13.04.2022

Das Recht, die Wahl zu haben

Die Geschäftsordnung des Bundestags ist grundgesetzkonform

Das Recht, die Wahl zu haben

Die Geschäftsordnung des Bundestags ist grundgesetzkonform

Legitimation können sich Mandatsträger durch überzeugende Persönlichkeit bzw. Fachkenntnis erarbeiten und nicht vor Gericht erstreiten. © Andreas Prott - stock.adobe.com
Legitimation können sich Mandatsträger durch überzeugende Persönlichkeit bzw. Fachkenntnis erarbeiten und nicht vor Gericht erstreiten. © Andreas Prott - stock.adobe.com

„Demokratie bedeutet, die Wahl haben.“ (Jeannine Luczak-Wild)

 

Am 22. März 2022 lehnte das Bundesverfassungsgericht auch in den Hauptsacheverfahren zwei Anträge aus der Ecke der AfD-Fraktion des 19. Deutschen Bundestages zur Besetzung des Bundestagpräsidiums ab. Die Hauptsacheverfahren betrafen jeweils Organstreitverfahren, in welchen ein Abgeordneter der AfD-Fraktion, MdB Fabian Jakobi, bzw. die Fraktion selbst Anträge stellten. PUBLICUS hat bereits im September 2021 über die Entscheidungen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung berichtet. Einzelne Abgeordnete können kein Vorschlagsrecht und eine Fraktion kein Grundmandat in parlamentarischen Gremien erzwingen.

Der Entscheidungsmaßstab im Organstreit

Die Antragsteller wollten im kontradiktorischen Organstreit gegen den 19. Deutschen Bundestag, den Antragsgegner, feststellen lassen, dass beanstandete Maßnahmen des Bundestagspräsidiums gegen Bestimmungen des Grundgesetzes verstoßen, § 67 Satz 1 BVerfGG. Der Antrag des Abgeordneten Jakobi (Az. 2 BvE 2 / 20) und der Antrag der AfD-Fraktion (Az. 2 BvE 9 / 20) zielte auf die Feststellung einer Verletzung ihrer jeweiligen organschaftlichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz, vgl. § 64 Abs. 1 Var. 1 BVerfGG.


Anders als im damaligen Verfahrensstadium des einstweiligen Rechtsschutzes ist der Entscheidungsmaßstab des Hauptsacheverfahrens ein anderer: Nicht mehr die Folgenabwägung prägt die verfassungsgerichtliche Entscheidung, sondern eine Prüfung am Inhalt des Grundgesetzes. Sodann weist Karlsruhe einen Antrag als unbegründet zurück, falls es keinen Verstoß gegen Verfassungsrecht erkennt. Im Erfolgsfalle des Antrags spricht es eine Feststellung aus, dass die beanstandete Maßnahme des Antragsgegners Verfassungsrecht verletzt. Die Verfassungsorgane sind nach dem Rechtsstaatsprinzip, Art.  20 Abs. 3 GG, verpflichtet, die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten und umzusetzen.

Sachverhalt

Der antragstellende Abgeordnete kündigte für eine Sitzung des Bundestages im Jahr 2019 an, einen weiteren Abgeordneten zur Wahl des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vorzuschlagen. Dieses Vorschlagsrecht wurde ihm seitens des Präsidiums mangels organschaftlichen Rechts als Abgeordneter hierzu verwehrt. Dieses Recht stehe nur den Fraktionen des Bundestages zu.

Die antragstellende Fraktion hatte in der 19. Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag sechs Fraktionsmitglieder für die Wahl in das Präsidium vorgeschlagen. Keine Kandidatin bzw. kein Kandidat erreichte jedoch die erforderliche Stimmenmehrheit. Dem Vorschlag lag ein Beschluss des 19. Deutschen Bundestags in seiner konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 zugrunde. Der Beschluss erging mit Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Stimmen der der Antragstellerin zugehörigen Abgeordneten. Gegenständlich war die Weitergeltung des bisherigen § 2 der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT). Dieser sieht eine Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter vor, wobei jede Fraktion durch mindestens ein Grundmandat im Präsidium vertreten ist. Die Anzahl der Stellvertreter wurde im Beschluss auf sechs festgelegt.

Wahlakt zur Bestimmung eines Präsidiumsmitglieds ist verfassungsgemäß

In der Entscheidung des Präsidiums hinsichtlich des Vorschlagsrechts eines einzelnen Abgeordneten liege, so das BVerfG, kein Verstoß gegen das Recht auf die freie Ausübung des Mandats, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.

Die Norm schützt den Status der Gleichheit der Abgeordneten und deren Mitwirkungsbefugnisse bei der parlamentarischen Willensbildung. Eine Schranke findet das Recht in der in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Befugnis des Deutschen Bundestags, seine inneren Angelegenheiten im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung selbst zu bestimmen, sich folglich eine Geschäftsordnung zu geben. Diese Schrankenregelung unterliegt einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfung auf eine offensichtliche Sachwidrigkeit und eine hinreichende Rechtfertigung der Einschränkung des freien Mandats.

