31.01.2022

Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit in der Corona-Pandemie (1)

Im Spannungsfeld zwischen Verfassungsrecht, Ethik und Moral – Teil 1

Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit in der Corona-Pandemie (1)

Im Spannungsfeld zwischen Verfassungsrecht, Ethik und Moral – Teil 1

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Der Beitrag behandelt die Problemstellung der begrenzten Verfügbarkeiten von Impfstoffen in der Corona-Pandemie. In den Fokus rücken hierbei die sogenannte „Triage“ und die Frage der Impfstoffpriorisierung. Die in diesem Zusammenhang bislang geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und gerichtlichen Entscheidungen werden in ihren Grundzügen dargestellt (Teil 1).

Einleitung

Es wird aufgezeigt, dass die Priorisierung der Corona-Impfungen vom Gesetz- und Verordnungsgeber auch nach der erfolgten Novellierung nicht ausreichend geregelt wurde. Dabei wirken die aktuell gehäuft auftretenden Virusmutationen als Wirkverstärker bei den bereits sehr realen Verteilungskämpfen. Denn nunmehr dreht sich die Frage nicht mehr nur darum, wann ein Impfanspruch entsteht, sondern gesellschaftlich diskutiert wird insbesondere auch die Fragestellung, wer mit welchem Impfstoff geimpft werden soll. Dies führt zwangsläufig auch zu moralischethischen Verteilungsfragen, die vor Ort tätige Entscheidungsträger in Impfzentren zu kaum zumutbaren Entscheidungen bei der Verteilung des Impfstoffs zwingen können. Aus Sicht der Verfasser beruht die angestrebte Verteilungsgerechtigkeit des Corona-Impfstoffs auf einem zu instabilen Konstrukt.

Der derzeitige Alltag der Corona-Pandemie ist geprägt durch die grundsätzliche Limitierung von Verfügbarkeiten – ein Problem, welches jedenfalls für einen nicht unerheblichen Anteil der Menschen in Deutschland in dieser Form bislang kein prägendes Lebenselement war. Die Verfügbarkeit von Grundnahrungsmitteln und gewohnten Alltagsgegenständen wurde von großen Teilen der Bevölkerung als selbstverständlich wahrgenommen. Im Rahmen der Corona-Pandemie wurde diese Selbstverständlichkeit infrage gestellt. Menschen fanden sich beim Einkauf gerade zu Beginn der Pandemie häufig vor leeren Supermarktregalen wieder. Die Gründe für die genannten Engpässe sind und waren vielfältiger Natur. Teilweise können diese insbesondere auch auf das durchaus irrationale und instinktgesteuerte Verhalten der Bevölkerung zurückgeführt werden, als essenziell empfundene Verbraucherprodukte in unverhältnismäßig großer Anzahl zu bevorraten.


