01.05.2023

Präventivgewahrsam gegenüber „Klimaaktivisten“

Urteil des VG Gelsenkirchen vom 10.08.2022 – 17 K 4838/20

Präventivgewahrsam gegenüber „Klimaaktivisten“

Urteil des VG Gelsenkirchen vom 10.08.2022 – 17 K 4838/20

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Die Rechtmäßigkeit des Präventivgewahrsams erfordert den Unwillen, eine befürchtete Straftat zu unterlassen. Der Betroffene muss, nachdem auf die zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen haben, die darauf hindeuten, dass der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird.

Sachverhalt

Nachdem das Polizeipräsidium S. am Abend des 31.01.2020 Hinweise darauf erhalten hatte, dass sog. Klimaaktivisten, u. a. aus der bereits im Hambacher Forst aktiven Gruppierung „Ende Gelände“, beabsichtigten, in den frühen Morgenstunden des 02.02.2020 auf dem Gelände des Steinkohlekraftwerks Datteln 4 in Datteln eine Protestaktion durchzuführen, wurden im Rahmen einer sogenannten besonderen Aufbauorganisation (BAO) polizeiliche Aufklärungskräfte im Umfeld des Steinkohlekraftwerks eingesetzt.

Am 01.02.2020 um 23.17 Uhr wurden die Kläger in unmittelbarer Nähe des Kraftwerkbereichs auf der M.-straße in X. von Polizeikräften in einem Pkw mit auswärtigem Kennzeichen angetroffen und kontrolliert. Auf Nachfrage der Beamten gaben die Kläger an, dass man auf dem Weg zu Freunden in X. sei, die man aber namentlich nicht benennen wolle, um niemanden mit „reinzuziehen“. Im Fahrzeug befand sich neben Schlafsäcken und Lebensmitteln ein großer Rucksack mit Wechselkleidung.


In der Oberbekleidung des Klägers zu 1., der nach den Feststellungen des Beamten ebenso wie der Kläger zu 3. wetterfeste Kleidung und Wanderschuhe trug, fanden die Beamten eine Stirnlampe. Eine Identitätsfeststellung und ein Abgleich mit polizeilichen Datenbanken ergaben, dass die Klägerin zu 2. und der Kläger zu 3. dem in N. ansässigen Institut für U. und Q. zuzurechnen waren, welches nach polizeilichen Erkenntnissen eine Nähe zur Bewegung „Ende Gelände“ aufweise und Hinweise auf Teilnahme an einer Störaktion zum Nachteil eines Industrieunternehmens vorlagen. Während der Durchsuchung des Fahrzeugs stellten die Polizeibeamten auf dem Handy des Klägers zu 3. eine Textnachricht mit dem Wortlaut „Viel Erfolg“ fest.

Zur Verhinderung der Begehung von Straftaten wurden die Kläger in Gewahrsam genommen und am 02.02.2020 gegen 1.45 Uhr in das Polizeipräsidium S. eingeliefert. Mit an das Amtsgericht S. gerichtetem Faxschreiben beantragte das Polizeipräsidium am Morgen des 02.02.2020 gegen 6.00 Uhr eine Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung. Ausweislich eines Vermerks der zuständigen Amtsrichterin vom 02.02.2020 bat diese in einem am selben Tag gegen 6.30 Uhr mit einem Beamten des Polizeipräsidiums S. geführten Telefongespräch um nähere Angaben zur aktuellen Lage vor Ort.

Ausweislich des genannten amtsrichterlichen Vermerks meldete sich anschließend das Polizeipräsidium mehrfach telefonisch zurück und gab dabei u. a. an, dass sich ca. 100 Personen aus dem linken Spektrum vor Ort versammelt und das Gelände um das Kraftwerk besetzt hätten. Die Amtsrichterin ordnete sodann mündlich in einem mit einem Beamten des Polizeipräsidiums S. geführten Telefongespräch an, dass die Kläger um 9.00 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam zu entlassen seien. Am 11.02.2020 haben die Kläger beim Amtsgericht S. jeweils beantragt festzustellen, dass ihre Ingewahrsamnahme rechtswidrig gewesen sei. Ausweislich der vergebenen Registerzeichen wurden die Verfahren vom Amtsgericht als allgemeine Zivilsachen geführt.

