17.01.2022

Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau? (1)

Handlungsfelder für die deutsche Polizei im Rahmen der anstehenden digitalen Transformation – Teil 1

Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau? (1)

Handlungsfelder für die deutsche Polizei im Rahmen der anstehenden digitalen Transformation – Teil 1

Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die aktuellen und geplanten Digitalisierungsvorhaben der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union entfalten erhebliche Wechselwirkungen miteinander und werden die polizeiliche Sicherheitsarchitektur maßgeblich verändern. Dieser Artikel widmet sich einem kursorischen Überblick über die betroffenen Handlungsfelder und den Interferenzen der damit verbundenen Aufgabenkomplexe (Teil 1).

Einsatznachbereitung: Aus den Erfahrungen lernen

Der Terminus der „Digitalen Transformation“ ist eine Sammelbezeichnung für einen mehrdimensionalen Anpassungsprozess, der für zivile und staatliche Institutionen ein erhebliches Konfliktpotenzial birgt:1 Zunächst entsteht mit der Einführung neuer Hard- und Software ein Qualifizierungsbedarf für die damit betrauten Mitarbeiter. Des Weiteren bringt die Digitalisierung Veränderungen in den Arbeitsabläufen mit sich, die in aller Regel auch eine Adaption der Aufbauorganisation erforderlich machen. Nicht zuletzt unterliegen die rechtlichen Rahmenbedingungen einem fortschreitenden Anpassungsbedarf im Spannungsfeld zwischen Befugnisnorm und dem technisch Machbaren. Darüber hinaus ist sowohl die Personalgewinnung wie auch die Aus- und Fortbildung mit den neuen Rahmenbedingungen zu synchronisieren. Damit die Behördenkultur und das Führungspersonal entgegen der Zentrifugalkräfte der digitalen Transformation wirken können, sind diese beiden Handlungsfelder ebenfalls frühzeitig in den Blick zu nehmen.

Die erste bundesweite Digitalisierungsphase der öffentlichen Verwaltung vollzog sich bereits seit Mitte der 1960er Jahre.2 In der Polizei wurde dieser Prozess maßgeblich durch die Herausforderungen des RAF-Terrorismus angepeitscht. Die Transformation zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt vor allem durch eine Computerisierung der papiermäßigen Fahndungsbestände aus. Als prominentestes Beispiel kann das bundesweit einheitliche Informationssystem der Polizei (INPOL) benannt werden, das bereits 1972 eingeführt wurde. Mit dieser ersten Digitalisierungswelle vollzog sich eine pragmatische Verzahnung zwischen der klassischen Ermittlungsarbeit und der modernen Informations- und Kommunikationstechnik. Diese Anpassung an die einsatztaktischen Notwendigkeiten ist charakteristisch für die Behördenkultur der Polizeien des Bundes und der Länder, die von Raphael Behr bereits äußerst facettenreich beschrieben wurde.3 In dieser ersten Digitalisierungsphase wurde ein Erfahrungsschatz generiert, der im Rahmen einer „Einsatznachbereitung“ für die nunmehr anstehenden Prozesse systematisch ausgewertet werden kann.


Die zweite Digitalisierungswelle der öffentlichen Verwaltung wurde vor allem durch die Kommerzialisierung des Internets vorangetrieben und fand ihren Ausgangspunkt ungefähr mit der Jahrtausendwende. Diese Phase, die augenscheinlich immer noch nicht abgeschlossen ist,4 zeichnet sich für die Polizei vor allem dadurch aus, dass gänzlich neue Kriminalitätsphänomene entstehen (Cybercrime, Zahlungskartenkriminalität, etc.) oder bestehende Deliktsfelder um die digitale Dimension erweitert werden (Kinderpornographie, Spionage, Wirtschaftskriminalität, etc.). Darüber hinaus haben sich neue Kommunikationskanäle etabliert, die vor allem unter den Sammelbezeichnungen „Social Media“ oder „Web 2.0“ firmieren. Auch dieser neuen Dimension der sozialen Realität muss sich die Polizei in einer Doppelrolle als Nutzer und Kommunikationsgegenstand zuwenden. Beispielhaft zu benennen sind hier Öffentlichkeitsfahndungen über soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, aber auch Imagekampagnen über Onlinedienste wie YouTube oder Instagram.