Zu anderen Teilen gehen die in der Vergangenheit und auch heute noch sehr aktuellen Engpässe allerdings auch auf geltende Corona-Bestimmungen zurück, die bspw. die Einreise von Erntehelfern1 bzw. den Import von Lebensmitteln deutlich erschwerten und dies teilweise auch immer noch tun.2 Aber auch vielen Tätigkeiten und Gewohnheiten, die bislang zum Alltag gehörten, kann aktuell nicht mehr nachgegangen werden. Das Leben wird vielmehr von Abstands- und Hygieneregeln bestimmt, die gerade im zwischenmenschlichen Bereich Verzicht bedeuten. Die damit einhergehende Limitierung bezieht sich mit Blick auf die geltenden Abstandsregeln auf den Radius an Kilometern3, den man noch betreten darf, sofern ein sehr hoher Inzidenzwert erreicht wird, auf die Anzahl an Personen, die man noch treffen und Anzahl an Stunden, in denen man grundsätzlich das Haus verlassen darf.4 Darüber hinausgehend bestimmen aber auch viel essenziellere Limitierungen unser derzeitiges Leben und Handeln. In nur begrenzter Anzahl vorhandene Beatmungsgeräte, die limitierte Anzahl an Intensivbetten und die begrenzte Verfügbarkeit an wirksamen Schutzimpfungen gegen das Virus SARS-CoV-25 und die neuen Mutationen, welche die Lungenkrankheit COVID- 19 auslösen können, bestimmen die gesellschaftlichen Diskussionen. Diese begründen den Erlass neuer Verordnungen, die wiederum unsere bislang als selbstverständlich empfundenen Lebensformen limitieren. Diese Begrenzungen führen zu grundsätzlichen Fragestellungen der Verteilungsgerechtigkeit. Wer erhält ein Beatmungsgerät, wenn die Ressourcen knapp werden? Wer wird noch intensivmedizinisch betreut, wenn das Pflegepersonal an seine Grenzen gerät? Und wer erhält bei bestehender Ressourcenknappheit eine Schutzimpfung und vor allem mit welchem Impfstoff? Oder wer bekommt die neuen „Corona-Medikamente“, die von der Bundesregierung jüngst beschafft wurden, aber bisher nur Universitätskliniken zur Verfügung stehen?6 Diese Fragestellungen sollen in den folgenden Ausführungen einer rechtlichen und ethisch-moralischen Betrachtung zugeführt werden.

Triage als verfassungsrechtliche Problemstellung

Bereits seit einigen Monaten geistert mit Blick auf die eingangs erörterten Limitierungen das Wort „Triage“ durch Polit-Talkshows, Zeitungen und die Gesellschaft. Eng verbunden ist es mit den Corona-Fallzahlen, die jedenfalls Ende des vergangenen Jahres schwindelerregende Höhen erreichten. Die entsprechenden Anstiege der Fallzahlen im Laufe der Corona-Pandemie stehen im Zusammenhang mit den Auslastungszahlen der Intensivstationen. Viele Corona-Patienten sind und waren in den letzten zehn Monaten auf eine intensivmedizinische Betreuung angewiesen, doch die Zahl der Betten und Beatmungsgeräte und vor allem auch die Zahl der intensivmedizinischen Pflegekräfte ist begrenzt. Dies birgt das reale Risiko, dass medizinisches Personal entscheiden muss, wer eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht.7 Hier soll die Triage Abhilfe schaffen. Der Begriff „Triage“ kommt aus dem Französischen und bedeutet „Auswahl“ oder „Sichtung“. Stellt man auf den medizinischen Kontext ab, so wird mit Triage eine Situation beschrieben, in der medizinisches Personal Patienten nach der Schwere ihrer jeweiligen Krankheitsbilder einteilt, um entsprechend leichter entscheiden zu können, wer eine priorisierte Behandlung erfährt und welche Behandlung ggf. zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden kann.8 Das „Triagieren“ gehört gerade in deutschen Notaufnahmen zum belastenden Berufsalltag, wobei man konkret zwischen der „Ex-post-Triage“ und der „präventiven Triage“ unterscheidet. 9 Auch wenn man bei Triage derzeit vor allem an überlastete Intensivstationen aufgrund hoher Corona-Inzidenzen10 denkt, können Kriterien und Handlungsanweisungen eine wesentliche Entscheidungshilfe bieten, wobei hier im Besonderen verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten sind, die auf der Grundlage der verfassungsrechtlich normierten Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eine Abwägung Leben gegen Leben nicht zulassen.