Eine hinreichende verfassungsrechtliche Legitimierung finde die Einschränkung, als Abgeordneter selbst keinen Wahlvorschlag für ein Präsidiumsmitglied unterbreiten zu dürfen, in § 2 Abs. 1 Satz 2 GOBT. Die Norm bezwecke die Repräsentation aller Fraktionen in den Leitungsstrukturen des Parlaments und weise dem jeweiligen Vizepräsidenten die Rolle eines Mittlers zu, die Akzeptanz der zur Aufgabenbewältigung des Bundestages zu treffenden Organisationsentscheidungen in den Fraktionen zu verbessern.

Eine Beschränkung des Vorschlagsrechts auf Fraktionen sei zulässig, um interfraktionelle Verständigungs- und Kompromisspotenziale zu erschließen und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu verbessern. Einzelnen Abgeordneten stehe es frei, innerhalb der Fraktion für bestimmte Kandidaten zu werben.

Ein Wahlrecht beinhaltet keine Besetzungspflicht

Ebenso wie ihrem Abgeordneten gelang auch der AfD-Bundestagsfraktion kein Erfolg. Grundsätzlich können Fraktionen nicht nur ihre eigenen innerparlamentarischen Rechte geltend machen, sondern auch als Minderheit Rechte des Bundestags gegen die Stimmenmehrheit der Regierung. Vorliegend machte die Antragstellerin jedoch lediglich ein ihr vermeintlich zustehendes Recht, den Anspruch auf parlamentarische Mitwirkung im Bundestagspräsidium, geltend.

Der Deutsche Bundestag sei, so das BVerfG, nicht verpflichtet, eine bzw. einen durch eine Fraktion vorgeschlagene(n) Kandidatin bzw. Kandidaten in sein Präsidium zu wählen, wenn die Geschäftsordnung des Parlaments eine solche Pflicht nicht vorsieht. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung eines Kandidatenvorschlags sei nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Wahlhandlung und das Erreichen der so ausgesprochenen Stimmenmehrheit beschränkt.

Ein Platz im Präsidium bleibe demnach gegebenenfalls für die gesamte Legislatur unbesetzt, wenn ein von der Fraktion einzubringender Personalvorschlag die erforderliche Mehrheit verfehlt.

Könnte eine Fraktion eine Vizepräsidentin durchsetzen, so die Verfassungsrichter, höhlte dies den Wesenskern der Wahl aus. Die Partizipation in einem Gremium stehe unter dem Vorbehalt der Wahlhandlung.

Schließlich vermochte weder das Recht, die Oppositionsarbeit effektiv ausüben zu dürfen, noch der Grundsatz der Organtreue, eine Verletzung der organschaftlichen Rechte zu begründen. Das Bundestagspräsidium sei zu größtmöglicher Neutralität verpflichtet und teile sich nicht in Mitglieder der Regierung und solche der Opposition. Die Organtreue besage lediglich, eine Norm fair und loyal gegenüber allen Beteiligten auszulegen. Vorliegend seien keine Hinweise auf einen Verstoß durch den Deutschen Bundestag hiergegen gegeben.

So steht keiner Minderheiten-Fraktion in einem Organstreit der Schutz des Verfassungsgerichts dahingehend zu, Vorkehrungen treffen, um vor unliebsamen Mehrheitsentscheidungen verschont zu bleiben.

Im Dienst der demokratischen Kultur

Karlsruhe unterstreicht mit seinen Entscheidungen, Hüterin der Verfassung zu sein, und bestätigt zugleich die Gewaltenteilung als Prinzip des Rechtsstaats. Sein „Grundkurs Demokratie“ (Marlene Grunert auf faz.net vom 22. März 2022) wahrt das Recht des Parlaments, innere Angelegenheiten selbst zu regeln. Das Verfassungsgericht erhebt sich nicht, die GOBT auf seine Zweckmäßigkeit hin zu prüfen.

Einem Mandat in einem deutschen Parlament liegt stets eine Stimmenmehrheit zugrunde. Sei es durch die gewonnene Erststimme oder aufgrund des Listenplatzes (Zweitstimme), dem durch die Landesdelegierten einer Partei ebenfalls eine Wahl voraus ging.

Das Prinzip der Stimmenmehrheit gilt auch, wenn Mandatsträger sich im Präsidium des Bundestages einbringen möchten. Auch hier eröffnet erst die Wahl durch die übrigen Abgeordneten das Recht des Einzelnen, im Präsidium wirken zu dürfen. Legitimation können sich Mandatsbewerber wie Mandatsträger durch überzeugende Persönlichkeit bzw. Fachkenntnis erarbeiten und nicht vor Gericht erstreiten.

Fazit

Karlsruhe lehnt in der Hauptsache AfD-Anträge im Organstreit ab. Abgeordnete haben kein Vorschlagsrecht, Fraktionen keinen Anspruch auf ein Grundmandat im Präsidium des Bundestags. Das Bundesverfassungsgericht betont die Wahlhandlung auch für innerparlamentarische Mandatierungen, um dadurch die Legitimation einer Kandidatin bzw. eines Kandidaten zu erreichen.

 

Marco Schütz

Leiter Stabsstelle Recht bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V.
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