21.02.2022

Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit in der Corona-Pandemie (4)

Im Spannungsfeld zwischen Verfassungsrecht, Ethik und Moral – Teil 4

Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit in der Corona-Pandemie (4)

Im Spannungsfeld zwischen Verfassungsrecht, Ethik und Moral – Teil 4

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Der Beitrag behandelt die Problemstellung der begrenzten Verfügbarkeiten von Impfstoffen in der Corona-Pandemie. In den Fokus rücken hierbei die sogenannte „Triage“ und die Frage der Impfstoffpriorisierung. Die in diesem Zusammenhang bislang geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und gerichtlichen Entscheidungen werden in ihren Grundzügen dargestellt (Teil 4).

Die verfassungsrechtliche Perspektive von Verteilungsgerechtigkeit im konkreten Einzelfall

Die Frage, ob die Verordnung auf einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage beruht, ist nicht nur rechtstheoretisch bedeutsam, sondern wirkt auch auf die politische und gesellschaftliche Diskussion. Das praktische Problem, wie die verantwortlichen Personen in den Impfzenten nunmehr die Impfpriorisierung auf der Grundlage der Verordnung mit Blick auf mögliche Ausnahmesituationen gestalten sollen, ist damit aber nicht beantwortet. Nimmt man also nunmehr an, dass die erlassene Verordnung auf einer rechtswirksamen Verordnungsermächtigung beruht, stellt sich in der Folge die Frage, wie im Einzelfall Verteilungsgerechtigkeit erreicht werden soll. Die Novellierung der Corona-Impfverordnung enthält nunmehr – insbesondere auch aufgrund der recht weitreichenden gesellschaftlichen Kritik – sog. Öffnungsklauseln, die Einzelfallentscheidungen jedenfalls auf der zweiten und dritten Priorisierungsstufe ermöglichen sollen. So bestimmt § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. j bzw. § 3 Abs. 2 Nr. 1 lit. j, dass Personen, bei denen nach ärztlicher Beurteilung auf der Grundlage von § 6 Abs. 6 der Verordnung ebenfalls ein sehr hohes oder hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Corona-Virus besteht, mit hoher Priorität Anspruch auf Schutzimpfung mit einem der zugelassenen Impfstoffen haben.

Für die dritte Priorisierungsstufe ist weiterhin eine entsprechend parallel gefasste Regelung in § 4 Nr. 2 lit. h hinzugekommen. Eine entsprechende Öffnungsklausel auf der ersten Priorisierungsebene wurde dagegen nicht in die Verordnung aufgenommen. Diesbezüglich verweist die Begründung zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit darauf, dass in der ersten Zeit nach der Zulassung der Impfstoffe diese nicht flächendeckend allen impfbereiten Menschen zur Verfügung gestellt werden können. In der Folge seien auch weiterhin Auswahlentscheidungen darüber, welche Personengruppen mit welcher Priorität geimpft werden sollen, erforderlich. Insoweit besteht auch nach der Novellierung im Rahmen der ersten Priorisierungsgruppe auch weiterhin nur die in § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung definierten Ausnahmemöglichkeiten, die bereits in der ursprünglichen Fassung vorhanden waren.58 Demnach können nach § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung, wie ausgeführt, auf der Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim RobertKoch-Institut und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden. Bei der gewählten „kann-Vorschrift“, besteht ein umfangreicher Ermessensspielraum der jeweils zuständigen Behörde.