Digitalisierung 3.0 – Wenn die Technik mit sich selber spricht

Mit Einführung der neuen bundeseinheitlichen und paneuropäischen Fahndungs- und Informationssysteme beginnt nunmehr eine dritte digitale Ära für die Polizeibehörden des Bundes und der Länder.5 Diese ist vor allem durch das interaktive und kollaborative Zusammenwirken der Hard- und Softwarekomponenten sowie der darin enthaltenen Daten gekennzeichnet: Nunmehr werden die Informationen nicht mehr in sogenannte isolierte „Daten-Silos“ eingegeben und für Abfragen der zugriffsberechtigten Kollegen zur Verfügung gestellt. Zukünftig garantiert ein bundeseinheitliches „Daten- Haus“ den vollautomatisierten Informationsabgleich zwischen unterschiedlichen Benutzergruppen aller beteiligten Behörden. Mit diesem neuen Ansatz wird die Speicherung redundanter Daten verhindert und in der Folge werden die manuellen Erfassungsaufwände reduziert. Gleichzeitig wird die selbsttätige Identifizierung von Eingabefehlern ermöglicht; ein Service, der bereits von namenhaften Suchmaschinen bekannt ist.

Darüber hinaus werden die gespeicherten Personen- und Sachdaten vollautomatisiert miteinander abgeglichen und somit bisher unentdeckte Zusammenhänge von Tätern und Taten oder gar kriminelle Strukturen aufgedeckt. Auf diese Weise werden neue Ermittlungsansätze ohne das Zutun von Mitarbeitern generiert.6 Den Schlussstein dieser Transformation bilden die ersten Pilotverfahren zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Auswertung von Videound Bilddateien. Darüber hinaus soll das sogenannte „Maschinelle Lernen“ zukünftig auch bei der Auswertung von Internetquellen, bei der Kryptoanalyse, der Textsuche und in Qualitätsprüfverfahren zum Einsatz kommen.7 Die Tatsache, dass die IT-Systeme zunehmend eigenständig bisher unzusammenhängende Datenbestände aggregieren können, konfrontiert nicht nur den gesamten Vollzugs- und Justizapparat mit vielfältigen Herausforderungen. Damit wird auch eine gesamtgesellschaftliche Leitdebatte erforderlich, um den Gestaltungsspielraum für die betroffenen Behörden in den folgenden Handlungsfeldern auszuloten.

Das Naheliegende: Die digitale Ausstattung

Der aktuelle Sachstand zur Ausstattung mit digitaler Hardware lässt sich beispielhaft der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion im November 2019 entnehmen: Demnach waren die Polizeibehörden des Bundes bereits vor der Corona-Lage mit mehreren Tausend mobilen Endgeräten ausgestattet, über die schon zum damaligen Zeitpunkt auf Ermittlungssoftware, aber auch auf allgemeine Verwaltungssysteme zurückgegriffen werden konnte.8 Dieser Trend hat sich im Laufe des zurückliegenden Jahres durch die Zwänge der Pandemieprävention maßgeblich verstärkt und es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig dieser Effekt in den genannten Behörden bestehen bleiben wird. Bei der Anpassung der Software zeigt sich, dass die fehlenden Programmiererkapazitäten auf dem deutschen Arbeitsmarkt zurzeit der maßgebliche Hemmschuh für die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung sind. Dies gilt in besonderem Maße für die Umsetzung der europäischen IT-Vorhaben auf nationaler Ebene. Hier macht sich der hohe zeitliche Druck besonders bemerkbar, mit dem die Richtlinien und Verordnungen in den Mitgliedstaaten des Schengen-Verbundes umzusetzen sind. Dabei ist insbesondere die Vernetzung der unzähligen IT-Komponenten eine kaum zu überwindende Herausforderung. Die größten Probleme entstehen durch eine eher zufällige Co-Evolution der einzelnen Softwareelemente, die nur schwerlich über die polizeiliche Gremienwelt zwischen Bund und Ländern zu synchronisieren ist. Darüber hinaus treten bei der Einführung von länderübergreifenden Fahndungs- und Fallbearbeitungssystemen immer wieder Veränderungsresistenzen, Bereichsegoismen und ein Beharrungsvermögen in Insellösungen zutage, die weit über das verfassungsrechtliche Trennungsgebot zwischen Bund und Ländern hinausgehen und nur schwerlich mit den Notwendigkeiten der Ermittlungstätigkeit zu rechtfertigen sind.

