15.04.2012

Paradigmenwechsel im Flüchtlingsrecht?

Bayern schafft Recht auf Auszug in eine Privatwohnung

Paradigmenwechsel im Flüchtlingsrecht?

Bayern schafft Recht auf Auszug in eine Privatwohnung

Auch die Residenzpflicht wurde gelockert. | © fotografiche.eu - Fotolia
Auch die Residenzpflicht wurde gelockert. | © fotografiche.eu - Fotolia

Politisch Verfolgten wird in Deutschland Asyl nach Art. 16a des Grundgesetzes sowie Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Das Flüchtlingsrecht ist daher überwiegend durch Bundesrecht, beeinflusst durch Vorgaben auf europäischer Ebene, geregelt. Die grundlegenden Regelungen für Flüchtlinge finden sich im Aufenthaltsgesetz (AufenthG), im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sowie im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das entgegen seinem Titel auch für die sogenannten Geduldeten (= Ausländer, die eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzen) anwendbar ist.

Indes lassen vor allem die beiden letztgenannten Bundesgesetze den Ländern durchaus Spielraum hinsichtlich der Frage der Unterbringung, Verpflegung und Mobilität von Flüchtlingen.

So schreibt etwa § 53 Abs. 1 AsylVfG nur vor, dass Ausländer, die nicht mehr verpflichtet sind in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden sollen. § 3 Abs. 2 AsylbLG sieht ebenfalls die Möglichkeit der privaten Wohnsitznahme vor. Und nach der Änderung des § 58 Abs. 6 AsylVfG zum 01. 07. 2011 (BGBl. I S. 1266) können die Landesregierungen den Asylbewerbern noch weitergehend per Rechtsverordnung erlauben, sich vorübergehend außerhalb des Bezirks ihrer Ausländerbehörde aufzuhalten. Die rechtliche und tatsächliche Situation von Asylbewerbern und sonstigen Ausländern ist daher von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden.


Die rechtliche Situation in Bayern bis zum Jahre 2010

Bayern verstand sich in diesem Bereich ebenso wie bei dem Thema „Innere Sicherheit“ immer als „Marktführer“ einer restriktiven Flüchtlingspolitik. Als bestes Beispiel mag hierfür § 7 Abs. 5 Satz 3 der bayerischen Asyldurchführungsverordnung dienen, der explizit ausführt, dass die Verteilung und Zuweisung der Asylbewerber ihre Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern soll. Von diesem Grundsatz ausgehend, sah das bayerische Gesetz über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz) von 2002 daher auch nur in absoluten Ausnahmefällen vor, Personen außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen. Ebenso konsequent wurde – im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern – am Sachleistungsprinzip des § 3 Abs. 1 AsylbLG festgehalten. Die Flüchtlinge bekommen hiernach Essen, Kleidung und sonstige Gebrauchsgüter vom Freistaat gestellt und erhalten (außer 40,90 Euro Taschengeld im Monat) keine Geldleistungen. Und die Mobilität der in Bayern wohnenden Asylbewerber war grundsätzlich auf ihren Landkreis bzw. auf die kreisfreie Stadt beschränkt, was zur Folge hatte, dass etwa Personen aus dem Landkreis München nur dann in die Stadt München fahren durften, wenn die Ausländerbehörde dies für notwendig hielt und ihnen eine Verlassenserlaubnis erteilte (vgl. zur Rechtswidrigkeit der Gebührenerhebung derartiger Erlaubnisse: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. 10. 2011, Az. 2 L 44/10).

Neue Entwicklungen

Seit einiger Zeit ist aber Bewegung in die bayerische Flüchtlingspolitik gekommen. Grund hierfür dürfte neben einer neuen Regierungskonstellation (seit Ende 2008 regiert in Bayern eine CSU/FDP-Koalition) auch ein weit beachteter Bericht in den ARD-Tagesthemen gewesen sein, der im April 2009 die teils menschenunwürdigen Zustände in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft anprangerte. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen erließ im April 2010 Leitlinien zu Art, Größe und Ausstattung von Gemeinschaftsunterkünften. Diese sehen unter anderem für jeden Bewohner eine regelmäßige Mindestwohnfläche von 7 Quadratmetern sowie eine angemessene Ausstattung der Sanitär- und Kücheneinrichtungen vor. Allein die Tatsache, dass derartige Selbstverständlichkeiten festgeschrieben werden mussten und von der Staatsregierung als großer Fortschritt bezeichnet wurden, lässt erahnen, wie es um die Zustände in manch bayerischer Sammelunterkunft bestellt war. Aus rechtlicher Sicht ist festzustellen, dass es sich hierbei um eine reine Verwaltungsvorschrift handelt, so dass der einzelne Flüchtling kein subjektives Recht auf Verwirklichung der in den Leitlinien festgelegten Mindeststandards hat.

