21.03.2022

Moderne Verwaltungsgerichtsbarkeit im Spannungsverhältnis zur Exekutive?

Rechtsprechungsspiegel

Moderne Verwaltungsgerichtsbarkeit im Spannungsverhältnis zur Exekutive?

Rechtsprechungsspiegel

Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Aktuelle Diskussionen über die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit zeigen, dass sich diese in einem – natürlich auch vorgegebenen – Spannungsverhältnis zur Exekutive zu befinden scheint, bspw. Wenn die Grenzen der richterlichen Kontrolle im Streit stehen1 und sogar selbst von der Richterschaft angemahnt werden.2 Überlagert werden diese Fragestellungen durch ständige aktuelle Entwicklungen im europäischen Recht, beispielhaft ersichtlich an der Rechtsprechung zu Fahrverboten für Pkw3 oder den Anforderungen der Umsetzung der Aarhus-Konvention, die neben Umweltverbänden auch Einzelpersonen eine Klagebefugnis ohne Darlegung eines eigenen subjektiven Interesses zugesteht.4 Diese Beitragsreihe will daher Einblicke in Entwicklungen und Tendenzen der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit geben.

 Verbot von Eingliederungshilfen durch Corona-Verordnung?

Das Thüringer Gesundheitsministerium hatte i. R. d. für das Land geltenden Eindämmungsmaßnahmen-VO betreffend SARS-CoV-2 folgende Regelung erlassen: Die Antragstellerin betreibt als Trägerin der Eingliederungshilfe zwei Einrichtungen mit besonderer Wohnform für Menschen mit geistiger Behinderung bzw. für psychisch Kranke und/oder seelisch behinderte Menschen in Thüringen. Sie war der Auffassung, wegen der Regelungen der o. g. VO könne sie ihre gesetzlich oder vertraglich geschuldete Verpflichtungen gegenüber den betreuten Personen nicht mehr erbringen. Das Thüringer OVG hat per einstweiliger Anordnung die o. g. Regelung außer Vollzug gesetzt: Die Bestimmung sei unbestimmt. Die Ausnahme in Satz 2 der Verordnung biete „keine klare Handlungsanweisung“, um zu konkretisieren, welche Maßnahmen etwa die Antragstellerin oder andere Einrichtungen noch erbringen könnten. Die Vorschrift erfülle außerdem den beabsichtigten Zweck nicht. Ziel sei es, Kontaktbeschränkungen im Hinblick zur Vermeidung von Infektionen zu erwirken. Da die Eingliederungshilfe i. d. R. in Form von Geld- oder Sachleistungen erbracht werde, sei diesbezüglich der Zweck der Maßnahme ohnehin hinfällig. Leistungen der Eingliederungshilfe als Dienstleistung könnten ebenfalls noch erbracht werden, denn das Personal der Antragstellerin käme infolge anderer zu erfüllenden Dienstleistungen ohnehin mit den Betreuten in Kontakt, soweit die VO dies erlaube. Von daher sei nicht nachvollziehbar, warum die Eingliederungshilfe nicht als Dienstleistung erbracht werden könne. Eine zusätzliche Gefahr sei hierdurch jedenfalls nicht gegeben. Das OVG stellt ausdrücklich klar, dass die Dienstleistung der Eingliederungshilfe allerdings auch nur von dem ohnehin bei der Antragstellerin beschäftigten und bereits involvierten Personal erbracht werden dürfe. OVG Thüringen, Beschluss vom 29.04.2020 – 3 EO 254/20 –. Quelle: OVG Thüringen, Pressemitteilung vom 29.04.2020.

Ergänzung

Nachdem das thüringische Gesundheitsministerium auf diesen Beschluss den Wortlaut der Verordnung umformuliert hatte (Zweite Thüringer Verordnung zur Verlängerung und Änderung der erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung zur Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2), hat die Antragstellerin erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht. Auch diesem hat das OVG Thüringen stattgegeben mit dem Hinweis darauf, dass die maßgebliche Vorschrift bereits durch den Beschluss vom 29.04.2020 bis zur Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug gesetzt worden sei. Eine außer Vollzug gesetzte Vorschrift könne aber nicht im Wortlaut geändert werden. Hierzu sei das Ministerium nicht mehr befugt gewesen, auch wenn das Ministerium dem Beschluss des Gerichts vom 29.04.2020 habe folgen wollen. OVG Thüringen, Beschluss vom 08.05.2020 – 3 EO 322/20 –. Quelle: OVG Thüringen, Pressemitteilung vom 08.05.2020.