Es erscheint daher gerade mit Blick auf die grundgesetzliche Werteentscheidung schwierig, mögliche rechtliche Rahmenbedingungen für eine rechtssichere Triage zu schaffen. Teilweise wird in der Literatur allerdings die Möglichkeit gesehen, auch diesem Thema einen gewissen gesetzlichen Rahmen zu geben.11 Die Rechtsprechung lehnte es dagegen bislang ab, Fragestellungen, die einen unmittelbaren Bezug zur Triage aufweisen, gesetzlich zu regeln. Dies wurde durch das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Forderung nach verbindlichen gesetzlichen Triage-Kriterien für das zugrunde liegende Eilverfahren bekräftigt und entspricht den bisherigen Vorgaben des Deutschen Ethikrates.12 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht erkennen lassen, dass durchaus verfassungsgerichtlich zu klären ist, „(…) ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht“.13 Gerade hinsichtlich etwaiger verfassungsrechtlich normierter Schutzaufträge des Staates scheint die Frage eines Tätigwerdens des Gesetzgebers im Bereich der Triage zumindest nicht ausgeschlossen. Dies wurde auch in der angesprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht generell verneint. Vielmehr gebietet es sogar die funktionelle Rolle des Gesetzgebers, in wesentlichen grundrechtsintensiven Bereichen parlamentarische Debatten anzustoßen, denn insoweit ist es gerade die „[…] originäre Funktion der Rechtsordnung, die Grenzen zulässigen Verhaltens zu bestimmen, sofern Rechte Dritter betroffen sind“.14 Es muss indes selbstverständlich sichergestellt sein, dass die Regelungen keine Bewertung von Menschenleben beinhalten, die wiederum in der Folge die aus der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ableitbare Lebenswertindifferenz infrage stellen.15 Aktuell existieren lediglich medizinische Leitlinien, die medizinischem Personal eine Entscheidungshilfe bieten. Sie sollen insbesondere vor strafrechtlichen Verantwortlichkeiten schützen, wenn es einmal zu einer gerichtlichen Aufarbeitung und Überprüfung einer medizinischen Priorisierungsentscheidung käme.16 Die Corona-Pandemie hat bildhaft verdeutlicht, dass das Problem der Triage kein theoretisches ist, sondern eine Pandemie konfrontiert die Handelnden in den Kliniken zwangsläufig mit derart existenziellen Entscheidungen. Es werden Fragen aufgeworfen, die tief im Verfassungsrecht wurzeln und doch praktisch umsetzbar beantwortet werden müssen.

 

Erschienen im VBlBW 2021/5

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

1 Erst durch entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Druck wurden die Regelungen für Erntehelfer angepasst, vgl. hierzu: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/einreise-erntehelfer-1754950, zuletzt abgerufen am 25.01.2021.

2 Vgl. bspw. zur aktuellen Diskussion über mögliche Engpässe bei der Versorgung mit Obst und Gemüse den Artikel „Droht ein Obst- und Gemüse-Engpass?“ von Till Bücker, in: Tagesschau, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/fruechte-obst-gemuese-corona-engpass-101.html, zuletzt abgerufen am 25.01.2021; vgl. auch den Artikel „So steht es um die Lebensmittelversorgung in Deutschland“ von Heike Jahberg/Laurin, Mayer/Thorsten Mumme,

in: Der Tagesspiegel, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/obst-kaffee-reis-so-steht-es-um-die-lebensmittelversorgungin-deutschland/25733588.html, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

3 Auf die rechtliche Problematik einzelner Beschränkungen wird hier nicht näher eingegangen, vgl. aber bspw. jüngst die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur 15-Kilometer-Regel: BayVGH, Beschl. v. 26.01.2021 – 20 NE 21.171 und 20 NE 21.162 – abrufbar unter: https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/pm_ffp2-pflicht_und_15-km-regel.pdf, zuletzt abgerufen am 27.01.2021.

