15.09.2012

Engmaschiges ökologisches Netz

Anforderungen an die FFH-Verträglichkeitsprüfung bei BImSchG-Anlagen

Engmaschiges ökologisches Netz

Anforderungen an die FFH-Verträglichkeitsprüfung bei BImSchG-Anlagen

Engmaschiges ökologisches Netz: Genehmigung von BImSchG-Anlagen nur bei Beachtung der Natura 2000-Vorgaben. | © mirpic - Fotolia
Engmaschiges ökologisches Netz: Genehmigung von BImSchG-Anlagen nur bei Beachtung der Natura 2000-Vorgaben. | © mirpic - Fotolia

Erst nach und nach wird die Tragweite des bereits Ende letzten Jahres ergangenen Urteils des OVG Münster (Az. 8 D 58/08 AK) deutlich – nicht nur für Kraftwerke, sondern für alle immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlagen.

Das Gericht hatte den Vorbescheid für das nahezu fertiggestellte 1,4 Milliarden-Kraftwerk Lünen aufgehoben und damit die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union konsequent umgesetzt, der in einem spektakulären Vorlageverfahren die Klagerechte von Umweltverbänden in Deutschland gegen Anlagen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) wesentlich erweitert hat (EuGH, Rs. C-115/09, Urteil vom Mai 2011). Der klagende BUND konnte sich damit erstmals erfolgreich auf Verstöße einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung gegen das Europäische Naturschutzrecht berufen. Die Vorhabenträgerin hat die Nichtzulassung der Revision beim Bundesverwaltungsgericht angegriffen; die Erfolgsaussichten des Verfahrens sind aber erfahrungsgemäß gering. Ein erneutes Genehmigungsverfahren ist wohl der einzige Weg aus der Sackgasse.

Der Fall hat grundsätzliche Bedeutung für die Genehmigungsfähigkeit von BImschG-Anlagen im Hinblick auf die Vorgaben des Europäischen Naturschutzrechts. Nachfolgend werden deshalb für Antragsteller und Behörden einige wesentliche Aspekte aus dem Urteil dargestellt.


Die Bedeutung von Natura 2000

„Natura 2000“ ist die griffige Bezeichnung für nach Europäischem Naturschutzrecht geschützte Gebiete für Vögel (Vogelschutzrichtlinie Nr. 2009/147/EG) und spezielle Arten und Lebensräume (Flora-Fauna-Habitat-Gebiete – FFH-Richtlinie Nr. 92/43/EWG). Die Natura 2000-Gebiete bilden ein zusammenhängendes ökologisches Netz, das sich über die gesamte EU erstreckt. (In Deutschland machen die insgesamt 5.266 Gebiete 15,4% der terrestrischen und 45% der maritimen Fläche aus.)

Da das Natura 2000-Netz relativ engmaschig ist, liegen viele BImSchG-Anlagen in der Nähe oder innerhalb von Schutzgebieten. Vor der Zulassung einer Anlage(nänderung) muss die Immissionsschutzbehörde daher prüfen, ob diese die Natura 2000-Vorgaben einhält. Umweltverbände können unter Verweis auf eine unterlassene oder fehlerhafte Natura 2000-Verträglichkeitsprüfung gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen klagen. Eine zu Unrecht unterlassene Verträglichkeitsprüfung kann im Gerichtsverfahren nur ausnahmsweise nachgeholt und Fehler können nur schwer geheilt werden.

Der fehlende Nachweis der Natura 2000-Verträglichkeit durch den Antragsteller kann damit zum Zulassungshindernis, jedenfalls aber zu einem wesentlichen Verzögerungsfaktor werden. Alle Beteiligten sollten sich deshalb mit den Anforderungen des § 34 Bundesnaturschutzgesetz vertraut machen, der die Natura 2000-Vorgaben in deutsches Recht umsetzt.

Natura 2000-Verträglichkeitsprüfung

Ziel der Natura 2000-Prüfung ist es, mögliche Beeinträchtigungen der geschützten Gebiete auszuschließen. Die Verträglichkeit eines Projekts mit den Natura 2000-Vorgaben wird in folgenden Stufen geprüft:

(1) Vorprüfung: Bei der Vorprüfung werden die Natura 2000-Gebiete „aussortiert“, für die das beantragte Vorhaben von vornherein keine erheblichen Beeinträchtigungen hervorrufen kann. Dies muss mit schlüssigen naturschutzfachlichen Argumenten unter Verwendung verfügbarer Daten belegt und nachvollziehbar dokumentiert werden. Bei einem Kraftwerksvorhaben sind dies jedenfalls die Natura 2000-Gebiete, die für den jeweiligen Stoff außerhalb der typischen Ausbreitungsgebiete für Depositionen liegen.

