10.08.2022

Hintergründe des PIA-Streiks

Mängel der Psychotherapie-Ausbildungsreform 2022

Hintergründe des PIA-Streiks

Mängel der Psychotherapie-Ausbildungsreform 2022

Die Reform der Psychotherapeutenausbildung hatte das Ziel, die als unhaltbar erkannte Situation der PiAs in der Ausbildung zu beenden. | © Prostock-studio - stock.adobe.co
Die Reform der Psychotherapeutenausbildung hatte das Ziel, die als unhaltbar erkannte Situation der PiAs in der Ausbildung zu beenden. | © Prostock-studio - stock.adobe.co

Der Juni/Juli-Streik der PiAs, der Psy­cho­the­ra­peu­ten in Aus­bil­dung, wirft ein Schlaglicht auf die Mängel der Reform der Psychologiestudiums zum 1.9.2020. Sie führen dazu, dass junge Psychologen trotz Psychologie-Master 1 ½ Jahre in Kliniken unter dem Mindestlohn arbeiten müssen. Eine Korrektur wird auch von Berufsverbänden angemahnt.

Während Ärzte nach dem Studium in ihrer Facharztausbildung schon mit ca. 4.500 EUR nach E 14 bezahlt werden, werden Psychologen als Psy­cho­the­ra­peu­ten in Aus­bil­dung (PiAs) von Kliniken für ca. 1.000 EUR eingesetzt, obwohl sie mit abgeschlossenem Masterstudium vollwertige Fachkräfte sind. Grund dafür ist, dass es bei der Reform der Psychotherapeutenausbildung vom 15.11.2019 (BGBl.1, S.1605) unterlassen wurde, in der Übergangsregelung Konstruktionsfehler des Psychotherapeutengesetzes von 1999 auszuräumen.

Die Reform der Psychotherapeutenausbildung hatte das Ziel, die als unhaltbar erkannte Situation der PiAs in der Ausbildung zu beenden, so Martin Klett, Vizepräsident der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg. Denn in der Zeit von 1999 bis 2020 mussten sie in der Klinikausbildung unentgeltlich arbeiten. Doch nun sind viele Absolventen trotz der Reform innerhalb eines Zwei-Klassen-Systems in einem „reformbedingten Niemandsland“ gelandet, in dem sie sich während der an das Psychologiestudium anschließenden Therapieausbildung mehrjährig in prekärer Lage befinden. Sie streikten im Juni und Juli deshalb an den Unikliniken in Baden-Württemberg. In NRW werden PiA-Streiks geplant.


Psychotherapie-Ausbildung wurde grundlegend reformiert

Mit dem neuen Psychotherapeutengesetz (PsychThG) kam für das Masterstudium ein eigener Studiengang für Studierende, die später als Therapeuten arbeiten möchten. Sie können einen Master für klinische Psychologie und Psychotherapie absolvieren und danach – analog zum Medizinstudium – die Approbationsprüfung absolvieren. Die anschließende Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten findet nicht mehr unentgeltlich als Praktikum, sondern in einer angemessen vergüteten Anstellung statt.

Für alle, die sich zum Stichtag 1.9.2020 schon im Studium oder in der Therapieausbildung befanden, läuft die bisherige Art der Ausbildung parallel im Rahmen einer Übergangsregelung bis 2032 weiter wie bisher. Das Ziel, die unhaltbare finanzielle und rechtliche Lage in der Therapeutenausbildung aufzulösen, wurde aber nur für die Absolventen nach neuem Recht erreicht.

Vergütung während der 12-jährigen Übergangsregelung wurde vernachlässigt

Der Gesetzgeber hat zwar im Rahmen der Reform auch für die Ausbildung nach altem Recht einige Neuregelungen formuliert, die die Situation entschärfen sollten. Diese sind aber mehrdeutig formuliert und so unzureichend, dass sich die Situation der „Übergangs“-PiAs unter dem Existenzminimum abspielt:

Der praktische Teil 1 ihrer Ausbildung nach dem Master umfasst mindestens 1.800 Pflichtstun­den in psych­ia­tri­schen und psy­cho­so­ma­ti­schen Kli­ni­ken. Als Nachteilsausgleich wurde geregelt, dass sie während ihrer praktischen Tätigkeit gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 PsychThG bei Vollzeit mindestens 1000 EUR pro Monat – brutto oder netto? – erhalten müssen. Die Aus­bil­dungs­ge­büh­ren für diesen Theorieteil von monatlich zwischen ca. 400 und, etwa bei der analytischen Ausbildung, 1.100 EUR tragen sie selbst.