4 Vgl. zu den weiterhin in Bayern geltenden Ausgangsbeschränkungen bspw.: https://www.corona-katastrophenschutz.bayern.de/faq/index.php, zuletzt abgerufen am 12.02.2021; in Baden-Württemberg dagegen wurden die bislang bestehenden Ausgangsbeschränkungen aufgrund der anhaltend niedrigen Infektionszahlen in der Nacht vom 10.02.2021 auf den 11.02.2021 nach einem Beschluss des VGH Baden-Württemberg außer Kraft gesetzt, vgl. hierzu: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 05.02.2021 – 1 S 321/21 –; vgl. hierzu bspw.: „Nächtliche Ausgangssperre gekippt“, in: Legal Tribune Online, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vgh-baden-wuerttemberg-1s32121-corona-verordnung-ausgangssperre-ausgangsbeschraenkung-unverhaeltnismaeigneue-regeln/, zuletzt abgerufen am 12.02.2021.

5 Kurz: Corona-Virus.

6 Vgl. hierzu den Artikel „Antikörper-Medikamente: Das sagen die Experten“ von Lukas Wilhelm, in: ZDF: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-spahn-medikament-antikoerper-100.html zuletzt abgerufen am 19.02.2021.

7 Teilweise wurde dieses Risiko mit Blick auf die „Triage“ auch schon sehr konkret in deutschen Krankenhäusern, vgl. hierzu den Artikel „Gab es eine Triage in Sachsen? Das bleibt unklar“ von Sven Eichstädt, in: Ärztezeitung, abrufbar unter: https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Gabes-eine-Triage-in-Sachsen-Das-bleibt-unklar-415746.html, zuletzt abgerufen am 25.01.2021; vgl. hierzu auch: https://www.swr.de/swr2/leben-undgesellschaft/ethische-extremsituation-triage-in-der-covid-19-pandemie-100.html, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

8 Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403, 403; vgl. auch: Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398, 1398.

9 Vgl. den Artikel „Was das Triage-System zu bedeuten hat“ von Franziska Lehnert, in: Quarks vom 16.12.2020, abrufbar unter: https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/was-das-triage-system-zu-bedeuten-hat/, zuletzt abgerufen am 20.01.2021.

10 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat hier noch im Sommer des letzten Jahres einen Eilantrag zur Einrichtung einer Kommission zur Erarbeitung gesetzlicher Triage-Regelungen abgelehnt und dies insbesondere auch mit den zu diesem Zeitpunkt niedrigen Fallzahlen begründet, vgl.:

BVerfG, Beschl. v. 16.07.2020 – 1 BvR 1541/20 – Pressemitteilung hierzu abrufbar unter: Eilantrag auf verbindliche Triage-Regelung abgelehnt (beck.de), zuletzt abgerufen am 20.01.2021.

11 Brade/Müller, NVwZ 2020, 1792, 1793 ff.; vgl. hierzu auch die Ansicht des Strafrechtsprofessors Michael Kubiciel im Artikel „Wer wird beatmet? Wer nicht?“ von Kolja Schwartz, in: Tagesschau, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/corona-triage-intensivmedizin-101.html, zuletzt

abgerufen am 26.01.2021.

12 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.07.2020, NVwZ 2020, 1353, 1353 ff.; Deutscher Ethikrat, Ad-hoc-Empfehlung, 27.03.2020, 4, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf, zuletzt abgerufen am 20.01.2021.

13 BVerfG, Beschl. v. 16.07.2020, NVwZ 2020, 1353, 1353; Brade/Müller, NVwZ 2020, 1792, 1793 ff.

14 Sternberg-Lieben, MedR 2020, 627, 629; Brade/Müller, NVwZ 2020, 1792, 1796; vgl. auch insbesondere die sog. Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG, BVerfGE 147, 253, 309 f.

15 Brade/Müller, NVwZ 2020, 1792, 1796.

16 Vgl. den Artikel „Was das Triage-System zu bedeuten hat“ von Franziska Lehnert, in: Quarks vom 16.12.2020, abrufbar unter: https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/was-das-triage-system-zu-bedeuten-hat/, zuletzt abgerufen am 20.01.2021.

 

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Dr. Mascha Bilsdorfer

Regierungsrätin
 

Dr. Richard Sigel LL.M.

Landrat des Rems-Murr-Kreises
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