Nachdem der Prozessbevollmächtigte der Kläger angefragt hatte, ob im Verfahren betreffend die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung ein Beschluss vorliege, teilte die Berichterstatterin mit Verfügung vom 18.03.2020 mit, dass „eine über den bereits vorliegenden Vermerk hinausgehende förmliche Entscheidung“ nicht ergangen sei und bat gleichzeitig um Mitteilung, sofern eine Beschwerde nach § 58 Abs. 1 FamFG oder ein anderer Rechtsbehelf beabsichtigt sei; der Antrag vom 11.02.2020 werde als Feststellungsklage gewertet. Sodann legten die Kläger beim AG S. „gegen die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung am 02.02.2020 Beschwerde“ ein. Die Verfahren wurden beim Amtsgericht S. als Beschwerdeverfahren nach FamFG geführt. Mit Schriftsätzen vom 18.07.2022 haben die Kläger diese Beschwerden zurückgenommen. Eine Entscheidung des Amtsgerichts über die Beschwerden war bis dahin nicht ergangen. Das Amtsgericht verwies die Verfahren an das zuständige Verwaltungsgericht.

PolG NRW – § 35 Abs. 1 Nr. 2, § 36

Die Rechtmäßigkeit des Präventivgewahrsams gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW erfordert, dass sich der Betroffene unwillig gezeigt hat, die befürchtete Straftat zu unterlassen. Der Betroffene muss, nachdem er auf die konkret zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen haben, die darauf hindeuten, dass er der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird.

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Urt. v. 10.08.2022 – 17 K 4838/20 – Verlags-Archiv Nr. 2023-02-05)

Aus den Gründen

Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme der Kläger durch Beamte des Polizeipräsidiums S. in der Nacht vom 01.02. auf den 02.02.2020 rechtswidrig gewesen ist.

An dieser Prüfung ist das Gericht nicht etwa deshalb gehindert, weil das Amtsgericht S. über die Zulässigkeit (und Fortdauer) der Freiheitsentziehung im Rahmen seiner sich aus § 36 PolG NRW ergebenden Zuständigkeit bereits entschieden hat und diese Entscheidung durch Rücknahme der dagegen von den Klägern erhobenen Beschwerden Rechtskraft erlangt haben könnte. Offenbleiben kann zudem, ob die am 02.02.2020 allein mündlich und ohne Anhörung der Kläger ergangene amtsrichterliche Entscheidung, die nicht in einem förmlichen Beschluss (vgl. § 38 FamFG), sondern allein in einem von der Amtsrichterin gefertigten Vermerk schriftlich festgehalten worden ist, überhaupt eine der Rechtskraft zugängliche Entscheidung darstellt. Eine das Gericht für die hier streitgegenständliche Frage bindende Wirkung käme der „Entscheidung“ wegen ihres rein exekutivistischen Charakters jedenfalls nicht zu.

Für die Prüfung der Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 Abs. 1 VwGO ist wegen der Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts S. kein Raum mehr. Die Verweisung ist bindend (§ 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Etwas anderes könnte nur bei einer willkürlichen Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts angenommen werden, für das die Kammer indes keine Anhaltspunkte sieht. Die Frage einer unzulässigen doppelten Rechtshängigkeit der Sache (§ 17 Abs. 1 Satz 2 GVG) wegen der von den Klägern beim Amtsgericht S. eingeleiteten Beschwerdeverfahren nach dem FamFG stellt sich schon deshalb nicht, weil die Kläger ihre Beschwerden inzwischen zurückgenommen haben.

Im Übrigen ist zur Klarstellung auszuführen, dass Vieles dafür spricht, dass bei sachgerechter Bewertung der unter dem 11.02.2020 gestellten Feststellungsanträge bereits diese als Beschwerden nach §§ 58, 62 FamFG hätten aufgefasst werden können und somit die danach unter dem 03.04.2020 ausdrücklich als solche erhobenen und auf dasselbe Rechtsschutzziel gerichteten und nunmehr zurückgenommenen Beschwerden dem Einwand der doppelten Rechtshängigkeit ausgesetzt waren.

Der vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Einwand, die beim Amtsgericht erhobenen Feststellungsklagen seien von vornherein unzulässig gewesen – als Rechtsmittel sei allein die Beschwerde nach dem FamFG in Betracht gekommen – und an dieser Unzulässigkeit habe sich nach Verweisung an das Verwaltungsgericht nichts geändert, greift nicht durch. Das vorliegende nunmehr den Regelungen der VwGO unterliegende Klageverfahren ist im allein maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, wie im Folgenden weiter zu zeigen sein wird, als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Auf lediglich im Zeitpunkt der Klageerhebung etwaig vorliegende Zulässigkeitsmängel kommt es nicht an.