Bei solchen Ermessensvorschriften wird klassisch zwischen dem Entschließungs- und dem Auswahlermessen unterschieden. Grundsätzlich hat die zuständige Behörde auf einer ersten Ebene demnach einen Ermessensspielraum dahingehend, ob überhaupt Ausnahmetatbestände definiert werden sollen. Das Opportunitätsprinzip gilt dann, soweit für einen bestimmten rechtlichen Bereich gesetzliche Regelungen überhaupt nicht bestehen oder das Gesetz ausdrücklich entsprechendes Ermessen durch die Wahl der gesetzlichen Formulierung begründet hat.59 Häufig allerdings sind auch Mischformen von Entschließungsund Auswahlermessen zu finden, da bestehendes Entschließungsermessen häufig nicht isoliert, sondern nur hinsichtlich der konkret zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten ausgeübt werden kann.60 Im zugrunde liegenden Fall regelt die Verordnung konkret, mit Blick auf welche Quellen Ausnahmetatbestände definiert werden können. Durch die Bezugnahme auf die infektiologischen Erkenntnisse, die jeweilige Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut und der epidemiologischen Situation vor Ort lässt sich durchaus begründen, dass hier in gewisser Weise eine Verknüpfung des Entschließungsmit dem Auswahlermessen vorhanden ist. Letztlich kann die konkrete Abgrenzung allerdings dahinstehen, da die Ermessensfehlerlehre auf beide Formen des Ermessens gleichermaßen Anwendung findet.61

Die Ermessensfehlerlehre orientiert sich an den Vorgaben von § 114 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und bildet letztlich die Grundlage für das sog. Trias der Ermessensfehler, wonach zwischen der Ermessensunterschreitung (Ermessensnichtgebrauch), der Ermessensüberschreitung sowie dem Ermessensfehlgebrauch zu differenzieren ist.62 Maßgeblich für die Frage, ob ein Ermessensfehler angenommen werden kann, ist dabei insbesondere der Vorgang der Entscheidungsfindung und nicht unbedingt das Ergebnis der behördlichen Entscheidung.63 Zu untersuchen ist nunmehr die Frage, inwieweit das verordnungsrechtlich normierte Ermessen die Entscheidungsfindung bindet. Klar ist, dass das grundsätzliche Unterbleiben von Ermessenserwägungen in jedem Fall einen Ermessenfehler in Form einer Ermessensunterschreitung bzw. eines Ermessensnichtgebrauchs begründet und daher unbedingt vermieden werden muss.64 Die Vorgabe des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg, dass grundsätzlich ein Abweichen von der Impfverordnung auf der ersten Priorisierungsstufe ausschließt, hilft bei einer Abwägung nicht weiter, sondern blendet das Abwägungsproblem letztlich aus. Für die Entscheidungsträger, die lediglich die Impfstrategie umsetzen, führt dies allerdings zu einer jedenfalls in der Zuständigkeitsverteilung gebundenen Entscheidung, da insoweit die Landkreise zwar Betreiber der kommunalen Impfzentren sind, aber hier die jeweils durch das Land vorgegebene Impfstrategie umsetzen. Ein eigener Entscheidungsspielraum verbleibt somit nicht.65 Richtigerweise müssten jedoch die wesentlichen Grundpfeiler benannt werden, anhand derer der Abwägungsprozess zu erfolgen hat. Denn sofern hier die Aussage, dass ein Abweichen von der Impfverordnung nicht vorgesehen ist, bedeutet, dass grundsätzlich keine Ausnahmen zugelassen werden sollen, stellt dies recht offensichtlich einen Ermessensfehler dar, der erheblich ist. Dies würde nämlich bedeuten, dass etwaige Ausnahmen kategorisch ausgeschlossen werden, wobei wiederum der Kreis durch den Verweis auf die Impfverordnung geschlossen werden soll. Dieser Kreislauf allerdings weist den Fehler auf, dass die Impfverordnung wiederum Ausnahmen in das Ermessen der jeweilig zuständigen Behörden stellt.66

