31.01.2022

Corona-Urteile

In sieben Prozent der Fälle unterliegt das Land

Corona-Urteile

In sieben Prozent der Fälle unterliegt das Land

Die Pandemie hat die ohnehin hohe Belastung der Oberverwaltungsgerichte nochmals erhöht. ©j-mel - stock.adobe.com
Die Pandemie hat die ohnehin hohe Belastung der Oberverwaltungsgerichte nochmals erhöht. ©j-mel - stock.adobe.com

Man kann nicht Regeln aufstellen und sie dann ignorieren. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim jetzt dem Land ins Stammbuch geschrieben und die Corona-Alarmstufe II ausgesetzt. Dabei sind die Mannheimer nicht die ersten, wenn es darum geht, der Regierung zu widersprechen. Das tun eher Richter aus anderen Ländern.

Etwa 600 Corona-Fälle landeten seit Beginn der Pandemie auf dem Tisch des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim. Lediglich in knapp sieben Prozent der Fälle setzte sich der Antragsteller durch – etwa jener Pharmaziestudent, der vergangene Woche darauf verwies, dass die Voraussetzungen für die höchste Corona-Alarmstufe II nicht mehr erfüllt seien, weil die Zahl der Corona-Patienten in Krankenhäusern und Intensivstationen gesunken sei. Nun darf der ungeimpfte Student wieder Lehrveranstaltungen besuchen. Recht bekamen auch ein Sportstudio und ein Einzelhandelsgeschäft: 2G gilt für sie nicht mehr.

Fachanwalt: Zu Beginn der Pandemie sind fast alle Eilanträge gescheitert

Die Gefahr, dass er mit seinem Beharren auf die Corona-Alarmstufe II scheitern könnte, war Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vorher bewusst. „Mache ich es zu locker, dann freut sich das Virus, oder ich mache es zu scharf, dann ist es nicht mehr verhältnismäßig“, sagte er vor eineinhalb Wochen. In dieser Woche änderte das Land dann seine Corona-Verordnung.


Völlig unbegründet war Kretschmanns Hoffnung, dass es gut gehen könnte, allerdings nicht. „Alles ist beklagt worden, was wir gemacht haben. Meistens haben uns die Gerichte Recht gegeben in unseren Maßnahmen, natürlich nicht immer“, sagte er vorab.

Tobias Friedrich, Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Stuttgart, überrascht diese Erwartungshaltung nicht. Zu Beginn der Pandemie seien fast alle Eilanträge in Mannheim gescheitert. „Mit der Gefahr für Leib und Leben ließen sich damit auch rechtlich zweifelhafte Regelungen rechtfertigen“, so Friedrich. „Dabei war festzustellen, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg stets den Angaben und der Risikobewertung von Landesregierung und RKI folgte.“

Friedrich sieht deutliche Unterschiede, was die bundesweit 15 Oberverwaltungsgerichte angeht, zu denen auch der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim gehört. Er nennt das Beispiel Bayern: Das dortige Gericht habe die 2G-Regel im Einzelhandel schon früher gekippt. Noch deutlicher hätten die Richter in Niedersachsen geurteilt: 2G sei zur weiteren Eindämmung des Coronavirus’ nicht notwendig.

Indirekt wird Friedrichs Einschätzung durch Frank Ulrich Montgomery, Ratsvorsitzender des Weltärztebunds, bestätigt. Der hat die niedersächsischen Richter als „kleine Richterlein“ bezeichnet, weil sie „im Eilverfahren ohne Expertenanhörung Corona-Regeln abschaffen“, wie er der „Zeit“ sagte. Allerdings liegt die Erfolgsquote der Antragsteller in Niedersachsen mit neun Prozent nicht wesentlich höher als in Baden-Württemberg.

Matthias Hettich, Pressesprecher des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim, weist außerdem darauf hin, dass viele Antragsteller ihre Anträge zurückziehen oder für erledigt erklären, sobald klar ist, dass sie Recht bekommen würden. Als Beispiel nennt er die Entscheidung des Gerichts, dass die Öffnung von Läden bis 800 Quadratmeter und von Auto-, Fahrrad- und Buchhandel mit beliebiger Größe dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspricht. Die Sache sei nur einmal entschieden worden, dennoch hätten alle Antragssteller profitiert.

Die Pandemie hat die ohnehin hohe Belastung der Oberverwaltungsgerichte nochmals erhöht. In Baden-Württemberg entfielen 7,8 Prozent der 7736 Verfahren, die seit 1. März 2020 begannen, auf Corona. Noch höher ist der Anteil in Bayern, wo auf 10 000 Verfahren 1100 Corona-Verfahren kamen. Das dortige Gericht wurde zeitweise um einen 25. Senat aufgestockt. In Nordrhein-Westfalen waren es 14 947 Verfahren – und 1112, bei denen es um die Pandemie ging. Das entspricht 7,4 Prozent. In Hessen setzte sich das Land in 236 von 237 Fällen vor Gericht durch

Die Rechtsmaterie ist auch deshalb so kompliziert, weil sie sich ständig ändert. Im Wochentakt kommen neue Maßnahmen dazu und werden andere gestrichen. Manche Länder besitzen sogar mehrere Corona-Verordnungen: In Sachsen war es bis zu drei. Da tut sich eine Regierung leichter, deren Oberverwaltungsgericht selten widerspricht. Insofern könnte Kretschmann Hessen beneiden. Dort gewann noch nie ein Antragsteller ganz, einer bekam teils Recht und 236 Mal siegte das Land.

Warum Schuhe mal täglicher Bedarf sind und mal nicht

Nach Auffassung von Andreas Spiegel, Pressesprecher am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, hängen die unterschiedlichen Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte mit unterschiedlichen Ausgangslagen zusammen. So erkläre sich etwa, warum die bayerischen Richter im März 2021 Schuhe zum täglichen Bedarf rechneten, die baden-württembergischen im Januar 2022 dagegen nicht. Vor einem Jahr, erinnert Spiegel, waren noch alle Läden mit Ausnahme jener des täglichen Bedarfs geschlossen. Vor einem Monat sei es nur darum gegangen, ob Ungeimpfte Schuhe kaufen dürfen oder nicht.

 

Der Beitrag wurde am 28.01.2022 im Staatsanzeiger veröffentlicht.

 

Michael Schwarz

Redakteur Ressort Politik und Verwaltung, Staatsanzeiger für Baden-Württemberg GmbH & Co. KG, Stuttgart
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