Lockerung der Residenzpflicht

Einen direkten Anspruch auf weitergehende Bewegungsfreiheit kann der Asylbewerber hingegen aus der Ende 2010 auf Grund des § 58 Abs. 6 AsylVfG erlassenen „Verordnung über das vorübergehende Verlassen des räumlichen Bereichs der Aufenthaltsgestattung“ herleiten. § 1 regelt, dass sich Asylbewerber vorübergehend ohne Erlaubnis im ganzen Regierungsbezirk (in Bayern gibt es sieben Regierungsbezirke) und dem an den eigenen Landkreis angrenzenden Landkreis des benachbarten Regierungsbezirks aufhalten dürfen. Zwar kommen in den Genuss dieser Regelung nicht Personen, denen gegenüber ein erheblicher Verstoß gegen asylverfahrensrechtliche Mitwirkungspflichten schriftlich und unter Hinweis auf die Rechtsfolgen festgestellt wurde. Es ist aber nicht zu verkennen, dass durch diese „Asylverlassensverordnung“ ein Großteil der Flüchtlinge (die Regelung ist laut Auskunft des Bayerischen Staatsministerium des Innern auch analog auf Geduldete anzuwenden, die eine Residenzpflicht auf den Bezirk der Ausländerbehörde haben) durch diesen Gewinn an Mobilität erheblich besser gestellt ist. Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist zu sagen, dass sich Bayern mit dieser Regelung im „Mittelfeld“ befindet. Inzwischen haben einige Bundesländer die Bewegungsfreiheit auf das gesamte Bundesland ausgedehnt, andere halten noch immer an dem kleinstmöglichen Bereich des Landkreises (bzw. der kreisfreien Stadt) fest.

Änderung des Aufnahmegesetzes

Fast schon einem Paradigmenwechsel gleich kommt auf den ersten Blick die zum 01. 04. 2012 in Kraft getretene Änderung des Art. 4 des bayerischen Aufnahmegesetzes. Sie schreibt – erstmals in Bayern – bestimmten Flüchtlingen ein „Recht auf Auszug“ aus der Gemeinschaftsunterkunft im Gesetz fest (Art. 4 Abs. 4 Satz 1). So sind zunächst Familien und Alleinerziehende mit mindestens einem minderjährigen Kind nach Abschluss des behördlichen Erstverfahrens vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Auszug berechtigt, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Des Weiteren können die Personen, die seit über vier Jahren seit Abschluss des behördlichen Erstverfahrens in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen, eine Privatwohnung beziehen. Ist die erste Regelung aus humanitärer Sicht zu begrüßen, erscheint im zweiten Fall die Höchstgrenze von vier Jahren (zzgl. der Dauer des behördlichen Erstverfahrens, das bei ca. sieben Monaten liegt) unangemessen hoch. Denn es ist bei den Wohlfahrtsverbänden und Medizinern einhellige Meinung, dass schon ein Aufenthalt von mehr als einem Jahr in einer Gemeinschaftsunterkunft erhebliche psychische Belastungen mit sich bringt. Unabhängig hiervon sieht die Gesetzesänderung ein ganzes Bündel an Ausnahmen vor, die das Auszugsrecht wieder einschränken (siehe Art. 4 Abs. 5 Satz 1). So haben Personen keinen gebundenen, sondern gemäß Art. 4 Abs. 5 Satz 2 nur einen Ermessensanspruch auf Auszug, wenn sie straffällig geworden sind (allerdings erst ab einer bestimmten Tagessatzhöhe) oder vorsätzlich über ihre Identität täuschen oder nicht hinreichend an der Klärung ihrer Identität mitwirken und hierdurch die Aufklärung ihrer Identität erheblich erschweren oder sonst erheblich, fortgesetzt und dauerhaft gegen Mitwirkungspflichten verstoßen haben. Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass diese Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe dazu führen wird, dass es auch von der zuständigen Ausländerbehörde abhängen wird, ob das Vorliegen eines Ausnahmegrundes bejaht wird oder nicht. Positiv zu vermerken ist aber, dass die Gesetzesbegründung zumindest für den letzten Ausnahmegrund Beispiele nennt, welche Verhaltensweisen damit gemeint sind („Totalverweigerung“ und „Untertauchen“). Dennoch werden sich die Gerichte wohl verstärkt damit beschäftigen müssen, wann eine vorsätzliche Identitätstäuschung oder eine Nichtmitwirkung an der Identitätsklärung samt erheblicher Erschwernis derselben vorliegt. Dabei werden die Verwaltungsgerichte zu beachten haben, dass die objektive Beweislast für das Vorliegen eines Ausnahmegrundes bei den Behörden liegt, so dass bei Nichterweislichkeit der Ausnahme der Flüchtling ausziehen darf (vgl. hierzu das Protokoll der 73. Sitzung des Landtagsausschusses für Soziales, Familie und Arbeit vom 16. 02. 2012, S. 6).

Hinzuweisen ist letztlich noch auf Art. 4 Abs. 1. Nach dieser Vorschrift werden Personen, die dem § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG unterfallen, ausnahmslos von der Pflicht befreit, in Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen. Dies ist schon deshalb sinnvoll, weil diese „humanitären“ Flüchtlinge regelmäßig über eine längerfristige Aufenthaltsperspektive verfügen.

Fazit

In den letzten Jahren hat sich die Rechtslage für in Bayern wohnende Flüchtlinge ganz erheblich verbessert. Insbesondere die Lockerung der Residenzpflicht ist nicht nur ein Zuwachs an Rechten, sondern eine konkrete Verbesserung der Lebensqualität. Ob das im Aufnahmegesetz neu geschaffene Recht auf Auszug in eine Privatwohnung tatsächlich Einzug in die Lebenswirklichkeit findet oder aufgrund der weiten Ausnahmeregelungen kaum praktische Bedeutung erlangt, wird sich hingegen erst in der Zukunft entscheiden.

 

Rolf Merk

Rechtsanwalt, Rechts- und Grundsatzreferent der FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag, München
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