Sofern nunmehr wiederum Ausnahmen kategorisch ohne auch nur ansatzweise vorhandene Ermessenserwägungen ausgeschlossen werden, ist das Dilemma offensichtlich. Infolgedessen wäre es vielmehr geboten, dass konkrete Abwägungsfaktoren definiert werden, um eine Entscheidungsfindung innerhalb des Verordnungsrahmens zu ermöglichen. Denn sofern schon Bedenken an der Ermächtigungsgrundlage selbst bestehen, muss dies erst recht für eine unzureichende Priorisierung in der Verordnung gelten. Die Entscheidung über Ausnahmen bei einer so existenziellen Frage auf die Exekutive zu verlagern, ist äußerst bedenklich. Die Bundesregierung begründet die gewählte Impfpriorisierung grundsätzlich damit, dass zunächst den Personen eine Schutzimpfung zur Verfügung gestellt werden soll, die diese besonders benötigen. Hierbei wird auf ältere Menschen Bezug genommen, bei denen die Wahrscheinlichkeit eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer Infektion deutlich erhöht ist, und auf Menschen in Pflege- und Gesundheitsberufen, die einem besonders hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind.67 In der Folge müssten Ausnahmen auch hinsichtlich der ersten Priorisierungsgruppe zumindest angedacht werden für Einzelfälle, in denen ebenfalls die zumindest vergleichbare Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs besteht.

Diesbezüglich gibt die Verordnung, wie bereits ausgeführt, die Erkenntnisquellen vor, auf die sich bei der Genehmigung von Ausnahmen bezogen werden soll. Sofern eine Abwägung zwar grundsätzlich stattfindet, könnte nichtdestotrotz ein Ermessensfehler in Form des Ermessensfehlgebrauchs angenommen werden. Als Ermessensfehlgebrauch wird grundsätzlich eine Situation verstanden, in welcher die zuständige Behörde zwar innerhalb der entsprechend normierten Grenzen Ermessen ausübt, dies jedoch mit Blick auf die Entscheidungsfindung in fehlerhafter Art und Weise, da der Zweck der Ermächtigung verfehlt wird.68 Unter die Begrifflichkeit des Ermessensfehlgebrauchs werden allerdings insbesondere auch Ermessensfehler gefasst, die nicht durch eine Zweckverfehlung im engeren Sinn gekennzeichnet sind, sondern vielmehr in einem Verstoß gegen Grundrechte münden. Zu nennen sind hier etwa das Gleichheitsgebot sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.69 Gerade dies erscheint vorliegend offensichtlich, wenn man sich die grundsätzliche Entscheidung, Ausnahmen im Einzelfall jedenfalls mit Blick auf die aktuell relevante höchste Priorisierungsstufe generell nicht zulassen zu wollen, vor Augen führt. Die Behörde muss nach den ermessenslenkenden gesetzlichen Vorgaben als rechtliche Grenze und steuernde Direktive jeglicher Ermessensausübung im konkreten Einzelfall höherrangiges Recht, also insbesondere die jeweiligen Grundrechte der möglichen Adressaten, beachten.70 Die Grundrechte begrenzen dabei das jeweilige Ermessensergebnis.71 In Bezug auf eine mögliche lebensrettende Schutzimpfung rückt besonders das verfassungsrechtlich legitimierte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in den Fokus der Überlegungen und schlägt wiederum den Bogen zu der eingangs erläuterten Fragestellung einer rechtlich zulässigen Triage-Konzeption.

Wie dargestellt, existieren gerade in diesem existenziellen Bereich staatliche Schutzverpflichtungen, die im Einzelnen durchaus ermessenslenkende Wirkungen entfalten können.72 Auf Grundlage von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist es die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen. Dieses Grundrecht wiederum gewährt dabei gerade nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern bildet gleichzeitig eine objektive Werteentscheidung der Verfassung, die die Grundlage der Schutzverpflichtung bildet.73 Die entsprechende Schutzverpflichtung ist dabei umso wichtiger, „[…] je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist“.74 Das menschliche Leben bildet dabei insbesondere auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wiederum die wesentliche Grundlage der Menschenwürde und ist dann auch die Voraussetzung aller darüber hinaus bestehenden Grundrechte.75 Sofern man nunmehr annimmt, dass eine Schutzimpfung vor tödlichen Verläufen des Corona-Virus schützen kann, steht vorliegend das menschliche Leben als wesentlicher Abwägungsfaktor im Zentrum aller rechtlichen Überlegungen. Infolgedessen muss die beschriebene staatliche Schutzverpflichtung in die konkrete Entscheidungsfindung bei der Frage der Impfpriorisierung unbedingt Berücksichtigung finden.

