09.06.2023

Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Kommunen wollen ans Steuer bei der Anordnung von Tempo 30

Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Kommunen wollen ans Steuer bei der Anordnung von Tempo 30

Die Rufe der Städte nach Tempo 30 innerorts werden immer lauter | © Fokussiert – stock.adobe.com
Die Rufe der Städte nach Tempo 30 innerorts werden immer lauter | © Fokussiert – stock.adobe.com

Der Bund bei Tempo 30 mit Fuß auf legislativem Bremspedal

„Wir sollten nicht fragen, wie können wir uns an immer höhere Geschwindigkeiten anpassen, sondern wir sollten auch fragen, welche Geschwindigkeit ist eigentlich gut für uns Menschen? Was führt zu einem erfüllten oder einem guten Leben? (Hartmut Rosa, 2016)

Deutschland macht Tempo. Bei der ökologischen Transformation einer klimagerechten Gesellschaft auf dem Energiesektor. Bei der Verkehrswende etwa mit dem Deutschlandticket. Nur bei verkehrlichen Maßnahmen zur Reduzierung der Geschwindigkeit von Fahrzeugen scheut die Politik, mehr Gas zu geben. Im Falle von Tempo 100 auf Autobahnen steht die Ampel auf Gelb-Rot. Die Rufe der Städte nach Tempo 30 innerorts werden jedoch immer lauter. Der folgende Beitrag beleuchtet die aktuelle Rechtslage im Straßenverkehrsrecht und skizziert den Reformbedarf, den Kommunen mehr Kompetenzen zu übertragen.


Tempo 30 in den Kommunen auf dem Prüfstand

Bereits im Juli 2021 forderte die kommunale Initiative für sozialverträglichen Verkehr „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“, den Bund auf, umgehend die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Kommunen ohne weitere Einschränkungen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts dort anordnen können, wo sie es für notwendig halten.

Der 73. Deutsche Juristentag beschloss 2022 in Bonn z. B. durch Anpassung der Straßenverkehrsordnung (StVO) im Interesse einer flächendeckenden innerörtlichen Verkehrsberuhigung der kommunalen Verkehrspolitik mehr Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen (Beschluss Öffentliches Recht III Nr. 14). Die städtische Bürgerschaft sei gerade als solche von Verkehrsproblemen betroffen und die Stadt aufgrund komplexer Zuständigkeiten wichtiger Akteur der Verkehrsverwaltung. Da sich diese Bedeutung in der gesetzlichen Steuerung bislang noch angemessen widerspiegele, sollten die Kommunen durch Satzung über eine flächendeckende innerörtliche Verkehrsberuhigung (Tempo 30) entscheiden können (Grigoleit, These III 6-8).

In einer aktuellen Resolution fordert der Deutsche Städtetag, den Städten zu ermöglichen, innerorts die Geschwindigkeit auf Tempo 30 für einzelne Straßen unabhängig von besonderen Gefahrensituationen zu begrenzen und ein generelles Tempolimit von 30 km/h anzuordnen und nur auf ausgewählten Hauptverkehrsstraßen Tempo 50 oder andere stadt- und menschenverträgliche Geschwindigkeiten zuzulassen.

Die Verkehrsministerkonferenz begrüßte im März 2023 diese Initiative und vertrat die Ansicht, dass den Kommunen die Anordnung von innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 30 km/h künftig auch auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) sowie auf weiteren Hauptverkehrsstraßen und sonstigen Vorfahrtstraßen nach klar definierten Kriterien erleichtert werden soll und bat die straßen- verkehrsrechtlichen Vorschriften entsprechend anzupassen.

Der Bund mit Fuß auf legislativem Bremspedal

Der Koalitionsvertrag der regierenden Parteien im Bund „Mehr Fortschritt wagen“ kündigt immerhin an, das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung so anzupassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen (S. 41).

Das zuständige Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) zeigt sich im Sinne dieser Zielvorgabe zwar „offen für Initiativen, die die Verkehrssicherheit erhöhen und zum Klimaschutz beitragen“, ist aber von flächendeckendem Tempo 30 oder Geschwindigkeitsbeschränkungen in Durchgangsstraßen nicht überzeugt (https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Artikel/K/tempo-30.html, Zugriff 17.04.2023).  Eine Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 sei innerorts in vielen Bereichen wichtig, jedoch nicht überall notwendig.

Zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger könne bereits heute aus verschiedensten Gründen Tempo 30 angeordnet werden: In Wohngebieten, wo mit einer hohen Fußgänger- und Radverkehrsdichte zu rechnen sei, könne eine Tempo-30-Zone oder auf bestimmten Strecken, wo eine besondere Gefahrenlage bzw. ein erhöhtes Risiko für Unfälle bestehe, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h angeordnet werden. Dies gelte ebenso im unmittelbaren Bereich um sensible Einrichtungen wie Schulen und Kindertagesstätten, Kindergärten, Krankenhäuser oder Alten- und Pflegeheime sogar auf Hauptverkehrsstraßen. Schließlich könne Tempo 30 dem Schutz vor unzumutbaren Lärm und Abgasen dienen. Das Bundesministerium prüfe derzeit die genannten Vorschläge, insbesondere rechtlich, und will über weitere Schritte informieren.

