15.09.2012

Demokratie ohne Durchblick?

Wahlrecht ist Machtrecht - Gesetz erneut verfassungswidrig

Demokratie ohne Durchblick?

Wahlrecht ist Machtrecht - Gesetz erneut verfassungswidrig

Wenn es nur so einfach wäre… Parteiengerangel und Machtkalkül verhindern den großen Wurf beim Wahlrecht. | © p!xel 66 - Fotolia
Wenn es nur so einfach wäre… Parteiengerangel und Machtkalkül verhindern den großen Wurf beim Wahlrecht. | © p!xel 66 - Fotolia

Die Vorgeschichte

Das Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012 hat eine Vorgeschichte: 2008 hatte der Senat die „Paradoxie des negativen Stimmgewichts“ für verfassungswidrig erklärt, nachdem sie bei einer Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 für alle sichtbar geworden war. Das Gericht gab dem Bundestag bis Mitte 2011 Zeit, den Mangel zu beseitigen, und nahm damit sogar hin, dass 2009 auf verfassungswidriger Grundlage gewählt wurde (BVerfG, Amtliche Sammlung, Bd. 121, S. 266).

Die überaus großzügige Bemessung der Frist hatte vermutlich zwei Gründe: Das negative Stimmgewicht war bereits in einem früheren, 1997 entschiedenen Verfahren gerügt worden, ohne dass der Senat aber darauf eingegangen wäre (siehe von Arnim, Volksparteien ohne Volk, 2009, S. 142).

Zudem wollte der Senat dem Bundestag die Zeit für eine umfassende Reform lassen und ihm, wie er schrieb, die Möglichkeit geben, „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen.“


Doch das neue Wahlgesetz beschränkte sich auf die vermeintliche Beseitigung des negativen Stimmgewichts – und erhöhte die Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit des Wahlrechts noch weiter. Trotzdem wurde die Frist nicht eingehalten. Die Neuerung trat erst am 03.12. 2011 in Kraft, fast ein halbes Jahr zu spät.

Das Urteil

Das Urteil vom 25. Juli erklärt das neue Wahlgesetz in drei Bereichen für verfassungswidrig:

– das sog. negative Stimmgewicht, das dazu führt, dass ein Mehr an Wählerstimmen für eine Partei paradoxerweise eine Einbuße an Mandaten bewirkt;
– die sog. Reststimmenverwertung, die Stimmen, die in den Bundesländern nicht für einen Sitz ausreichen, zusammenzählt und dann doch noch mit Mandaten bedenkt.
– Praktisch am gewichtigsten ist die Entscheidung zu den Überhangmandaten. Diese treten auf, wenn eine Partei in einen Bundesland mehr Direktmandate als Listenstimmen erlangt. Sie werden im Bund – im Gegensatz zu den Ländern – nicht durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert. Das Gericht hat sie für verfassungswidrig erklärt, soweit sie 15 überschreiten.

Negatives Stimmgewicht

Hinsichtlich des negativen Stimmgewichts war das Urteil zu erwarten. Der Senat hatte sich 2008 festgelegt: Derartige Effekte seien, sofern sie nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen auftreten, verfassungswidrig. Mathematiker hatten dem Gericht nun an Hand von Simulationsmodellen vorgerechnet, dass das neue Wahlrecht mit mindestens ebenso großer Wahrscheinlichkeit zu negativen Stimmgewichten führt wie das bisherige, 2008 für verfassungswidrig erklärte. Damit war klar, dass die Regelung insofern für verfassungswidrig erklärt werden musste.

Die Reststimmenverwertung

Die Reststimmenverwertung hatte die Koalition auf Wunsch der FDP eingeführt. In kleinen Ländern wie Bremen, die nur wenige Abgeordnete in den Bundestag entsenden, wäre es nämlich zu einer faktischen Sperrwirkung von weit über fünf Prozent gekommen. Stimmen für kleinere Parteien wären deshalb verloren gewesen. Bisher war dies durch eine Verbindung der Landeslisten verhindert worden. Dadurch waren nicht zum Zuge gekommene Stimmen in einem Land derselben Partei in anderen Ländern zugerechnet worden. Solche Listenverbindung hatte die Koalition beseitigt – um dem negativen Stimmgewicht entgegenzuwirken, das nun aber an anderer Stelle doch wieder drohte. Das Gesetz hatte allerdings nur die bundesweite Verwertung von Abrundungsverlusten vorgesehen, nicht auch die Verrechnung von Abrundungsgewinnen. Darin sah das Gericht ebenfalls eine verfassungswidrige Verletzung des Gleichheitssatzes.

