15.07.2011

Ist Europa demokratisch genug?

Das Parlament hat kein eigenes Initiativrecht für Rechtsakte

Ist Europa demokratisch genug?

Das Parlament hat kein eigenes Initiativrecht für Rechtsakte

Kein eigenes Initiativrecht für Rechtsakte: Das Europäische Parlament hängt am „Vorschlagstropf” der Kommission. | © Udo Ingber - Fotolia
Kein eigenes Initiativrecht für Rechtsakte: Das Europäische Parlament hängt am „Vorschlagstropf” der Kommission. | © Udo Ingber - Fotolia

Flüchtlinge auf Lampedusa – Einschränkung des Schengener Abkommens, vor allem im Mitgliedstaat Dänemark – Stabilität des Euro – Rettung des griechischen Staatshaushalts – europäische Außenpolitik in Nordafrika: So viel Europa wie Anfang 2011 war lange nicht. Dabei war der Ursprung des vereinten Europa die Sehnsucht nach Frieden und die Gründung einer stabilen politischen Union aus einer erfolgreichen Gemeinschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dieses Konzept ist heute Realität. Und doch steht mit der zunehmenden Kompetenz immer wieder die Kontroverse in der Diskussion: Ist Europa demokratisch genug?

Demokratieverständnis auf Brüsseler Art

Kann eine supranationale, aus Völkervertragsrecht entstandene Rechtsordnung dem Demokratieprinzip überhaupt entsprechen? Oder würde die Europäische Union mit diesem Anspruch überfordert? Das Bundesverfassungsgericht hat das Demokratieprinzip im Maastricht-Urteil von 1993 und auch mit der jüngsten Lissabon-Entscheidung von 2009 einzig in den Nationalstaaten für umsetzbar und umgesetzt erklärt. Ist die EU damit von vorneherein undemokratisch? Nein. Aber eine supranationale, d.h. überstaatliche Union kann sich nur an einem Konzept von realer demokratischer Teilhabe messen, das ohne ein staatszentriertes Demokratieverständnis auskommt. Neben der schlichten Akzeptanz gewisser Ungleichgewichte, z. B. beim Stimmengewicht (Wahlgleichheit), wurde dafür der Begriff des Mehrebenen-Regierungssystems entwickelt.

Dieser besteht zum einen in der demokratische Rückkoppelung des Ministerrates an die Bestellung der nationalen Regierungen durch die nationalen Parlamente (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2, 16 Abs. 2 EUV), zum anderen in der Möglichkeit der Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente (Art. 12 lit. b) EUV), drittens in der Direktwahl des Europäischen Parlaments seit 1979 (Art. 14 Abs. 3 EUV). Doch haben die Reformen des Vertrags von Lissabon das Europäische Parlament so weitergehend gestärkt, dass schon von einer supranationalen Demokratie gesprochen werden kann?


Das Europäische Parlament als neue Säule demokratischer Legitimation?

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde zum ersten Mal das Prinzip der repräsentativen Demokratie als Grundsatz für die Arbeitsweise der Union festgeschrieben (Art. 10 Abs. 1 EUV). Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene im Europäischen Parlament vertreten (Art. 10 Abs. 2 EUV). Dies ist ein Schritt hin zu einer neuen, dualen Legitimationsstruktur, einer Union der Mitgliedstaaten, aber auch der Bürger und der Völker Europas.

Das Parlament ist das einzig direkt gewählte Organ der Union. Es wird auch in allgemeinen, freien und geheimen Wahlen bestellt. Dennoch mangelt es an der Wahlgleichheit. In der Union können die Wahlen aufgrund der degressiv-proportionalen Sitzverteilung nicht gleich sein (Art. 14 Abs. 2 S. 3 EUV). Denn es kommt zu einer Sitzverzerrung durch die Zuweisung einer Mindestanzahl an Sitzen, die jedem Mitgliedstaat zustehen. Die kleinen Staaten werden überproportional berücksichtigt und damit bevorzugt. Diese Regelung entstammt der Vorstellung der Union als loser Staatenbund, in der alle Staaten – wie beispielsweise in der Generalversammlung der UNO – gleichgewichtig vertreten sein sollen (one state, one vote).

