24.01.2022

Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau? (2)

Handlungsfelder für die deutsche Polizei im Rahmen der anstehenden digitalen Transformation – Teil 2

Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau? (2)

Handlungsfelder für die deutsche Polizei im Rahmen der anstehenden digitalen Transformation – Teil 2

Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die aktuellen und geplanten Digitalisierungsvorhaben der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union entfalten erhebliche Wechselwirkungen miteinander und werden die polizeiliche Sicherheitsarchitektur maßgeblich verändern. Dieser Artikel widmet sich einem kursorischen Überblick über die betroffenen Handlungsfelder und den Interferenzen der damit verbundenen Aufgabenkomplexe (Teil 2).

Digitalisierung der behördlichen Handlungsgrammatik

Solange die rechtlichen Anpassungen mit der digitalen Transformation nicht Schritt halten können, gerät die eingangs bereits angesprochene polizeiliche Behördenkultur bzw. die damit verwobene „Handlungsgrammatik“ des einzelnen Beamten in ein kaum lösbares Spannungsverhältnis:11 Das immer relevanter werdende Mäßigungsgebot steht im harschen Widerspruch zu dem polizeilichen Bestreben, alle potenziell zur Verfügung stehenden Ermittlungsansätze auszuschöpfen. Durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten ist der Beamte also entgegen seiner organisationalen Prägung mehr und mehr angehalten, die rechtlichen Vorgaben so zu interpretieren bzw. von der europäischen in die nationale Ebene zu übersetzen, dass die Verhältnismäßigkeit im Sinne des Gesetzgebers gewahrt bleibt. Diese Anforderungen sind für Polizeibeamte nicht grundsätzlich neu. Es besteht aber in der Praxis ein gravierender Unterschied zwischen der Bewertung der Verhältnismäßigkeit einer klassischen Eingriffsmaßnahme in der Anwendung gegenüber einer konkret betroffenen Person und dem hier geforderten flächendeckenden Schutz eines so abstrakten und komplexen Rechtsgutes wie der Informationellen Selbstbestimmung. Bei den hier in Rede stehenden Fällen widerstrebt es dem subjektiven Rechtsempfinden, dass der Verstoß gegen ein überindividuelles Rechtsgut dagegen abzuwägen ist, dass ein gesuchter Straftäter nicht gefasst werden kann, weil die zur Verfügung stehenden Daten mit einer Zweckbindung versehen sind und die vorliegende Fallkonstellation nicht den Vorgaben der sogenannten „hypothetischen Datenneuerhebung“ entspricht.12

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die einschlägigen Normen über diverse Rechtsquellen verstreuen (Strafrecht, Medienrecht, Telekommunikationsrecht, etc.) oder schlicht lückenhaft sind bzw. sich (wie beispielsweise das Datenschutzrecht) bei der innerbehördlichen Anwendung immer noch im Experimentalstadium befinden. Auf dieses ohnehin bestehende Spannungsfeld hat die parlamentarische Nachbereitung des Anschlages am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheid-Platz eine geradezu dramatische Wirkung. Die jüngsten Erfahrungen vor den Untersuchungsausschüssen des Bundestages und der Landesparlamente haben das kollektive Bewusstsein in den Behörden dahingehend geprägt, dass es besser ist, einen Verstoß gegen die Informationelle Selbstbestimmung zu riskieren, als das Risiko eines erneuten terroristischen Anschlages in Kauf zu nehmen. Ob dies die intendierte Wirkung der Mitglieder in den Untersuchungsausschüssen ist, darf getrost bezweifelt werden. Im Übrigen ist auch dieser Prozess vier Jahre nach dem Ereignis immer noch nicht abgeschlossen.