Werden entsprechende Überlegungen nicht angestellt und vielmehr Ausnahmen generell mit der Begründung, die Verordnung gebe eine feste Reihenfolge vor, und darüber hinausgehend bestehe kein Bedürfnis, Ausnahmen zuzulassen, abgelehnt, so stellt dies recht offensichtlich einen Verstoß gegen die grundgesetzlich definierte Werteordnung dar und wäre daher gerichtlich im Rahmen von § 114 VwGO angreifbar. Ein Verstoß gegen die grundgesetzliche Werteordnung lässt sich insbesondere auch auf der Grundlage des grundsätzlich anerkannten Rechts auf gleiche Teilhabe an öffentlichen Leistungen, welches auf Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit der jeweilig betroffenen grundgesetzlichen Gewährleistungen beruht, herleiten.76 Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gründet auf dem Gedanken, dass gleiche Sachverhalte grundsätzlich auch gleich zu behandeln sind, es sei denn, eine Abweichung ist sachlich gerechtfertigt.77 Die Frage, ob Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich behandelt wird, ist dergestalt zu beantworten, dass eine Sammlung derjenigen Eigenschaften erfolgt, in denen sich die betrachteten Sachverhalte unterscheiden oder nicht unterscheiden.78 Vorliegend geht es um Priorisierungsentscheidungen, die auf dem Gedanken beruhen, dass bestimmte Personengruppen ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf einer Corona-Erkrankung haben bzw. einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind.79 Geht man nunmehr davon aus, dass Personen, die nachweislich einem durchaus vergleichbar hohen Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes ausgesetzt sind wie derjenige Personenkreis, dem ausdrücklich eine höchste Priorisierung durch die Impfverordnung zugestanden wurde, so ist recht offensichtlich eine Ausgangslage gegeben, in welcher gleiche Grundbedingungen vorherrschen. Wird hier allerdings in der Konsequenz jegliche Ausnahme von der grundsätzlich vorgesehenen Impfpriorisierung abgelehnt, so liegt eine Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten auf der Hand.

Auf der zweiten und dritten Priorisierungsstufe wurde durch die Einführung zusätzlicher Öffnungsklauseln in gewissem Rahmen Abhilfe geschaffen. Für die höchste Priorisierungsstufe allerdings wird weiterhin grundsätzlich lediglich auf die allgemeine Bestimmung des § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung verwiesen, die das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg bislang jedenfalls unberücksichtigt lässt. Es ist daher jedenfalls hinsichtlich der höchsten Priorisierungsgruppe danach zu fragen, ob diese Ungleichbehandlung durch sachliche Gründe rechtfertigbar ist, und folglich muss eine Abwägung der maßgeblichen Belange vorgenommen werden. Hierbei sind insbesondere auch die für den Sachverhalt relevanten grundgesetzlichen Gewährleistungen und Wertungen zu berücksichtigen.80 Hinsichtlich der hier vorliegenden Grundproblematik spielt daher das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eine durchaus tragende Rolle, welches grundgesetzlich durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet wird. Wie ausgeführt, wird hier auch eine grundsätzliche Schutzverpflichtung von staatlicher Seite begründet, die auch von der Exekutive beachtet werden muss.81 Schließt man nunmehr auf der ersten Priorisierungsstufe also jegliche Ausnahmen von der Priorisierungsreihenfolge aus, obwohl die Verordnung selbst auf der Grundlage der genannten Erkenntnisquellen solche ausdrücklich zulässt, liegt auch mit Blick auf das Recht auf gleiche Teilhabe an öffentlichen Leistungen ein nicht rechtfertigungsfähiger Eingriff vor. Wie ausgeführt, stellt die lediglich begrenzte Verfügbarkeit von Impfstoffen ein wesentliches Problem dar, doch können Versorgungsengpässe nicht die sachliche Rechtfertigungsgrundlage dafür bieten, dass Personengruppen, die einer vergleichbaren Gesundheitsgefährdung ausgesetzt sind, unterschiedlich behandelt werden und in der Konsequenz eine Personengruppe eine ggf. lebensrettende Impfung bekommt und eine andere Personengruppe von dieser Möglichkeit zunächst ausgeschlossen wird. Diese Problematik dürfte sich gerade auch deshalb verschärfen, da nunmehr Personen den vollkommen legitimen Weg über eine Ethikkommission82 oder vergleichbare Gremien bis hin zu den Verwaltungsgerichten suchen, um eine Impfpriorisierung zu erreichen.