E-Mail-Provider als Kommunikationsdienste?

Die Bundesnetzagentur hatte mit Bescheiden in den Jahren 2012 und 2014 das Unternehmen Google verpflichtet, den E-Mail-Dienst „Gmail“ als Telekommunikationsdienst anzumelden. Die hiergegen gerichtete Klage von Google war vor dem VG Köln erfolglos. Das OVG NRW setzte die Berufung von Google zunächst aus und legte dem EuGH den Rechtsstreit mit der Frage vor, ob sog. Web-Mail- Dienste als Telekommunikationsdienste anzusehen sind; hierbei wurde zugrunde gelegt, dass ein Web-Mail-Dienst Leistungen über das offene Internet erbringt, ohne dass dem Kunden selbst ein Internetzugang zugeteilt wird. Nach Entscheidung des EuGH 2019 hat das OVG NRW nun Google in der Berufung Recht gegeben und die Bescheide der Bundesnetzagentur aufgehoben: Gmail sei nicht als Telekommunikationsdienst anzusehen, weil es nur beim Versenden und Empfangen der Nachrichten tätig werde, indem etwa den E-Mail-Adressen entsprechende IPAdressen zugeordnet werden, Nachrichten in das offene Internet eingebracht bzw. empfangen werden, um sie an die Empfänger weiterzugegeben. Dies genüge nicht für die Einstufung als Telekommunikationsdienst. Vielmehr bildeten die Internetanbieter bzw. die verschiedenen Netzbetreiber sozusagen das offene Internet; diese stellten für das Funktionieren von Gmail die erforderlichen Signalübertragungen her bzw. ermöglichten diese. Diese Tätigkeit der Netzanbieter sei Gmail aber in keiner Weise zuzurechnen. Gmail sei daher nicht als Telekommunikations-Dienst anzusehen. OVG NRW, Urteil vom 05.02.2020 – 13 A 17/16 –. Quelle: OVG NRW, Pressemitteilung vom 05.02.2020.

Einbeziehung „löschungsreifer“ Verstöße im Straßenverkehr bei Strafzumessung?

Der Kläger hatte mehrere Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr begangen, letztmalig am 19.07.2015. Hiernach hatte er einen Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister erreicht, worauf ihm unter Hinweis auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG mit Bescheid vom 24.11.2016 die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Danach gilt man bei Erreichen dieses Punktestandes als ungeeignet zum Führen von Kfz. Der Fahrer wehrte sich verwaltungsgerichtlich mit der Begründung, dass Eintragungen bis zu vier Punkten zum Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheides „löschungsreif“ gewesen wären. Daher hätten diese schon zu löschenden „Punkte“ bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürften. Das VG wies die Klage mit der Begründung ab, maßgeblich sei der Punktestand am Tattag (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG); und dies wäre der 19.07.2015 gewesen. An diesem Tag seien die Eintragungen noch nicht löschungsreif gewesen. Die Berufung des Fahrers zum BayVGH war erfolgreich; auch das BVerwG bestätigte den BayVGH: Gem. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG habe ein Verwertungsverbot vorgelegen. Dieses greife auch, wenn die „Löschungs- oder Tilgungsreife“ zwar nicht zum Tattag, aber zum Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme vorgelegen hat. Erfolgt aber die Löschung vor Erlass des Bußgeldbescheides bzw. sind die Voraussetzungen für die Löschung vor diesem eingetreten, hat dies zur Folge, dass die erfassten Verstöße nicht bei der Strafzumessung im Weiteren berücksichtigt werden dürfen. Nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG erfolgt die Löschung einer Eintragung im Fahreignungsregister ein Jahr nach sog. Tilgungsreife. Daher verdränge das absolute Verwertungsverbot das Tattagprinzip i. S. v. § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG. Die löschungsreifen Punkte des Fahrers hätten daher bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürfen. BVerwG, Urteil vom 18.06.2020 – 3 C 14.19 –. Quelle: BVerwG, Pressemitteilung Nr. 35 vom 22.06.2020.