Auswirkungen bis in das Innenleben der Behörde

Die neuen Instrumente der digitalen Datenverarbeitung führen auch zu einem aufbau- und ablauforganisatorischen Anpassungsbedarf in den Polizeibehörden: Zunächst einmal ist zu erwarten, dass durch die Verknüpfung bisher isolierter Tatort- und Personendaten überregionale und deliktsübergreifende Kriminalitätsphänomene zutage treten, die nunmehr einer zusammenhängenden Ermittlung bedürfen. Dadurch lassen sich bestimmte Deliktsfelder nicht mehr in der bisherigen Form voneinander trennen und die verbundmäßige Bearbeitung der neuen Fallkonstellationen würde durch eine verstärkte Institutionalisierung begünstigt werden. Im Gegenzug kann es zunehmend geboten sein, dass durch einen trennscharfen Behördenaufbau bestimmte Informationen innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Grenzen verbleiben und nicht innerhalb der Behörde zweckentfremdet oder gar an eine unbefugte Nutzergruppe weitergegeben werden. Die aufbauorganisatorische Abtrennung jener Organisationseinheiten des Zolls, die für die präventiven Telekommunikationsüberwachung im Rahmen der Verhütung von Verstößen gegen das Außenwirtschafts- oder das Kriegswaffenkontrollgesetz zuständig sind, ist ein inzwischen lang tradiertes Beispiel für dieses Phänomen. Dadurch wird sichergestellt, dass bei diesen Maßnahmen gewonnene Informationen über anderweitige Straftaten nicht für Strafverfolgungszwecke weiterverwendet werden.

Neueren Datums sind hingegen jene Herausforderungen, die mit der Einrichtung eines Europäischen Reiseinformations- und Genehmigungssystems (ETIAS) entstehen. Hier sind personenbezogene Daten von visumsbefreiten Drittstaatsangehörigen gespeichert, die der Bundespolizei zukünftig im Zusammenhang mit ihrer Rolle als Grenz- und Ausländerbehörde vorliegen. Eine Nutzung dieser Daten für Zwecke der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung steht hingegen unter besonderem Vorbehalt.13 Nicht zuletzt muss in dieser komplexen Materie die Frage beantwortet werden, ob die polizeifachliche und rechtliche Bewertung und Ausgestaltung der digitalen Transformation in dafür eigens eingerichteten Organisationseinheiten erfolgen muss. Gerade aufgrund der umfangreichen Auswirkungen auf die bestehende Aufbau- und Ablauforganisation scheint es geboten, die digitale Transformation als einen in sich geschlossenen Themenkomplex zu betrachten, der nur in seiner Gesamtschau zielgerichtet erfasst werden kann. Nach bisheriger Erfahrung scheint es jedenfalls keine tragfähige Lösung zu sein, die fachliche Expertise und die rein technischen Aspekte voneinander zu entkoppeln. Nach dem Grundsatz „Die Form folgt der Funktion“ braucht es hier „Übersetzer an Systemgrenzen“ mit evidenzbasiertem Sachverstand, um zwischen den Technikern und den einsatztaktischen Rahmenbedingungen vermitteln zu können. Gleichzeitig ist es erforderlich, dass diese Mitarbeiter mit den bestehenden Strukturen der Einsatzorganisation so weit „fremdeln“, dass sie als Innovatoren der digitalen Transformation in den Polizeibehörden wirken können.14

Eine weitere Herausforderung entsteht für die Polizeibehörden des Bundes und der Länder durch die neuerliche Notwendigkeit der Schwerpunktsetzung zwischen klassischem schutzpolizeilichem Dienst am Bürger oder einer Verwendung der Vollzugsbeamten im Rahmen der digital gesteigerten Möglichkeiten einer effizienten Kriminalitätsbekämpfung. Wie schon Heinrich Popitz im Jahr 1968 über die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ schrieb,15 gefährden digitale Datenbanken durch die flächendeckende Offenlegung von Tat- und Täterzusammenhängen die Illusion der Normgeltung und könnten damit paradoxerweise die Effektivität oder gar den Nutzen polizeilichen Handelns infrage stellen, wenn es nicht in gleichem Maße gelingt, diese neu entdeckten Deliktzusammenhänge aufzuklären. Mit der Digitalisierung wird die Polizei also nicht nur zunehmend in Zugzwang gegenüber dem neu entstandenen Hellfeld gesetzt. Vielmehr werden die Sicherheitsbehörden noch stärker mit der fundamentalen Frage konfrontiert, ob die Organisationsziele primär in der Verbrechensbekämpfung oder in der Erhöhung des Sicherheitsempfindens der Bevölkerung zu suchen sind. Durch die neuen digitalen Ermittlungsmethoden wird verstärkt in den Fokus gerückt, dass es durchaus ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Aufgaben gibt und die Intention der jeweiligen Maßnahmen für die Polizei nicht gänzlich miteinander in Deckung zu bringen sind.