Andere Menschen werden hiervon wiederum zurückschrecken, sodass eine mögliche Ungleichbehandlung weiter gefördert wird. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Grundlage für eine mögliche Handlungsanleitung im konkreten Einzelfall bilden, werden also maßgeblich durch das eingeräumte Ermessen bestimmt. Zentral ist auf der Grundlage vorgenannter Überlegungen insoweit der grundgesetzliche Maßstab und die damit einhergehende staatliche Schutzverpflichtung mit Blick auf das grundgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In der Konsequenz darf es daher nicht zum kategorischen Ausschluss von Einzelfallberechtigungen kommen, da diese zwangsläufig einen tiefgreifenden Rechtsverstoß darstellen. Die Entscheidungsfindung kann mit Blick auf die Impfstoffknappheit restriktiv sein, hat sich aber an den geltenden grundgesetzlichen Werteentscheidungen zu orientieren und erfordert richtigerweise ein möglichst einheitliches Vorgehen, um den rechtlichen Anforderungen zu genügen. Insoweit wäre eine weitere Konkretisierung der Verordnung selbst wichtig, um ein möglichst hohes Maß an Rechtssicherheit zu schaffen. Sollte diese Konkretisierung hinsichtlich der ersten Priorisierungsgruppe nicht vorgenommen werden, könnten Entscheidungsträger sehr schnell an die eigenen moralischen Grenzen gelangen. Denn insoweit dürften sich durchaus existenzielle Fragen stellen, die auch in Triage-Situationen das Handeln bestimmen. Wer braucht die Impfung im Einzelfall mehr? Ein Mensch, der die Altersgrenze von 80 Jahren überschritten hat, oder ein Krebspatient, dessen Immunsystem erheblich belastet ist? Und wenn zwei Krebspatienten um einen Termin für eine Schutzimpfung bitten, wer erhält dann bevorzugt einen Termin? Der Patient, dessen Heilungschancen besser sind, oder eher der Patient, dem durch eine Schutzimpfung ggf. noch etwas Lebenszeit geschenkt wird, obwohl das Todesurteil bereits feststeht? Diese Fragen sollen lediglich exemplarisch zeigen, in welche moralisch belastende Situation Entscheidungsträger gebracht werden können, die eine Verteilung des Impfstoffs verantworten. Insgesamt hätte diese Problemstellung dadurch vermieden werden können, dass die Verordnung selbst auch mit Blick auf die derzeit höchste Priorisierungsgruppe konkrete Ausnahmetatbestände definiert, die das doch recht weit gefasste Ermessen im Hinblick auf mögliche Ausnahmen von der grundsätzlichen Impfpriorisierung in gleichmäßige Bahnen lenkt.

In der Corona- Pandemie war in diesem Zusammenhang recht häufig von einer gewissen Eigendynamik die Rede. Auch die führenden politischen Ebenen waren mit einer solchen Pandemielage bislang noch nicht betraut, sodass hier teilweise auch Entscheidungen getroffen wurden, die sich im Nachhinein als nicht zielführend erwiesen haben. So sagte der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits zu Beginn der Pandemie, dass wir mit Blick auf die künftigen Entwicklungen und mögliche Fehlentscheidungen einander jedenfalls nachträglich viel verzeihen müssen. 83 Insoweit mag die Pandemie-Lage dynamisch sein, doch haben sich mittlerweile durchaus gewisse Faktoren herausgebildet, anhand derer man die Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs bei einer Infektion mit dem Corona-Virus zumindest in weiter gefasste Kategorien einteilen kann. So weist das Robert Koch-Institut (RKI) zwar völlig zurecht darauf hin, dass grundsätzlich eine Einzelfallbetrachtung hinsichtlich einer Einstufung als Risikopatient erforderlich ist, doch werden in einem offiziellen Steckbrief auf der Webseite des RKI zumindest die Faktoren zusammengefasst, die häufiger zu schweren Krankheitsverläufen führen.84