Die Klage ist auch im Übrigen nach Erledigung der polizeilich gegen die Kläger angeordneten Ingewahrsamnahme als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Die Kläger haben wegen des hohen Wertes des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, in das durch die fragliche Ingewahrsamnahme tiefreichend eingegriffen worden ist, nach ständiger Rechtsprechung ein fortwährendes Rechtsschutzinteresse an einer gerichtlichen Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs.

Es kann in der vorliegenden Fallgestaltung daher nicht ernstlich bezweifelt werden, dass die Kläger zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes einen Anspruch darauf haben, den erfolgten Eingriff in ihre Grundrechte spruchrichterlich unter Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem förmlichen Verfahren überprüfen zu lassen.

Die Voraussetzungen des hier allein in Betracht kommenden § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.

Die Wendung „unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit“ ist vor dem Hintergrund des hohen Ranges der Freiheit der Person zu verstehen. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss, gehört der Schutz der Allgemeinheit und Einzelner vor mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten. Der Begriff „unmittelbar bevorstehend“ ist gleichzusetzen mit „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ oder „gegenwärtige Gefahr“. Hieraus ergeben sich besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts.

Darüber hinaus stellt der Begriff im Regelfall strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad. Demgemäß müssen nachvollziehbare, bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und zudem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Bloße Vermutungen, vage Verdachtsgründe und ähnliches reichen hierfür nicht.

Es ist bereits fraglich, ob die Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts hier vorlagen. Nach den im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der streitigen Maßnahme der Polizei vorliegenden Informationen sollte die befürchtete Aktion von Klimaaktivisten in den frühen Morgenstunden des 02.02.2020 stattfinden. Zwischen der gegen Mitternacht erfolgten Ingewahrsamnahme der Kläger und dem befürchteten Schadenseintritt lagen mithin mehrere Stunden. Von daher unterliegt die Annahme des Beklagten, die Begehung von Straftaten habe unmittelbar bevorgestanden, gewissen Zweifeln, denen das Gericht jedoch nicht weiter nachgehen muss, wie sich aus den folgenden Erwägungen ergibt.

Es kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass der hier fragliche Schaden in Gestalt der Begehung von Straftaten durch die Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Die Situation, in der die Kläger in einem Pkw mit auswärtigem Kennzeichen in unmittelbarer Nähe zum Kraftwerk Datteln 4 in den Abendstunden des 01.02.2020 um 23.17 Uhr angetroffen wurden, lässt einen tragfähigen Rückschluss auf von diesen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geplante Straftaten nicht zu. Die im Fahrzeug bzw. bei den Klägern vorgefundenen Gegenstände (Schlafsäcke, Lebensmittel, Stirnlampe) lassen ebenso wie ihre Bekleidung oder die auf dem Handy des Klägers zu 3. vorgefundene Nachricht („Viel Erfolg“) zwar durchaus den Schluss zu, dass sie seinerzeit wegen der geplanten Protestaktion von Klimaaktivisten angereist waren. Das stellen die Kläger auch nicht in Abrede, wenn sie vortragen, sie hätten die Protestaktion beobachten wollen.

Für eine Beteiligung der Kläger an strafbaren Handlungen im Rahmen der Aktion geben die soeben beschriebenen Umstände indes nichts Hinreichendes her. An dieser Bewertung ändert sich auch dadurch nichts, wenn man in Rechnung stellt, dass den handelnden Beamten im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der Ingewahrsamnahme die Information vorlag, dass die Kläger dem linken politischen Spektrum angehören und „einer“ der Kläger „bei einer Störaktion von einem Kraftwerk“ bereits in Erscheinung getreten sein soll.

Erkenntnisse über einschlägige Vorstrafen der Kläger lagen (und liegen) nicht vor. Vor diesem Hintergrund stellt auch die vom Beklagten hervorgehobene Nähe der Kläger zur Bewegung „Ende Gelände“ als solche keinen tragfähigen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür dar, dass die Kläger am 02.02.2020 im Zusammenhang mit der Protestaktion gegen das Kraftwerk tatsächlich Straftaten begehen wollten. Die Gefahrenprognose der handelnden Polizeibeamten stützt sich auf bloße, nicht hinreichend tatsachengestützte Vermutungen.

 

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 2/2023, Lz. 742.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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