Zonen im Schilderwald

Die ministerielle Prüfung bewegt sich offenbar auf längerer Strecke. Der Teufel liegt dabei wie immer im Detail. Die derzeitige Rechtslage ist schilderwaldähnlich komplex. Es gilt zu unterscheiden, ob ganze Tempo-30-Zonen oder nur streckenbezogene Geschwindigkeitsbegrenzungen (differenziert nach einerseits Orts- oder anderseits Bundes- Landes- oder Kreisstraßen) eingerichtet werden sollen. § 3 StVO (Geschwindigkeit) regelt zunächst grundsätzlich in Abs. 1 Nr. 1, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch unter günstigen Umständen innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 Km/h beträgt.

Gemäß § 45 Abs. 1 c StVO können die Straßenverkehrsbehörden im Einvernehmen mit der Gemeinde (falls diese nicht zugleich Behördenträger ist wie in den meisten Städten) innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf Tempo 30-Zonen anordnen. Wenn die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, hat die Anordnung auf Antrag der Gemeinde zu erfolgen (VV zu § 45 zu Abschnitt 1 bis 1e XI 5). Ausdrücklich ausgenommen sind indes klassifizierte Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes- Landes- und Kreisstraßen) sowie Vorfahrtsstraßen. Die Entscheidung über die Zonen ist im Rahmen einer flächenhaften Verkehrsplanung unter Berücksichtigung eines leistungsfähigen Vorfahrstraßennetzes nach der Charakteristik des Gebietes zu treffen (VV zu § 45 zu Abschnitt 1 bis 1e XI 1).

Nach umstrittener Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes (Beschluss vom 01.09.2017, 3 B 50/16) gilt allerdings weiter der normative Engpass des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO, wonach die Aufstellung einer Tempo-30-Zone aufgrund besonderer Umstände zwingend erforderlich sein muss, d. h., andere mildere Maßnahmen, wie Querungshilfen etc. nicht ausreichen, um die bezweckten Wirkungen zu erzielen.

Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Strecke

Damit unterliegen Tempo 30-Zonen trotz dieser Hürden jedenfalls nicht dem strengen Postulat des § 45 Abs. 9 StVO im Übrigen. Diese Vorschrift verlangt für streckenbezogene Beschränkungen des fließenden Verkehrs eine Gefahrenlage aufgrund besonderer örtlicher Verhältnisse. Diese muss das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung vor allem der Sicherheit, Leichtigkeit und Ordnung des Verkehrs erheblich übersteigen. Nötig ist eine konkrete Gefahr, die auf örtlichen Verhältnissen beruht. Es genügen deutlich erhöhte Unfallzahlen (zuletzt: BVerwG, NJW 2011, 246).

Nach der Bestimmung des § 45 Abs. 9 Satz 5 Nr. 6 StVO (i. V. m. VwV zu Verkehrszeichen 274 XI) sind streckenbezogene Beschränkungen auf Tempo 30 von bis zu 300 Metern von dieser qualifizierten Gefahrenlage ausgenommen und an sich regelhaft im unmittelbaren Bereich von an Straßen gelegenen Kindergärten, -tagesstätten, -krippen, -horten, allgemeinbildenden Schulen und Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen und Krankenhäuser vorzusehen. Vorausgesetzt, diese Einrichtungen haben einen direkten Zugang zur Straße oder es ist starker Ziel- und Quellverkehr mit all seinen kritischen Begleiterscheinungen vorhanden. Dies gilt insbesondere für die genannten klassifizierten Straßen und Vorfahrtsstraßen.

Der Gesetzgeber hütet sich jedoch trotz dieses privilegierenden Schutzzieles vor einem „Automatismus“ der Anordnung (BR-Drs. 332/16, S. 14). Auf Hauptverkehrsstraßen müsse weiter zügig vorangekommen werden können, Schleichverkehr sei zu vermeiden. Auch die oberste Rechtsprechung (aber streitig: Nachweise bei Hentschel/König/Dauer, 47. Aufl. 2023, § 45 Rn. 49 f) stößt ins gleiche Horn, da sie für eine entsprechende Anordnung nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO wie bei den Tempo-30-Zonen verlangt, dass diese stets im Einzelfall „auf Grund besonderer Umstände zwingend erforderlich ist“.