Sofern man nunmehr davon ausgeht, dass bereits im Rahmen der vorgenommenen Priorisierung die entsprechenden Erkenntnisse berücksichtigt wurden, so hätte die generalklauselartig formulierte Ausnahmeregelung es zumindest erfordert, dass den Entscheidungsträgern vor Ort auch hinsichtlich der ersten Priorisierungsgruppe konkrete Handlungsanweisungen für die tägliche Praxis zur Verfügung gestellt werden. Der pauschale Verweis auf die Verordnung und den dort vorgesehenen Ausnahmetatbestand führt deutlich am Impfalltag vorbei und ermöglicht den Verantwortlichen einen zu großen Entscheidungsspielraum, der insbesondere auch zu erheblichen negativen Konsequenzen führen kann. Es ist daher zu fordern, das Thema insbesondere mit Blick auf die höchste Priorisierungsgruppe auf übergeordneter politischer Ebene in den Fokus der Diskussionen zu stellen und die Verordnung weitergehend zu präzisieren. Nur so können verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen für die Entscheidungsfindung im Einzelfall geschaffen und Entscheidungsträger vor einem moralischen und ethischen Dilemma geschützt werden. Dass Präzisierungen und Überarbeitungen der geltenden Bestimmungen möglich und als positiv zu bewerten sind, zeigt nicht erst die aktuelle Novellierung der Verordnung. Auch die gerade stattfindende gesellschaftliche Diskussion, wonach bspw. Lehrkräfte und Beschäftigte in Kinderbetreuungsbereichen in den Priorisierungsgruppen weiter nach vorn rücken sollen, um hierdurch eine Sicherstellung des staatlichen Bildungsauftrages zu erreichen, zeugen davon, dass die Verordnung nicht in Stein gemeißelt ist.85 Dies sollte hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundproblematik einer Härtefallregelung im Bereich der ersten Priorisierungsgruppe ebenfalls nicht aus dem Blickfeld geraten.

Resümee

Insgesamt dürfte das Thema Priorisierung der Impfberechtigten aufgrund der nunmehr insbesondere auch in Baden-Württemberg erfolgten weitergehenden Öffnung und Aufweichung der Priorisierungsgruppen insgesamt einen anderen rechtstheoretischen und praktischen Schwerpunkt erhalten haben. Es zeigt sich insoweit, dass die mit der Corona-Pandemie eng verknüpfte Dynamik der Pandemie-Lage auch vor dem Thema Impfpriorisierung nicht Halt macht. Die Thematik erscheint dennoch rückblickend und insbesondere auch hinsichtlich der aktuell stattfindenden Diskussionen um Privilegien für Geimpfte weiterhin rechtlich in nicht unerheblicher Weise bedeutsam – auch und gerade, weil die Ständige Impfkommission die nunmehr erfolgten Öffnungen durchaus kritisch beurteilt und konkret bemängelt, dass die Länder durch die eigenmächtigen Öffnungsentscheidungen die eigentlich vorgesehene Impfpriorisierung übergehen würden.86 In der Konsequenz können insbesondere die zuvor genannten Punkte dazu beitragen, dass auf die ersten bereits geführten gerichtlichen Verfahren viele weitere folgen werden, sodass den beteiligten politischen Akteuren nur dazu geraten werden kann, das Thema Impfpriorisierung auf ein rechtlich sicheres Fundament zu stellen, um Angriffsflächen zu vermeiden und ein mögliches Scheitern der nationalen Impfstrategie zu vermeiden. Dies dürfte auch und gerade wegen etwaiger rechtlicher und moralischer Verpflichtungswirkungen der Entscheidungsträger vor Ort das angebrachte Mittel der Wahl sein, um keine unfaire Verlagerung von Verantwortlichkeiten vorzunehmen.