Überhangmandate

Bei den Überhangmandaten wird besonders deutlich, dass das Wahlrecht Machtrecht ist. Von seiner Gestaltung kann der Erfolg einer Partei mit abhängen. Die Union hatte bei der Bundestagswahl 2009 24 Überhangmandate erhalten und hofft, dass Überhangmandate auch 2013 ihre Chance, die Regierung fortzuführen, verbessern. Deshalb drückte die Koalition von Union und FDP mit ihrer Mehrheit im Bundestag das Festhalten an Überhangmandaten ohne Ausgleich durch; umgekehrt war die Opposition strikt dagegen. Hinsichtlich der Überhangmandate hatte der Senat sich früher schon geäußert, bisher aber keine klaren Grenzen gezogen:

– 1988 wollte er Überhangmandate nur „in engen Grenzen“ hinnehmen, die bei einem einzigen Überhangmandat, um das es damals ging, aber noch nicht überschritten seien (BVerfG, Amtliche Sammlung, Bd. 79, S. 172).
– 1997 sah der Senat sich dennoch nicht im Stande, die nunmehr 16 Überhangmandate (12 der CDU und vier der SPD), die die CDU/CSU-FDP-Mehrheit von Bundeskanzler Helmut Kohl stabilisierten, für verfassungswidrig zu erklären. Denn die vier Richter, die der Union ihr Richteramt verdankten, blockierten eine solche Entscheidung (BVerfG, Bd. 95, S. 335). Angesichts des 4:4-Votums blieb das Wahlgesetz damals in Kraft.
– 2008 erklärte der Senat nur das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig, sparte die Frage der Verfassungsmäßigkeit der 16 Überhangmandate, die bei der Bundestagswahl 2005 angefallen waren (neun für die SPD und sieben für die CDU), aber aus, obwohl diese eine Ursache für das negative Stimmgewicht darstellten, wenn auch nicht die einzige.

Angesichts der 24 Überhangmandate, die 2009 entstanden waren, konnte der Senat die Klärung aber nicht mehr hinausschieben. Seine – nunmehr einstimmige – Entscheidung, 15 (unausgeglichene) Überhangmandate gerade noch zuzulassen, mehr aber nicht, war wohl ein doppelter Kompromiss: einerseits zwischen Regierung und Opposition – die Opposition hatte der Regierung im Gesetzgebungsverfahren eine Teilanrechnung der Überhangmandate vorgeschlagen, was diese aber ablehnte – andererseits aber auch ein Kompromiss zwischen den Richtern selbst.

Schließlich hatte der Vorsitzende, Andreas Voßkuhle, in der mündlichen Verhandlung das mangelnde Zusammengehen von Regierung und Opposition bedauert. Da wollte der Senat sich diesmal nicht selbst der Peinlichkeit eines parteilich gespaltenen Votums aussetzen. Im Übrigen hatten 1997 auch die vier von der Union bestellten Richter eingeräumt, die verfassungsrechtlichen Grenzen würden überschritten, falls sich künftig „Verhältnisse einstellen, unter denen Überhangmandate von Wahl zu Wahl regelmäßig in größerer Zahl anfallen“ (BVerfG, Bd. 95, S. 365).

Genau diese Situation liegt nun vor: auf Grund des Rückgangs der Wähleranteile der beiden größeren Parteien, der Zunahme der Zahl und des Gewichts kleinerer Parteien und der wachsenden Wahrscheinlichkeit des Stimmensplittings. Da Überhangmandate auch in geringerer Zahl als 16 den Gleichheitssatz verfälschen, war es allerdings nicht leicht, das Urteil zu begründen. Auch insoweit greift der Senat auf die Entscheidung von 1997 zurück. Der Grundcharakter als Verhältniswahl verbiete ein Überhandnehmen der Überhangmandate. Um dem Gesetzgeber eine Richtschnur zu geben und das Risiko einer verfassungswidrigen Bundestagswahl 2013 zu verringern, wurde auch eine konkrete Zahl genannt.

Ausblick

Ohne Gerangel wird es aber auch dieses Mal nicht abgehen – denn, wie gesagt, Wahlrecht ist Machtrecht. Ein großer Wurf dürfte schon angesichts des Zeitdrucks ausgeschlossen sein, so dass das Wahlsystem und damit das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform des angeblichen Souveräns, des Bürgers, weiterhin kaum durchschaubar bleibt. Sollten unzulässige Überhangmandate durch Ausgleichsmandate kompensiert werden, droht auch noch eine Aufblähung des Bundestags. Bei der letzten Landtagswahl in Nordrein-Westfalen wurden die 23 Überhangmandate der SPD durch 33 zusätzliche Mandate der anderen Parteien ausgeglichen, so dass der Landtag statt 181 nun 237 Mitglieder hat. Nicht einfach wird auch die Aufteilung der 15 zulässigen ausgleichslosen Überhangmandate, falls Union und SPD welche bekommen – dies zusammen aber mehr als 15 sind.

 

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim

entpflichteter Universitätsprofessor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und Mitglied des dortigen Forschungsinstituts
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