Ausbildungskandidaten streiken an mehreren Unikliniken

Viele der „Übergangs“-PiAs führen, heilkunderechtlich nicht unbedenklich, Psychotherapien ohne entsprechende Fachaufsicht durch, können sich aber trotzdem nicht aus eigener Kraft ernähren und gleichzeitig die für ihre spätere Zulassung unabdingbare Therapieausbildung bezahlen – ein Zustand, der während der 12 Jahre der Übergangsfrist der Reform anzudauern droht. Außerdem haben sie durch ihren Praktikantenstatus in vielen Fällen keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung und Urlaubstage.

Für Juni und Juli organisierten deshalb in Baden-Württemberg die PiAs der Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Ulm und Tübingen mit Verdi einen Streik. Sie fordern mit Slogans wie “Wir sind nicht eure Sparschweine“ eine Entlohnung nach E 13 entsprechend ihres Grundberufs als Psychologen.

Psychotherapeutenverbände kritisieren unangemessene PiA-Honorierung 

Auch die etablierten Psychotherapeuten monieren die Honorierung. Ariadne Sartorius, Stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten (bvvp): „Diese Ausbeutung muss ein Ende haben“. Während der Reform sei eindeutig thematisiert worden, dass ein weiterer Schritt im Interesse der ÜbergangskandidatInnen folgen müsse.

Die halbherzigen Regelungen im PsychThG und ihre Umsetzung in den Kliniken, die teilwiese sogar weniger als 1000 EUR zahlen, verleihen auch einem Urteil des LAG Hamm vom 29.11.2012, 11 Sa 74/12, neue Aktualität. Geklagt hatte eine PiA, die als vollwertige Arbeitskraft ohne Entgelt beschäftigt wurde. Das LAG folgte ihrer Darlegung des umfassenden Einsatzes in der Klinik und befand, dass ein Rechtsanspruch auf Gehalt bestand:

„Es ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB beansprucht werden kann, wenn eine Beschäftigte im Rahmen eines Praktikantenvertrags auf Weisung des Arbeitgebers über einen längeren Zeitraum Leistungen erbringt, die nicht vorrangig ihrer Aus- und Fortbildung dienen, sondern ganz überwiegend im betrieblichen Interesse liegen.“ Da die meisten PiAs unter Mindestlohn beschäftigt werden, dürften diese Grundsätze übertragbar sein. Doch die Klage ist nicht ohne Tücken: Vor Gericht klarstellen zu lassen, dass man Arbeitnehmer und nicht in Ausbildung war, könnte schlimmstenfalls den Ausbildungsabschluss in Gefahr bringen.

Abrechnungsbetrug gegenüber den Krankenkassen?

Davon unabhängig erfüllen Kliniken potentiell den Tatbestand des Abrechnungsbetrugs, wenn sie Leistungen zu niedrig entlohnter PiAs gegenüber Krankenversicherungen abrechnen: Der Operationen- und Prozeduren-Schlüssel (OPS) für die Vorgaben zu Klinikbehandlungen besagt unter der Ziffer 9-649: „Bei Psychotherapeuten in Ausbildung ist für eine Anerkennung der Leistungen Voraussetzung, dass diese Mitarbeiter eine Vergütung entsprechend ihrem Grundberuf z.B. als Diplom-Psychologe oder Diplom-Pädagoge erhalten“. Danach würde, wer PiA-Leistungen günstig einkauft und teuer verkauft, sich nicht nur strafbar machen, sondern müsste auch mit Rückerstattungsansprüchen der Krankenversicherungen rechnen.

Eine Resolution von über 30 Psychologen-Berufsverbänden vom 7.7.2022 unterstützt die Forderung, die PiAs in die Gehaltsgruppe E 13 einzustufen. Die Schwächen der Übergangsregelung nachzubessern und die Vergütung angemessen zu regeln, wäre ohne großes Reformraddrehen möglich. Markus Plantholz, der Justitiar der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV): „Eine Regelung zur Nachjustierung der Reform in einem Omnibusgesetz wäre rechtlich unproblematisch und der sinnvolle Weg, eine Situation zu beenden, bei der die PiAs zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig haben“.

 

Dr. Renate Mikus

Assessorin iur. Fachautorin, Freiburg
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