Auch wenn die Ermächtigungsgrundlage als tragfähig angesehen wird, ist die Verordnung selbst weitergehend zu präzisieren, um transparente Ermessensentscheidungen zu gewährleisten. Denn Impfkommissionen werden diese Aufgabe nicht bewältigen können, wie der Ansturm bspw. in Bremen zeigt. Die vor Ort verantwortlichen Entscheidungsträger sollten wiederum die Einzelfallentscheidung auf der aktuell relevanten höchsten Priorisierungsstufe nicht dem Zufall überlassen, sondern medizinische Fachexperten zurate ziehen, um zu einer Entscheidungsfindung zu gelangen. Auch die jedenfalls aktuell noch vorhandene Impfstoffknappheit und die Diskussion um mögliche Wirksamkeitsverringerungen bei immer neu auftretenden Virusmutationen dürften die Verordnungsgeber zu immer neuen Priorisierungsentscheidungen und konkreten Veränderungen mit Blick auf die zugrunde liegende Verordnung zwingen. Die objektive Werteentscheidung des Grundgesetzes gebietet es vorliegend, die bestehenden Ermessensgrenzen aktiv mit Leben zu füllen. Es ergibt sich daher ein genereller politischer Handlungsbedarf, um das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Akteure, die gestartete Impfkampagne und die damit eng verbundenen Ziele der übergeordneten Pandemie-Bekämpfung nicht zu verspielen. Bis in ausreichender Form wirksame Impfstoffe für die breite Bevölkerung zur Verfügung stehen, werden die berechtigten Diskussionen jedenfalls nicht abreißen. Sie hinterlassen auf allen Ebenen Verunsicherung und Frustration, die die angestrebte Verteilungsgerechtigkeit infrage stellen.

 

Erschienen im VBlBW 2021/5

 

58 Die grundsätzliche Möglichkeit Ausnahmen auf der Grundlage der genannten Faktoren zuzulassen, sieht das Bundesministerium für Gesundheit auch weiterhin aus gegeben an, vgl. insoweit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/faq-covid-19-impfung/faq-impfverordnung.html#c20361, zuletzt abgerufen am 09.02.2021.

59 Vgl. zum Opportunitätsprinzip im Bereich der Verwaltung: Weber/Werner, Creifelds kompakt – Rechtswörterbuch, Stichwort „Opportunitätsprinzip“.

60 Riese, in: Schoch/Schneider, Kommentar VwGO, § 114 Rn. 17; vgl. hierzu auch: Hain/Schlette/Schmitz, AöR 122 (1997), 32, 38.

61 Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 17.

62 Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 56; Kment/Vorwalter, JuS 2015, 193, 199; Held-Daab, Das freie Ermessen, S. 113 ff.; Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2016, 314, 316.

63 Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 57; diese Frage ist indes nicht unumstritten, vgl. aA: Alexy, JZ 1986, 701, 702.

64 Rennert, in: Eyermann, Kommentar VwGO, § 114 Rn. 16.

65 Vgl. hierzu die Angaben des zuständigen Ministeriums für Soziales und Integration: „[…] Das Land ist letztverantwortlich für den medizinischen Betrieb der Kreisimpfzentren. Die Landkreise sowie weitere Partner übernehmen nach den Vorgaben des Landes die Errichtung sowie den organisatorischen Betrieb des Kreisimpfzentrums einschließlich der Mobilen Impfteams. […]“, abrufbar unter: https://sozialministerium.badenwuerttemberg.de/de/gesundheit-pflege/gesundheitsschutz/infektionsschutz-hygiene/informationen-zu-coronavirus/impfen/, zuletzt abgerufen am 27.01.2021.

66 So insbesondere auch die Verordnungsbegründung zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, S. 17, abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien /3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_mit_Begruendung.pdf, zuletzt abgerufen am 21.01.2021.