Digitale Führung

Der Einsatz der modernen Informations- und Kommunikationstechnik schafft neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die zurzeit im öffentlichen Dienst durch die Corona- Pandemie erstmalig flächendeckend zur Anwendung kommen. Die Experimente mit flexiblen Arbeitszeiten, mobilen Arbeitsorten und neuen Zusammenarbeitsformen ohne persönliche Präsenz bedingen wiederum eine Umgestaltung der behördlichen Ablauf- und Aufbauorganisation und fordern nicht zuletzt den polizeilichen Führungskräften eine Neuinterpretation ihrer Rolle innerhalb dieser Arbeitsprozesse ab.16 In diesem Zusammenhang wirkt die polizeiliche Behördenkultur wiederum als Bremsklotz, da der Vollzugsbeamte in seiner Handlungsgrammatik durch die Erfahrungen des persönlichen Kontaktes mit seinem Streifenpartner und dem Bürger geprägt ist. In einem solchen Umfeld stellt die zeitliche und örtliche Entgrenzung der Dienstverrichtung eine besonders schwere Herausforderung für das Selbstverständnis der Führungskräfte dar. In der derzeitigen Corona-Lage zeigt sich der Bedarf an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der Führung auf Distanz: Die Abkehr vom Präsenzdienst in den Stäben und Führungsgruppen hat im letzten Jahr eine Schlüsselrolle für die Krisenfestigkeit der Polizei bekommen. Aus den zuvor skizzierten Gründen ist es aber nur schwerlich mit den inkorporierten Erwartungshaltungen der Vorgesetzten vereinbar, dass das Erfolgsgeheimnis einer dislozierten Dienstverrichtung gerade in der disruptiven Ausgestaltung von Arbeitsabläufen zu finden ist: Das Zulassen von Kontrollverlust steht der polizeilichen Handlungsgrammatik diametral entgegen; allerdings lassen sich nur so jene Schnelligkeit, Agilität und Flexibilität erzielen, die eine zeitgerechte Umsetzung aller zurzeit anstehenden Arbeits- und Projektaufträge gewährleisten.17

Zwischen Streifenpolizist und IT-Spezialist

Nicht zuletzt machen die neuen Anforderungen der digitalen Polizeiarbeit auch weitreichende Anpassungen in der Personalgewinnung wie auch in der Aus- und Fortbildung notwendig: Die Verflechtung der einsatztaktischen Kenntnisse mit den digitalen Kompetenzen ist maßgeblich für eine effiziente Nutzung der polizeilichen Informations- und Kommunikationsmedien. Auch die Administration und Weiterentwicklung der interaktiven und kollaborativen Technik begründet ein solch breites Anforderungsprofil. Hierzu gehören beispielsweise die Kenntnisse über IT-Systeme sowie die Fertigkeiten ihrer Nutzung einschließlich der Anwendung zur Lösung von polizeilichen Problemstellungen. Des Weiteren sind auch jene Fähigkeiten gefragt, welche die Bewertung und Beschaffung von digitaler Technologie und nicht zuletzt den rechtskonformen Umgang mit den darin enthaltenen Informationen ermöglichen.18 Die kursorisch dargestellten fachlich-methodischen und interpersonalen Kompetenzen sind bei einer entsprechenden Schwerpunktsetzung im Vorbereitungsdienst sicherlich vermittelbar.19 Mit einem kurzen Schlenker auf das aufbau- und ablauforganisatorische Handlungsfeld sollte in diesem Zusammenhang allerdings auch die Frage geklärt werden, ob die komplexe Materie der polizeifachlichen Datenverarbeitung an den Bildungseinrichtungen von Bund und Ländern ebenfalls in einem entsprechenden Fachstrang bzw. Studiengebiet zusammenzuführen sind. Unabhängig davon bleibt aber zu konstatieren, dass neue Unterrichtsinhalte für die digitale Transformation in aller Regel „stundenneutral“ in die bestehenden Lehrpläne einzupflegen sind. Damit stehen die zeitlichen und personellen Lehrressourcen in Konkurrenz zu der Vermittlung der „klassischen“ polizeilichen Kompetenzen. Aus diesem Grund sollte bereits im Rahmen des Auswahlverfahrens eine Potenzialanalyse stattfinden, um eine ausgewogene Unterrichtung aller relevanten Lehrinhalte im Vorbereitungsdienst gewährleisten zu können.