(2) Erheblichkeitsprüfung: Für die verbleibenden Gebiete sind Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse auszuschließen. Wenn Wissenslücken bestehen, kann der Antragsteller mit Analogieschlüssen zu bekannten Sachverhalten oder worst-case Betrachtungen arbeiten. Ferner sind Schutz- und Kompensationsmaßnahmen zur Minderung der Projektauswirkungen zu berücksichtigen. Im Einzelnen:

– Erhaltungszustand und Vorbelastung: Der Antragsteller muss aktuelle Daten zum Beleg des Erhaltungszustands und der Vorbelastung der geschützten Vögel, Lebensräume und Arten verwenden und ggfs. erheben. Die Vorbelastung (z.B. Versauerung des Bodens) beinhaltet Immissionen durch andere, bereits betriebene Anlagen.
– Belastungsgrenzen und Bagatellschwellen: Die sog. Belastungsgrenzen (critical loads) sind Immissionswerte, bei deren Einhaltung keine dauerhafte Schädigung bestimmter Lebensräume zu erwarten ist. Übersteigt die Vorbelastung des Natura 2000-Gebietes mit einem bestimmen Schadstoff bereits den critical load-Wert, ist dieses für weitere Belastungen gesperrt. Eine Ausnahme gilt, wenn die Zusatzbelastung durch das Projekt und andere geplante Projekte die Bagatellschwelle von 3% des critical-load-Wertes nicht übersteigt.
– Zusatzbelastung: Bei der Ermittlung der Zusatzbelastung sind andere geplante Projekte in der Umgebung einzubeziehen (Summation). Dadurch soll eine schleichende Beeinträchtigung durch nacheinander genehmigte, für sich genommen das Gebiet nicht erheblich beeinträchtigende Vorhaben verhindert werden. Im Ergebnis können deshalb neue Vorhaben nur solange genehmigt werden, wie in Summation die Möglichkeit erheblicher Beeinträchtigungen des Gebietes mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen ist. Das OVG Münster wendet hier den Prioritätsgrundsatz an, wonach der zeitlich frühere Antrag Vorrang hat, soweit bei der Behörde prüffähige Antragsunterlagen vorliegen. Ein später beantragtes Vorhaben muss sich somit ggfs. entgegenhalten lassen, durch die Überschreitung der Bagatellschwelle von 3% erhebliche Beeinträchtigungen des Natura 2000-Gebietes hervorzurufen.

(3) Abweichungsprüfung: Verbleiben Zweifel an der Natura 2000-Verträglichkeit, kann das Projekt nur noch über eine Abweichungsprüfung zugelassen werden. Dafür müssen zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses – z.B. die Sicherung der Energieversorgung – das Vorhaben rechtfertigen und dürfen keine zumutbaren – auch technischen – Alternativen zur Verfügung stehen. Bei der Beeinträchtigung prioritärer (d.h. besonders geschützter) Arten oder Lebensraumtypen muss vor der Genehmigung die EU-Kommission beteiligt werden, wenn andere Gründe als die menschliche Gesundheit, öffentliche Sicherheit oder günstige Auswirkungen für die Umwelt die Beeinträchtigungen rechtfertigen sollen. Gerade bei BImSchG-Anlagen können diese Gründe im Einzelfall jedoch vorliegen. Auch diese Prüfung ist mit einer durchschnittlichen Dauer von einem Jahr ein wichtiger Zeitfaktor.

(4) Kohärenzmaßnahmen: Sind erhebliche Beeinträchtigungen nicht auszuschließen, muss das Natura 2000-Netz durch Kohärenzmaßnahmen gesichert werden, die bereits wirken, wenn die Projektauswirkungen auftreten.

Koordination zwischen Immissionsschutz- und Wasserbehörden

Die Behörden müssen die parallelen Genehmigungsverfahren koordinieren: Wegen ihrer Fachnähe beurteilt die Wasserbehörde die Zulässigkeit des Schadstoffeintrags der Anlage in Gewässer sowohl über den Wasser- als auch über den Luftpfad (für den eigentlich die Immissionsschutzbehörde zuständig wäre) – jedenfalls wenn der größere Eintrag über den Wasserpfad erfolgt. Ggfs. kann auch eine aquatische Natura 2000-Prüfung erforderlich werden. Für die Betriebsphase stellt die Immissionsschutzbehörde den Einbezug erst später verfügbarer wasserbehördlicher Erkenntnisse und Entscheidungen durch (den Vorbehalt nachträglicher) Inhalts- und Nebenbestimmungen sicher.

Ausblick

Es kann keinen Zweifel mehr daran geben, dass die Natura 2000-Vorgaben nunmehr strikt auch auf BImSchG-Anlagen anzuwenden sind. Wie der Fall Lünen zeigt, können diese einen wesentlichen Verzögerungsfaktor, wenn nicht sogar ein Genehmigungshindernis, darstellen. Wirtschaftsminister Rösler hat – in einem anderen Kontext – vor kurzem vorgeschlagen, die Anwendung des Europäischen Naturschutzrechts temporär auszusetzen. Auch wenn dies dem einen oder anderen Beteiligten attraktiv erscheinen mag – der Weg zu rechtssicheren Anlagengenehmigungen wird vielmehr durch eine in ihren Voraussetzungen zunehmend klare Anwendung der Natura 2000-Vorgaben führen.

 

Dr. Bettina Enderle

Kanzlei für Umwelt- und Planungsrecht, Frankfurt am Main
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