Tempo 30 als Schutzschild gegen Lärm und Abgase

Schließlich können streckenbezogenen Beschränkungen wegen unzumutbarer Immissionen eingerichtet werden. Nach § 45 Abs. 1 Satz Nr. 3 StVO kann die Benutzung bestimmter Straßen und Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränkt werden. Auch hier greift indes die normative Geschwindkeitsbeschränkung“ des § 45 Abs. 9 StVO, wonach Verkehrsbeschränkungen „nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt“.

Voraussetzung ist deshalb die Überschreitung des ortsüblichen Zumutbaren. Orientierungshilfe sind dabei die Grenzwerte der 16. Bundes-Immissionsschutzverordnung. Diese müssen nicht nur unwesentlich überschritten werden. Es genügt zur Feststellung des der durch Verkehrslärm verursachten Belastung, die Verkehrsmenge zu ermitteln, sofern sich hieraus genügend Anhaltspunkte für die Bewertung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung ergeben. Die Behörde muss bei ihrer Entscheidung die Bedeutung der Wohnruhe angemessen berücksichtigen.

Bei einer Grenzwertüberschreitung ist eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich, um zu entscheiden, ob das Tempo reduziert werden muss. Im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung muss die Behörde eine Gesamtbilanz der Folgen unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls vornehmen. Dabei wirkt Ziffer 12 (X.) zu Zeichen 274 der VwV-StVO ermessenslenkend, wonach Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Gründen des Lärmschutzes nur nach Maßgabe der Lärmschutz-Richtlinien-StV angeordnet werden dürfen (zuletzt etwa VG Köln, Anerkenntnisurteil vom 29.04.2022, 18 K 3145/19).

Legislative Straßenbaustelle StVO

Was ist zu tun? Die Kommunen brauchen neue Anordnungsinstrumente, um weitgehend nach ihrem Ermessen Tempo 30 in ihren Straßen innerorts einzuführen. Tempo-30-Zonen sollen die Kommunen überall einrichten dürfen, wo sie es für erforderlich halten. Für streckenbezogene Beschränkungen muss die Voraussetzung der Gefahrenlage für alle Straßen entfallen, wenn ansonsten nicht die Sicherheit stärker gefährdet werden würde oder der Verkehrsfluss zum Erliegen käme. In großräumigeren Bereichen insbesondere von Schulen und Kindergärten sollten die Behörden verpflichtet sein, regelhaft Tempo 30 anzuordnen.

Ebenso sollten die klimagerechte Reduzierung von Emissionen bei den Tempo-Maßnahmen qualifiziertes Schutzziel werden, wenn durch die Geschwindigkeitsbeschränkungen vor Ort eine Verminderung von CO-2 zu erwarten ist. Unabhängig davon, sind die Grenzwerte dem Gesundheitsschutz entsprechend deutlich nach unten anzupassen.

Schließlich muss bei allen Maßnahmen das juristische Damoklesschwert der zwingenden Erforderlichkeit gestrichen werden, wonach zunächst mildere Verkehrseinschränkungen vorgesehen werden müssen. § 49 Abs. 9 StVO könnte insofern gänzlich gestrichen werden.

Klimawandel als Motor

Das Bundesumweltamt stellte bereits im Jahr 2016 in einer Untersuchung fest, dass Tempo 30 auch in Hauptverkehrsstraßen überwiegend positive Wirkungen hat; in den meisten Fällen mit Gewinnen bei Verkehrssicherheit, Lärm- und Luftschadstoffminderung und bei den Aufenthaltsqualitäten. Gleichzeitig werde die Auto-Mobilität nicht übermäßig eingeschränkt.

Minderungseffekte des CO-2 Ausstoßes durch Kraftfahrzeuge mit Hilfe von Tempo-30-Maßnahmen helfen auch dem Klima. Ein Tempolimit allein macht jedoch noch keinen „klimagerechten Sommer“. Das Fehlen eines Tempolimits muss nämlich im Hinblick auf die Einhaltung des verbindlichen 1,5 Grad-Zieles – so das BVerfG in einem neueren Beschluss vom 15.02.2022 (1 BvR 2146/22) zum Tempolimit auf Autobahnen – insoweit eingriffsähnliche Vorwirkungen haben.

Mehr Tempo 30 in den Städten bedeutete, die Städte nicht nur klimagerechter zu gestalten, sondern sie leiser, langsamer und damit lebenswerter zu machen. Es ist an der Zeit, die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs als Leitmotiv der StVO durch ökologisch motivierte Suffizienzstrategien auch im Verkehrsordnungssektor zu ersetzen. Die weiterhin vor allem flächenmäßig größeren Städten nötige dynamische Mobilität muss vorrangig eine ausgebauter zuverlässiger ÖPNV sicherstellen. Wege und Straßen müssen sämtlich fahrrad- und fußgängergerecht verändert, die Fixierung auf das Auto aufgegeben werden. Und alles mit Tempo. Am Ende des Weges kann die Stadt der Zukunft nur eine nachhaltige Stadt sein.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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