Fazit: Digitale Transformation ist nicht trivial

Schon bei diesem ersten kursorischen Überblick wird deutlich, dass die dritte große Digitalisierungswelle in den deutschen Polizeibehörden den Anstoß zu einem vieldimensionalen Anpassungsprozess gibt. Gleichzeitig ist dabei zu berücksichtigen, dass der Selbstfindungsprozess der zweiten Digitalisierungswelle in der öffentlichen Verwaltung zurzeit bei Weitem noch nicht abgeschlossen werden konnte. Umso wichtiger erscheint es, dass die hier genannten Handlungsfelder systematisch erschlossen und die vorhandenen Erfahrungen aufbereitet werden. Sofern man mit diesem Prozess nicht ausschließlich externe Spezialisten beauftragen will, müssen sich hierbei auch Angehörige der polizeilichen Bildungseinrichtungen einbringen. Auch an dieser Stelle ergibt sich erneut die Frage nach der Integration der komplexen Thematik in einem Fachstrang für polizeifachliche Datenverarbeitung. Mit den hier skizzierten Fragestellungen wird das Augenmerk aber auch auf die Entscheidungsträger aller Hierarchieebenen der Polizei als die zweite Schlüsselressource für eine erfolgreiche dritte Phase der Computerisierung gelenkt. Diese leisten die Ausgestaltung der Handlungsfelder und müssen in einem engen Wechselverhältnis mit dem zuvor genannten Lehrpersonal stehen, damit beide Personenkreise als Multiplikator für die digitale Handlungsgrammatik in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich wirken können. Aus diesem Grund sind die Führungskräfte und das Lehrpersonal frühzeitig für eine proaktive Rolle in dieser multidimensionalen Transformation zu motivieren und zu befähigen.

 

Erschienen im DPolBl 3/2021

 

11 Vgl. dazu ausführlich P. Bourdieu: Habitus und Praxis in Schriften zur Kollektiven Anthropologie Band 2, Suhrkamp Verlag, 1. Auflage 2020.

12 Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 20. April 2016, 1 BvR 966/09 -, Rdnr. 1–29.

13 Vgl. Art. 50 ff. der Verordnung 2018/1240 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12.September 2018.

14 Vgl. dazu ausführlich G. Weitkunat: Der Rationalitätsmythos der Stabsarbeit in C. Barthel (Hrsg.): Managementmoden in der Verwaltung – Sinn und Unsinn, Springer Gabler, 1. Auflage 2020.

15 Vgl. dazu ausführlich H. Popitz: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens in: Fritz Sack und Hubert Treiber (Hrsg.): Juristische Zeitgeschichte – Kleine Reihe Band 8, Berliner Wissenschafts-Verlag, 1. Auflage 2003.

16 Vgl. dazu ausführlich M. A. A. Ciesielski, T. Schutz (Hrsg.): Digitale Führung – Wie die neuen Technologien unsere Zusammenarbeit wertvoller machen, Springer Gabler, 1. Auflage 2016.

17 Vgl. dazu ausführlich U. Creusen, B. Gall und O. Hackl (Hrsg.): Digital Leadership: Führung in Zeiten des digitalen Wandels, Springer Gabler, 1. Auflage 2017.

18 Vgl. dazu ausführlich M. Friedrichsen, W. Wersig (Hrsg.): Digitale Kompetenz – Herausforderungen für Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und

Politik, Springer Gabler, 1. Auflage 2020.

19 Vgl. dazu ausführlich H. Moser: Einführung in die Medienpädagogik – Aufwachsen im digitalen Zeitalter, Springer VS, 6. Auflage 2019.

 

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Die Serie: Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau?

 

 

 

Gerhardt Weitkunat

Polizeioberrat, Diplomsoziologe, Potsdam
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