzt auch die Wiedervereinigung vollzogen.

Vor dem Hintergrund des menschenverachtenden Systems der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stellt das Grundgesetz mit seiner rechtsstaatlichen Wertordnung, insbesondere mit der Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Verbindlichkeit der Grundrechte für alle drei Staatsgewalten, den Menschen in den Mittelpunkt: Er ist dem Staat nicht mehr schutzlos ausgeliefert, vielmehr kann er von diesem die Beachtung seiner individuellen Grundrechte verlangen und diese notfalls durchsetzen.

Zur Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes gehört dabei unbedingt das Wirken des BVerfG. Ihm ist es gelungen, als „Hüter der Verfassung“ die Rolle eines – auch von politischen Mehrheiten – unabhängigen und machtvollen Verfassungsorgans einzunehmen, das innerhalb der Bevölkerung hohes Ansehen genießt. Das BVerfG hat das Grundgesetz mit „Leben“ gefüllt und in Staat und Gesellschaft wirksam werden lassen. Insbesondere die Grundrechte haben eine ungeahnte Aufwertung erfahren. Das BVerfG hat praktisch jedem menschlichen Verhalten grundrechtlichen Schutz zugebilligt und die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern als objektive Wertordnung verstanden, die bei der Auslegung und Anwendung der gesamten Rechtsordnung Beachtung finden muss. Auch wenn Entscheidungen nicht selten kontrovers diskutiert wurden oder eine stärkere richterliche Zurückhaltung gefordert wurde, hat das BVerfG im Großen und Ganzen besonnen auf Herausforderungen und gesellschaftlichen Wandel reagiert und positive Impulse zur Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft gegeben.

Das Grundgesetz ist schließlich auch ein Exportschlager: Zahlreiche Länder innerhalb und außerhalb Europas haben sich beim Übergang zur Demokratie am deutschen Grundgesetz orientiert.

PUBLICUS: Dennoch hat das Grundgesetz durch 67 Änderungsgesetze 237 Einzeländerungen erfahren. Von 122 geänderten Artikeln wurden 59 Artikel mehrfach geändert. Folgt dies aus der Notwendigkeit, eine Verfassung aktuell zu halten, oder wurde das Grundgesetz angesichts der Vielzahl der Änderungen nicht eher zur politischen Verfügungsmasse?

Roth: Eine rein quantitative Betrachtung greift hier zu kurz. Nach der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG sind die Garantie der Menschenwürde und der Kerngehalt der Staatsstrukturprinzipien (Republik, Demokratie, Rechts-, Sozial- und Bundestaat) einer Verfassungsänderung überhaupt entzogen. Im Übrigen bedürfen Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Auch vor diesem Hintergrund darf bei einer wertenden Betrachtung das Gewicht der zahlreichen Änderungen nicht überschätzt werden. Der Kerninhalt des Grundgesetzes ist im Laufe seiner 75jährigen Geschichte unverändert geblieben. Insbesondere der Grundrechtsteil hat eher bescheidene Änderungen erfahren. Eine sehr hohe Anzahl von Änderungen betraf Regelungen zur Gesetzgebungszuständigkeit oder zum Finanzwesen. Im Übrigen muss sich auch eine Verfassung einer veränderten Wirklichkeit stellen. Vielfach beruhten Änderungen auf der nachvollziehbaren Feststellung eines sachlichen Reform- oder Ergänzungsbedarfs bzw. auf einem Wandel der Verhältnisse, Erkenntnisse oder gesellschaftlichen Anschauungen. So führte beispielsweise die Wiedervereinigung zu einer Änderung der Präambel und zur Aufhebung des Art. 23 GG, der 1992 als „Europa-Artikel“ die verfassungsrechtliche Grundlage für die Integration Deutschlands in die Strukturen der Europäischen Union wurde.

Insgesamt halte ich eine „Fundamentalkritik“ an den bisherigen Grundgesetzänderungen für nicht gerechtfertigt. Dass in Einzelfällen Formulierungen zu detailliert geraten sind oder Neuregelungen wegen ihres Kompromisscharakters nicht mehr die schlichte Klarheit des „Urtextes“ aufweisen, vermag das Gesamtbild nicht wesentlich zu trüben.

PUBLICUS: Eine Verfassung soll nicht zuletzt, so eine landläufige Vorstellung, die Garantie von Grundrechten und Freiheiten „von der Agenda“ nehmen, um diese den Wechselfällen der tagespolitischen Opportunität zu entziehen. Vor dem Hintergrund auch der Bedrohung durch einen erstarkenden politischen Extremismus: Inwiefern wird das Grundgesetz dieser Funktion gerecht?