Auch das Fehlen eines europäischen Staatsvolkes erschwert die Demokratisierung. Zwar wurde mit dem Vertrag von Lissabon der Terminus „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ durch „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ ersetzt (Art. 14 Abs. 2 Satz 1 EUV). Auch gibt es eine Unionsbürgerschaft, die zur Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat hinzutritt und jedem Unionsbürger bestimmte Rechte verleiht, z. B. das Wahlrecht auf kommunaler Ebene in anderen Mitgliedstaaten oder konsularischen Schutz durch die Vertretungen anderer Mitgliedstaaten (Art. 20 AEUV). Europa wird sich jedoch aufgrund historischer und kultureller Unterschiede, die einzig eine abendländisch-jüdisch-christliche Prägung verbindet, kaum zur „Kulturnation“ entwickeln, wenn schon für Deutschland fraglich ist, wieweit es durch den Islam geprägt ist.

Die Europäische Union ist bisher primär eine „Rechtsunion“ und wird sich mittelfristig allenfalls zur „Willensunion“ im Sinne einer politischen Schicksalsgemeinschaft weiterentwickeln – auch das wäre schon ein großer Schritt. Derzeit aber gibt es kaum als „Europäer“ wahrgenommene Politiker oder Künstler, wenige europabezogene Nachrichtenmedien, kein europäisches Gesellschafts- oder „Wir“-Gefühl. Der deutsch-französische Grünenpolitiker Daniel Cohn-Bendit mag da eine Ausnahme bilden, weil er beide Sprachen fließend spricht und sich in deutschen wie französischen Medien frei artikulieren kann. Ansonsten wirken die „Berichte aus Brüssel“ in den öffentlich-rechtlichen Sendern eher gekünstelt: „Ach halt, Europa gibt es ja auch noch!“

Kompetenzverteilung – Gesetzgeben oder Abnicken?

Die Legitimation des Parlaments reicht nur so weit, wie seine Kompetenzen reichen, und diese sind noch immer beschränkt. Die Außenpolitik wird rein intergouvernemental ohne Parlament geregelt. Unglückliches Beispiel war das Vorgehen der EU zur arabischen Revolution, wo das Parlament nur mehr im Nachgang die Haltung der einzelnen Mitgliedstaaten kommentierte. In den Bereichen des Wettbewerbsrechts und der Währungsunion, der Innen- und Sicherheitspolitik dominiert noch immer der Rat, gleichzeitig werden auf diesen Feldern wichtige Entscheidungen getroffen.

So initiierte die Europäische Kommission im Frühjahr 2011 eine Regelung zur unionsweiten güterrechtlichen Harmonisierung für Ehen und eingetragene Partnerschaften mit internationalem Bezug. Die Rechtsakte sollen zur Klarstellung von Zuständigkeiten und zur Anwendung der jeweiligen Rechtsordnungen dienen und das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren vereinfachen.

Zum Erlass des Rechtsakts wird jedoch nicht etwa das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, in dem Parlament und Rat gleichwertige Gesetzgeber sind (Art. 289 Abs. 1 AEUV), sondern das Anhörungsverfahren verwendet, so dass es für diese bedeutende Regelung – es ist von einer zweistelligen Millionenzahl internationaler Paare in der EU auszugehen – nur der Anhörung des Parlamentes bedarf.

Ausgerechnet in solchen die Wähler emotionalisierenden Themen wird das Parlament nur beratend tätig. „Heiße Eisen“ wie Steuer- oder Sozialpolitik sind weitgehend bei den Mitgliedstaaten verblieben (Art. 113 und 153 AEUV), so dass dem Parlament und seinen ambitionierten Parlamentariern wenige Profilierungsmöglichkeiten offen stehen.

Haushaltsverhandlungen 2011 – das Parlament zeigt Zähne!

Mit der Haushaltsgesetzgebung verhält es sich anders; hier besteht sogar eine beschränkte haushaltsrechtliche Prärogative des Parlaments. Dies bedeutet, dass das Parlament sich im Hauhaltsbereich gegenüber dem Rat unter engen Voraussetzungen (Art. 314 Abs. 7 lit. d) AEUV) auch ohne eine Kompromisslösung durchsetzen kann. Auswirkungen dieser Machtfülle zeigten sich bei den Haushaltsverhandlungen im Januar 2011. Zum ersten Mal seit 1988 scheiterten die Budgetverhandlungen zwischen Rat und Parlament, genauer: der Vermittlungsausschuss konnte keine Einigung erzielen. In früheren Verhandlungen hatte das Haus die vom Rat eingeräumte Erhöhung des Budgets um 2,9 % akzeptiert. Dennoch wurden die Haushaltsverhandlungen 2011 vom Parlament mit der Forderung nach einer Erhöhung um 6,9 % eingeleitet, was die Mitgliedstaaten unter Hinweis auf die Lage ihrer eigenen Haushalte verweigerten. Außerdem forderte das Parlament Regelungen für langfristig stabile Finanzen, mehr Flexibilität bei den Ausgaben und neue Eigenmittel wie eine unionale Steuer. Diese Forderungen gingen mehreren Regierungen zu weit, sie wollten diese nicht mit den Budgetberatungen verknüpft sehen. Die Vermittlung scheiterte zunächst. Ein Kompromiss konnte erst durch intensive Vermittlung der belgischen Ratspräsidentschaft im Dezember 2010 erzielt werden, knapp vor Beginn des neuen Haushaltsjahres.