Die rechtliche Dimension der digitalen Transformation

Mit dem stetigen Voranschreiten der technischen Innovation wird mehr und mehr deutlich, dass die Grenzen polizeilicher Maßnahmen kaum noch durch praktische Machbarkeiten gesetzt werden: Durch die Digitalisierung der Recherchemöglichkeiten und die Automatisierung von Datenabgleichen vollziehen sich Rechenoperationen innerhalb von Millisekunden, die noch vor wenigen Jahren allenfalls mit einer Unzahl von Personenstunden leistbar gewesen wären. Im gleichen Zuge wie die technischen Möglichkeiten wächst aber auch der Bedarf an einer Diskussion über die Mittel-Zweck-Relationen in der digitalen Sphäre des demokratischen Rechtsstaates. Diese bildet die Voraussetzung für den anschließenden Gerinnungsprozess, der in entsprechenden Gesetzgebungsverfahren münden muss.

Ein aktuelles Beispiel ist die „Verifikation“ eines Fahndungstreffers durch zusätzliche Datenabgleiche aus einer begrenzten Anzahl potenzieller Übereinstimmungen, die bereits vollautomatisiert aus einem größeren Datenbestand vorgefiltert worden sind.9 Zurzeit ist noch klärungsbedürftig, ob es sich bei dieser Maßnahme lediglich um eine „Identitätsfeststellung“, um eine „Fahndung“ oder gar einen gänzlich neuen Rechtseingriff im Sinne des bundesdeutschen Normenkataloges handelt.10 Ein weiteres Beispiel ist die Videoauswertung im Rahmen der Ermittlungsverfahren rund um den G 20-Gipfel: Während durch die technischen Gegebenheiten eine vollautomatisierte biometrische Auswertung der rund 100 Terabyte umfassenden Videodaten grundsätzlich möglich wäre, ist die rechtliche Auseinandersetzung über die Zulässigkeit solcher Maßnahmen zweieinhalb Jahre nach diesem Ereignis immer noch nicht vollständig abgeschlossen.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

Erschienen im DPolBl 3/2021

 

1 Vgl. z. B. H. Hill, D. Kugelmann, M. Martini (Hrsg.): Digitalisierung in Recht, Politik und Verwaltung in Verwaltungsressourcen und Verwaltungsstrukturen Band 33, Nomos Verlag, 1. Auflage 2018; H. H. Lühr, R. Jabkowski, S. Smentek (Hrsg.): Handbuch Digitale Verwaltung, Kommunal- und Schul-Verlag, 1. Auflage 2019; H. W. Streicher: Digitale Transformation in der öffentlichen Verwaltung – Praxishandbuch für Projektleiter und Führungskräfte,

Springer Gabler, 1. Auflage 2020; etc.

2 Vgl. J. von Lucke: Digitalisierung in der Kernverwaltung – Konzepte in R. Heuermann, M. Tomenendal, C. Bressem (Hrsg.): Digitalisierung in Bund, Ländern und Gemeinden – IT-Organisation, Management und Empfehlungen, Springer Gabler, 1. Auflage 2017, S. 28 f.

3 Vgl. dazu ausführlich R. Behr: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols: Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2. Auflage 2008.

4 Vgl. hierzu auch T.-G. Rüdiger, P. S. Bayerl (Hrsg.): Digitale Polizeiarbeit –  Herausforderungen und Chancen, Springer VS. 1. Auflage 2018.

5 Vgl. hierzu auch die „Saarbrücker Agenda“ der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 30.11.2016.

6 Vgl. White Paper zum Programm Polizei 2020 des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 18.01.2018.

7 Vgl. Bundestagsdrucksache 19/15218: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur Polizei im digitalen Zeitalter vom 14. November 2019.

8 Vgl. Bundestagsdrucksache 19/15218: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur Polizei im digitalen Zeitalter vom 14. November 2019.

9 Vgl. Art. 33 (1) der Verordnung 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018.

10 Vgl. „Identitätsfeststellung“ und „Fahndung“ in Möllers (Hrsg.): Wörterbuch der Polizei C. H. Beck-Verlag, 3. Auflage 2018.

 

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Die Serie: Digitalisierung 3.0 – Nur neue Technik oder gänzlich neuer Behördenaufbau?

 

 

 

Gerhardt Weitkunat

Polizeioberrat, Diplomsoziologe, Potsdam
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