Roth: Sollte die Frage dahin zu verstehen sein, inwieweit das Grundgesetz sicherstellt, dass die Grundrechte nicht zum „Spielball“ der Tagespolitik gemacht werden, ist zunächst darauf zu verweisen, dass insbesondere sämtliche Eingriffe in Grundrechte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Der Gefahr eines allzu „lockeren“ Umgangs des Gesetzgebers oder auch der Verwaltung mit Grundrechtsrechtseinschränkungen steht im Übrigen schon die außerordentlich große praktische Bedeutung entgegen, die den Grundrechten in der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik zukommt. Das Grundgesetz hat besonderen Wert auf die tatsächliche Wirksamkeit der Grundrechte gelegt: Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG räumt dem Einzelnen im Falle der Beeinträchtigung seiner Grundrechte einen Anspruch auf möglichst wirkungsvollen gerichtlichen Rechtschutz ein, der in erster Linie von den Verwaltungsgerichten gewährt wird. Aus meiner langjährigen richterlichen Erfahrung kann ich die enorme praktische Relevanz der Grundrechte bei der Anwendung und Auslegung von Rechtsvorschriften nur bestätigen. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Organe grundsätzlich nicht leichtfertig das – anhand der ausgefeilten Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG durchaus prognostizierbare – Risiko eines verlorenen Prozesses eingehen. Schließlich stellt das Grundgesetz mit der an das BVerfG zu richtenden Verfassungsbeschwerde dem Bürger einen zusätzlichen Rechtsbehelf gegen Grundrechtsverletzungen zur Verfügung, der subsidiär gegenüber dem grundrechtlichen Rechtschutz durch die Fachgerichte ist.

PUBLICUS: Die aktuelle politische Situation hat die Diskussion wieder entfacht: Sind die Instrumente, die das Grundgesetz unter dem vom BVerfG geprägten Begriff der „wehrhaften Demokratie“ zur Bekämpfung seiner Gegner bereithält, aus Ihrer Sicht ausreichend?

Roth: Für das in öffentlichen Debatten in diesem Kontext häufig vorrangig erörterte Instrument des Parteiverbots bestehen hohe Hürden. Es sollte in einer freiheitlichen Demokratie Ultima Ratio sein. Das OVG Nordrhein-Westfalen hat gerade entschieden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD und ihre Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland (JA)“ als Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber unterrichten dürfe. Dies spricht zumindest dafür, aufmerksam zu beobachten und sorgfältig zu prüfen, ob ein Parteiverbotsverfahren im Falle der AfD in Betracht kommt. Der Grund für das Scheitern des letzten NPD-Verbotsverfahrens, die politische Bedeutungslosigkeit der NPD, ist bei der AfD jedenfalls ersichtlich nicht gegeben. Einem Verbotsverfahren könnte entgegengehalten werden, dass bei einer breiten Anhängerschaft ein Verbot kontraproduktiv wäre, weil es zu einer noch größeren Solidarisierung mit der Partei führen würde. In jedem Fall sollte ein solches Verfahren sorgfältig vorbereitet und nur initiiert werden, wenn es gute Aussichten auf Erfolg bietet.

Neben dem Parteiverbot kennt das Grundgesetz weitere Möglichkeiten des Schutzes der Demokratie, wie etwa den Ausschluss von der Parteienfinanzierung, das Vereinigungsverbot, den Ausspruch der Grundrechtsverwirkung sowie das Vorgehen gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die das Gebot der Verfassungstreue verletzen.