Beschlagnahme eines Grundstücks bei Vereinsverbot

Die Klägerin (Eigentümerin) hatte seit längerer Zeit ein ihr gehörendes Grundstück an ihren Sohn vermietet. Dieser war als Mitglied der Vereinigung „Freies Netz Süd“ tätig und hatte die Räume zur Durchführung von Veranstaltungen des Vereins genutzt und dort außerdem einen Versandhandel mit Nachrichten und Informationsmaterial der Vereinigung betrieben. Im Zuge des Verbots der Vereinigung war das Grundstück der Eigentümerin entschädigungslos eingezogen worden. Auf ausführliche Befragung der Eigentümerin bei der mündlichen Verhandlung teilte diese mit, dass sie nur oberflächlich über die Aktivitäten ihres Sohnes und der Vereinigung informiert gewesen sei. Der BayVGH wies darauf hin, dass die Beschlagnahme eines Grundstückes, das durch andere Personen zu „verfassungswidrigen Zwecken“ genutzt werde, nur unter erschwerten Voraussetzungen möglich sei. Dem Grundstückseigentümer müsse insbesondere positiv bekannt sein, welche „verfassungsfeindlichen“ Aktivitäten auf dem Grundstück stattfinden. Es sei zweifelhaft, ob die Eigentümerin – auch wenn ihr sicherlich die Aktivitäten ihres Sohnes bekannt gewesen seien – nachgewiesen werden könne, dass sie auch von der Nutzung durch das Netzwerk selbst gewusst habe. Dies bestätige sich auch dadurch, dass nach Kenntnis des Gerichts die Vereinigung im Untergrund bzw. „konspirativ“ aktiv gewesen und nach außen nicht als Verein oder Vereinigung aufgetreten sei. Infolgedessen hielt der BayVGH die Einziehung des Grundstücks für rechtswidrig. BayVGH, Urteil vom 30.06.2020 – 4 B 20.124 –. Quelle: BayVGH, Pressemitteilung vom 01.07.2020.

Verfahrensbeteiligung von Kirchen bei Sonntagsarbeit

Die evangelisch-lutherische Landeskirche in Sachsen beantragte bei der zuständigen Landesdirektion Sachsen die Beteiligung an allen laufenden und zukünftigen Verfahren, die eine Ausnahmebewilligung für die Genehmigung von Sonntagsarbeit zum Gegenstand haben. Sie berief sich hierbei darauf, dass in Sachsen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in Callcentern beschäftigt werden, indem die jeweiligen Arbeitgeber von einer Ausnahmegenehmigung Gebrauch gemacht hatten (nach dem Arbeitszeitgesetz besteht ein Verbot für die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen). Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat das VG der Klage der Kirche stattgegeben; OVG und BVerwG haben dies ebenfalls bestätigt. Entscheidungen über Ausnahmebewilligungen vom Verbot der Sonntags- und Feiertagsarbeit betreffen die Klägerin als Kirche und damit die Wahrung des Grundrechts auf Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG); die Regelungen des ArbZG – insbesondere das Verbot der Sonntag- und Feiertagsarbeit – sind in Bezug auf die Klägerin drittschützend. Dies werde auch durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 Weimarer Reichsverfassung konkretisiert, wonach Sonntage und staatliche Feiertage der Arbeitsruhe und der „seelischen Erhebung“ dienen sollen. Wenn daher Ausnahmen vom Verbot des ArbZG erlassen werden, würde damit auch in eine Position der Kirche eingegriffen werden, sodass die jeweilige Verwaltungsbehörde verpflichtet sei, die Kirche an diesem Verfahren zu beteiligen und dieser insbesondere Entscheidungen über Ausnahmebewilligungen bekannt zu geben. BVerwG, Urteil vom 06.05.2020 – 8 C 5/19 –. Quelle: BVerwG, Pressemitteilung Nr. 21 vom 06.05.2020.

 

Besprochen in apf Gesamtausgabe, Heft 11-12/2020.

 

1 Schmitz, Heribert: Der Blick der Verwaltung auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl 2019, 265 ff.

2 Stüer, Bernhard: 25. Jahresarbeitstagung Verwaltungsrecht des Deutschen Anwaltsinstituts e. V. in Leipzig, DVBl, 2019, 420.

3 Winkler, Zeccola, Willing: Folgen eines legislativen und exekutiven Vakuums am Beispiel der Fahrverbots-Rechtsprechung, DVBl 2019, 79 ff.

4 Sommermann, Peter: Entwicklungsperspektiven der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Europa, DÖV 2019, 293 ff.

 

 

Francesco Sannà

Fachanwalt für Familienrecht, Saarbrücken
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