67 Die entsprechende Zielrichtung ergibt sich vor allem aus dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, S. 1, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien /3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_mit_Begruendung.pdf, zuletzt abgerufen am 21.01.2021; vgl. hierzu auch die offiziellen Angaben der Bundesregierung, unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/corona-informationen-impfung/corona-impfverordnung-1829940, zuletzt abgerufen am 21.01.2020.

68 BVerwG, BVerwGE 156, 94 Rn. 24 = NVwZ-RR 2017, 187; Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 64; Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK, § 114 Rn. 24.

69 Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 65; vgl. auch: BayVGH, Beschl. v. 08.12.2016 –20 CS 16.1609 – BeckRS 2016, 56091 Rn. 14.

70 OVG Rh.-Pf., Urt. v. 08.11.2016 – 7 A 11058/15, BeckRS 2016, 55436 Rn. 28; Riese (Fn. 60), § 114 Rn. 68; Rennert (Fn. 64), § 114 Rn. 30.

71 Wolff, in: Sodan/Ziekow, Kommentar VwGO, § 114 Rn. 184; Alexy, JZ 1986, 701, 710.

72 Vgl. hierzu insb. auch: Leisner-Egensperger, NJW 2021, 202, 203 f.

73 Müller, NZV 2019, 161, 161.

74 Müller, NZV 2019, 161, 162.

75 BVerfG, Urt. v. 25.02.1975, NJW 1975, 573, 575.

76 BVerfG, Urt. v. 18.07.1972, BVerfGE 33, 303, 330 f.; BVerwG, Beschl. v. 09.10.1985, NJW 1986, 1277, 1278; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 10.

77 Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 14.

78 Kischel (Fn. 77), Art. 3 Rn. 15.

79 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen des Bundesministeriums für Gesundheit zu den getroffenen Priorisierungsentscheidungen, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/faqcovid-19-impfung.html, zuletzt abgerufen unter 28.01.2021.

80 Kischel (Fn. 77), Art. 3 Rn. 48 ff.

81 Vgl. hierzu auch: Kischel (Fn. 77), Art. 3 Rn. 57.

82 Bremen hat eine Impfkommission eingerichtet: vgl. https://www.weserkurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-ansturm-auf-neue-bremer-impfkommission-_arid,1958751.html, zuletzt abgerufen am 19.02.2021.

83 Vgl. hierzu den Artikel „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ von Jochen Bittner/Alexander Cammann/Peter Dausend/Florian Gasser/Martin Machowecz/August Modersohn/Charlotte Parnack/Stefan Schirmer/Andreas Sentker/Stefanie Witterauf, in: Zeit, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2020/54/verzeihen-entschuldigung-2020-zitate-politiker, zuletzt abgerufen am 26.01.2021; vgl. mit Blick auf mögliche Fehlentscheidungen insb. auch das Interview in der Südwest Presse vom 22.06.2020, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/interviews/interviews/swp-220620.html, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

84 Vgl. die Orientierungshilfe des RKI, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; jsessionid=B5D8C6E9C5D2AD97E25F4835F4CD8FD5.internet121?nn=13490888#doc13776792bodyText15, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

85 Vgl. hierzu den Artikel „Was zu bleibt, was öffnen kann“, in: Tagesschau, zuletzt abgerufen am 11.01.2021; mittlerweile wurde jedenfalls in Baden-Württemberg insbesondere für diese Berufsgruppe eine Öffnung der Priorisierungsgruppen umgesetzt.

86 Vgl. zur Kiritk der StiKo insbesondere den Artikel „StiKo-Chef Mertens: Bundesländer setzen sich über Corona-Impfverordnung hinweg, in SWR aktuell, abrufbar unter: https://www.swr.de/swraktuell/badenwuerttemberg/ulm/kritik-impfverordnung-100.html, zuletzt abgerufen am 11.03.2021.

 

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Die Serie: Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit in der Corona-Pandemie

 

 

 

Dr. Mascha Bilsdorfer

Regierungsrätin
 

Dr. Richard Sigel LL.M.

Landrat des Rems-Murr-Kreises
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