Ich halte diese Möglichkeiten und Instrumente im Grundsatz für wirksam. Doch es wäre ein Trugschluss, würde man meinen, allein hierdurch könnte der Fortbestand von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland dauerhaft gesichert werden. Der Einsatz dieser Instrumente wird nicht dazu führen, dass antidemokratische Meinungen oder Aktivitäten einfach verschwinden oder das Internet nunmehr frei von Hass, Hetze und Desinformation bleibt. Vielmehr ist vor allem der Bürger aufgerufen, durch die Ausübung seines aktiven bzw. auch seines passiven Wahlrechts an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken und demokratische Kräfte zu stärken. Insoweit sehe ich mit Sorge, dass in manchen Gemeinden eine Atmosphäre entstanden ist, die Bürger vor einem kommunalpolitischen Engagement zurückschrecken lässt. Auch im Übrigen ist die demokratische Gesellschaft auf „wehrhafte Bürger“, die verfassungsfeindliche Meinungen nicht tolerieren und sich aktiv für freiheitliche und demokratische Werte einsetzen, notwendigerweise angewiesen. Insoweit war es ein positives Signal, dass sich in den letzten Monaten so viele unterschiedliche Menschen bei Demonstrationen für den Schutz der Demokratie haben mobilisieren lassen. Gleiches gilt für die gemeinsame Kampagne einer Vielzahl deutscher Unternehmen gegen Extremismus, Populismus und Rassismus und für eine Unterstützung pro-europäischer Parteien bei der Europawahl am 9. Juni. Dass es beim gesellschaftlichen Engagement für die Demokratie – in welcher Form und auf welcher Ebene auch immer – noch „Luft nach oben“ gibt, dürfte allerdings kaum zu bezweifeln sein. Dabei ist es beispielsweise auch wichtig, den „digitalen Raum“ nicht extremen oder populistischen Kräften zu überlassen.

PUBLICUS: Sind trotz der Vielzahl der Änderungen weitere Anpassungen erforderlich – und wenn ja: Welche?

Roth: Das BVerfG sollte durch eine Änderung des Grundgesetzes davor geschützt werden, dass es von einer etwaigen populistischen oder extremistischen Regierung mit der entsprechenden Parlamentsmehrheit „gekapert“ und so die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Regierungshandelns eingeschränkt wird. Dass dies nicht bloße Verfassungstheorie ist, haben Beispiele aus Ungarn oder Polen in der Vergangenheit gezeigt.

Viele Fragen rund um die Organisation des Gerichts und die Wahl der Richterinnen und Richter sind nicht im Grundgesetz, sondern im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt, das der Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit ändern kann. So könnte eine populistische oder extremistische Regierung mit einfacher Mehrheit beispielsweise die Regeln über das Wahlverfahren (Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl) ändern und nunmehr nur noch „ihre“ Kandidatinnen und Kandidaten „nach Karlsruhe“ entsenden. Auch die Vorschriften über die Amtszeit von zwölf Jahren oder zum Ende des 68. Lebensjahres, über die Aufteilung in zwei Senate mit je acht Richterinnen und Richtern oder die Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG könnte mit einfacher Mehrheit abgeändert werden.

Würde man nun diese für die Kontrollfunktion des Gerichts wesentlichen Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes in das Grundgesetz aufnehmen, wären sie insoweit „abgesichert“, als sie nunmehr nur noch mit der für eine Verfassungsänderung nötigen Zweidrittelmehrheit abgeändert werden könnten. Damit wären allerdings nicht alle Probleme gelöst. So ist etwa das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei der Richterwahl mit dem Risiko verbunden, dass schon eine Sperrminorität in Bundestag oder Bundesrat – ggf. über lange Zeiträume – die Neubesetzung des Gerichts bei Ablauf der Amtszeit von Richtern verhindern könnte.

Mit Blick auf bereits vorliegende Vorschläge etwa des BMJ und der von der Justizministerkonferenz eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wehrhafter Rechtsstaat“ wäre es wünschenswert, wenn die im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien in absehbarer Zeit ihrer gemeinsamen Verantwortung in dieser Frage gerecht würden und eine entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg brächten.

Im Übrigen sollte von der Möglichkeit einer Verfassungsänderung nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht werden.

PUBLICUS: Wie stehen Sie z. B. zu einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge?

Roth: Was eine gesetzliche Einschränkung anbelangt, ist zunächst auf das Normierungsdefizit in diesem Bereich hinzuweisen. Rechtliche Grundlage für das Arbeitskampfrecht einschließlich des Streikrechts ist grundsätzlich allein die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit. Voraussetzungen und Grenzen von Arbeitskampfmaßnahmen ergeben sich demzufolge maßgeblich aus Richterrecht, insbesondere den einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, das sich – auch was die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betrifft – stark am jeweiligen Einzelfall orientiert. Ein Streik- oder Arbeitskampfgesetz besteht nicht. Deshalb bin ich bereits skeptisch, ob der Gesetzgeber überhaupt den Willen aufbrächte, seine bisherige Zurückhaltung zu überwinden und – etwa für Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge mit massiven Auswirkungen auf die Allgemeinheit oder die Rechte Dritter – Regelungen zur heiklen Materie des Streikrechts zu treffen.