Fehlendes Initiativrecht des Parlaments

Das größte Problem des Parlaments ist jedoch das Fehlen eines eigenen Initiativrechts für Rechtsakte; dieses obliegt nur der Kommission (Art. 17 Abs. 2 EUV, Art. 289 Abs. 1 Satz 1 AEUV). Das Parlament kann in politisch heiklen oder dringlichen Fragen die Kommission zwar zur Initiative auffordern (Art. 225 AEUV), ein eigenes Gesetzesvorschlagsrecht hat es aber nur in seltenen Fällen (Art. 289 Abs. 4 AEUV). Damit hängt das Parlament gleichsam am „Vorschlagstropf“ der Kommission.

Neues Selbstbewusstsein des Parlaments?

Eine Stärkung erfolgte aber auf einem anderen Feld: Der Vorschlag des Europäischen Rates für den Kommissionspräsidenten muss die Mehrheiten im Parlament berücksichtigen (Art. 17 Abs. 7 EUV). Der künftige Präsident der Kommission soll also politisch die gleiche „Farbe“ haben wie die Mehrheitsfraktion im Parlament. Die Realpolitik hat indes gezeigt, dass die Auswahl eines Kompromisskandidaten für die Kommission nach der politischen Mehrheit im Europäischen Rat Vorrang hat. Gleichwohl gibt es auch gegenläufige Anzeichen: So hat Kommissionspräsident Barroso innerhalb des ersten Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon eine Rede zur Lage der Union gehalten, begrifflich orientiert an der Rede des amerikanischen Staatspräsidenten, und so die Assoziation des Auftritts eines Regierungschefs vor seinem Parlament erzeugt.

Das Europäische Parlament ist jedoch viel stärker konsensorientiert als die von Opposition und Regierungsmehrheit geprägten nationalen Parlamente. Dieses Harmoniebedürfnis mindert die Attraktivität in der öffentlichen Wahrnehmung und trägt zu einem verstaubten Image des Parlaments als „Debattierclub“ bei. Dazu kommt die Sprachbarriere, die einen schnellen, direkt wirkenden Diskurs behindert.

Seit dem Jahr 2009 zeichnet sich jedoch ein gewisser Wandel ab. Das Parlament konnte seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vermehrt mediale Aufmerksamkeit erreichen, so bei den Themen Glühbirnenverbot, Datenschutzabkommen mit den Vereinigten Staaten oder Einführung einer Lebensmittelkennzeichnung („Ampelsystem“). So bleibt festzuhalten, dass die Stärkung des Parlaments im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren realiter vor allem eine Gleichstellung mit dem Rat, aber keine Zentralstellung im Legislativprozess bedeutet.

Resümee

Im Ergebnis hat die Europäische Union als enger Staatenverbund eigener Art bei ihrer Rechtssetzung die demokratische Legitimation eines nationalstaatlichen Parlaments noch nicht erreicht. Dennoch ist ihre Rechtssetzung so demokratisch legitimiert, wie es die besondere Eigenart der Europäischen Union derzeit ermöglicht. Noch immer zögern die Mitgliedstaaten, ein starkes Europa zu schaffen, dessen Recht in vollem Umfang als Teil der eigenen, nationalen Rechtsordnung akzeptiert wird. Die Grundlagen für mehr Demokratie, Bürgernähe und Transparenz in der EU sind durch ein erstarkendes Europäisches Parlament aber gelegt.

Hinweis der Redaktion:Der Beitrag basiert auf einem Auszug der Diplomarbeit von Maximilian Fritsch.

 

Maximilian Fritsch

Student an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern
 

Prof. Dr. Peter Schäfer

LL.M., Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern
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