Inhaltlich kann man die Frage stellen, ob – punktuelle – Einschränkungen mit Blick auf die erhebliche Bedeutung des Streikrechts für die Wahrnehmung der Interessen der Beschäftigten tatsächlich zwingend erforderlich sind, zumal die Arbeitsgerichte eine (zugegebenermaßen streikrechtsfreundliche) Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen. Gegen die Notwendigkeit einer gesetzlichen Beschränkung spricht, dass in Deutschland im internationalen Vergleich mit anderen Industrieländern wenig gestreikt wird. Dass bisweilen ein anderer Eindruck entsteht, mag auch an der öffentlichkeitswirksamen Art und Weise liegen, wie manche Bahnstreiks von einzelnen Akteuren der Tarifparteien ausgefochten wurden.

Abgesehen davon, dass Verfassungsänderungen im Zweifel nicht unter dem Eindruck tagespolitischer Kontroversen erfolgen sollten, sehe ich für eine Grundgesetzänderung in diesem Kontext derzeit weder einen hinreichenden Anlass noch die zwingende Notwendigkeit.

PUBLICUS: Was verbinden Sie mit dem von Dolf Sternberger geprägten Begriff des „Verfassungspatriotismus“, und halten Sie ihn für eine geeignete Kategorie, um auch heute noch angemessen über die Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats zu sprechen?

Roth: Meines Erachtens kann mit Blick auf die mittlerweile 75-jährige Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes auch heute der Idee des Verfassungspatriotismus eine Berechtigung nicht abgesprochen werden. Wie schon ausgeführt, ist Deutschland eine vergleichsweise stabile und wirtschaftlich starke Demokratie sowie mittlerweile ein angesehenes Mitglied der Völkergemeinschaft; seine Bürger genießen ein Höchstmaß an individueller Freiheit. Dass diese mit dem Grundgesetz eng verknüpfte Entwicklung durchaus Freude oder auch Stolz auszulösen geeignet ist, liegt auf der Hand. Auch die Ergebnisse repräsentativer Befragungen unterstreichen die hohe Wertschätzung des Grundgesetzes als solches und wichtiger in ihm enthaltener Verbürgungen. Die Diskussion über die Existenz bzw. die Legitimation anderer Bezugspunkte eines deutschen Nationalbewusstseins muss an anderer Stelle geführt werden.

PUBLICUS: Aus Artikel 140 des Grundgesetzes sowie den Bezugnahmen auf die Weimarer Verfassung ergibt sich das Verbot der Staatskirche sowie die institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Von den neun bundesweiten Feiertagen in Deutschland sind lediglich drei Feiertage ohne religiösen Bezug. Wird damit der Trennung von Staat und Kirche angemessen Rechnung getragen?

Roth: Der Rechtsprechung des BVerfG liegt kein striktes Verständnis der nach dem Grundgesetz gebotenen Trennung von Staat und Kirche zugrunde. Der säkulare Staat ist vielmehr offen für ein Verhältnis wechselseitiger Zugewandtheit und Kooperation. Speziell für den Feiertagsschutz stellt die Verfassung klar, dass die staatlich anerkannten Feiertage gesetzlich geschützt „bleiben“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV). Die Verfassung selbst nimmt damit in hinsichtlich der Feiertage eine Wertung vor, die auch in der christlich-abendländischen Tradition wurzelt und kalendarisch an diese anknüpft. Damit wird dem Gesetzgeber auch die Befugnis zuerkannt, entstehungsgeschichtlich vorgefundene Feiertage fortzuschreiben. Vor diesem Hintergrund dürfte das in der Fragestellung beschriebene Verhältnis von Feiertagen mit und ohne religiösen Bezug verfassungsrechtlich unbedenklich sein. Für Änderungen hat der Gesetzgeber zwar einen Spielraum, er muss aber das verfassungsrechtlich vorgegebene Leitbild beachten. Zuständig hierfür sind im Übrigen grundsätzlich die Landesgesetzgeber.

PUBLICUS: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, den 23. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären und auf einen der kirchlichen Feiertage zu verzichten?

Roth: Ein derartiges Vorhaben hätte zunächst die Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes in den Blick zu nehmen. Während für die Anerkennung des 23. Mai zum (neben dem 3. Oktober) weiteren nationalen Feiertag dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz „kraft Natur der Sache“ zustünde, wären für den Verzicht auf einen der kirchlichen Feiertage jeweils die Länder zuständig. Damit stellt sich bereits die Frage, ob bzw. wie ein solches Vorhaben bundeseinheitlich realisiert werden könnte.

In der Sache frage ich mich, wie die staatliche Anordnung eines weiteren nationalen Feiertags auf Kosten eines historisch gewachsenen und den Menschen vertrauten religiösen Feiertags beim Bürger „ankäme“. Anders als beim 3. Oktober, der als Tag der Deutschen Einheit 1990 im Einigungsvertrag, also im Kontext des historischen Moments der deutschen Wiedervereinigung, zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland erklärt wurde, würde es mit Blick auf das langjährige Bestehen des Grundgesetzes beim 23. Mai an einem vergleichbar konkreten und nachvollziehbaren Anlass fehlen. Auch mit Blick darauf, dass die sehr „späte“ Heraufstufung des 23. Mai zum arbeitsfreien Feiertag möglicherweise als „künstlich“ empfunden würde, bin ich skeptisch, ob die Einführung dieses Feiertags die erwünschte identitätsstiftende Wirkung entfalten würde.

PUBLICUS: Sollte das Grundgesetz – nach lange vollzogener Herstellung der Deutschen Einheit – den Titel „Verfassung“ bekommen?

Roth: Das Grundgesetz wurde ursprünglich als Provisorium betrachtet; der Begriff „Verfassung“ wurde bewusst vermieden. Man hatte die Sorge, eine endgültige „Verfassung“ könnte die Teilung Deutschlands befördern bzw. zementieren. Die verpasste Chance einer gemeinsamen neuen Verfassung im zeitlichen Kontext der Wiedervereinigung (bekanntermaßen erklärte die Volkskammer gemäß Art. 23 GG a. F. den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) wird teilweise als deren „Geburtsfehler“ betrachtet. Auch die Möglichkeit, zusammen mit der ersten Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments im Dezember 1990 eine Volksabstimmung zu der Frage abzuhalten, ob das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung erklärt werden soll, wurde nicht wahrgenommen.

Gleichwohl halte ich es nicht für angezeigt, dem Grundgesetz heute noch förmlich den Titel „Verfassung“ zu verleihen. Ausweislich der geänderten Präambel ist das Grundgesetz im Zuge der Wiedervereinigung der Sache nach zur Verfassung des gesamten Deutschland erklärt worden. Das Fehlen des Ausdrucks „Verfassung“ steht dem nicht entgegen. Auch in den Niederlanden und in Finnland wird die gültige Verfassung als Grundgesetz bezeichnet. Im Übrigen würde eine Umtitulierung nach meiner Auffassung der 75-jährigen (Verfassungs-)Geschichte des Grundgesetzes nicht gerecht. Es hat sich seit der Zeit der jungen Bundesrepublik bis zum heutigen Tag als für Staat und Gesellschaft maßgebliche Grundordnung bestens bewährt. Auch angesichts der hohen Zustimmungswerte bei repräsentativen Umfragen sollte es – in Anlehnung an das Prinzip „bekannt und bewährt“ – auch bei der vertrauten Bezeichnung Grundgesetz bleiben.

PUBLICUS: Zu guter Letzt: Was wünschen Sie dem Grundgesetz zum 75. Geburtstag?

Roth: Die Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie sind seit geraumer Zeit insbesondere durch das Anwachsen des Rechtsextremismus bzw. Rechtspopulismus stark gewachsen. Deutschland ist von innen, aber auch von außen erheblichen antidemokratischen Kräften ausgesetzt. Insoweit steht dem Grundgesetz eine besondere Bewährungsprobe bevor. Dies gilt gerade auch mit Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Wahlen des Europaparlaments, der Landtage in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie auf kommunaler Ebene.

Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir, dass die verantwortlichen Organe der Gesetzgebung, der Exekutive und der Justiz die im Grundgesetz angelegten Möglichkeiten und Instrumente klug und besonnen einsetzen, um der neuen Dimension innerer wie äußerer Gefahren für die Demokratie zu begegnen und deren Stabilität zu sichern. Vor allem jedoch wünsche ich mir, dass noch mehr Bürgern bewusst wird, dass wir mit dem Grundgesetz zwar eine der besten Verfassungen der Welt haben, dass das darin enthaltene Versprechen von Freiheit, Demokratie und Rechtstaat aber ohne ein deutliches Engagement der Gesellschaft bzw. des einzelnen Bürgers zur Verteidigung dieser Werte letztlich nicht eingehalten werden kann.

 

Zur Person:

Dr. Andreas Roth war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2023 Vorsitzender Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Er gehört der Schriftleitung der im Richard Boorberg Verlag erscheinenden „Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg“ an.

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Die Serie: 75. Jubiläum des Grundgesetzes

 

 

 

 
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