09.09.2021

Dabei sein ist alles?!

AfD-Anträge zur Vizepräsidentschaft scheitern in Karlsruhe

Dabei sein ist alles?!

AfD-Anträge zur Vizepräsidentschaft scheitern in Karlsruhe

§ 2 GO-BT – Recht zur Bewerbung oder Entsendung? ©Ingo Bartussek - stock.adobe.com
§ 2 GO-BT – Recht zur Bewerbung oder Entsendung? ©Ingo Bartussek - stock.adobe.com

Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Die Antragsbegehren

Mit den am 11. August 2021 veröffentlichten Beschlüssen folgt das Bundesverfassungsgericht weder dem Antrag der AfD-Fraktion (Az. 2 BvE 9/20), noch dem ihres Abgeordneten, Fabian Jacobi (Az. 2 BvE 2/20). Diese hatten im Rahmen eines Organstreitverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) beantragt.

Die Fraktion begehrte die Feststellung, der Deutsche Bundestag habe ihr Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung verletzt. Dies sei geschehen, indem der Bundestag wiederholt die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten nicht in sein Präsidium wählte. Der Abgeordnete Jacobi ist der Auffassung, sein Recht auf gleiche Mitwirkung in einer Parlaments-sitzung sei dadurch verletzt worden, dass sein Vorschlag, einen Abgeordneten ins Präsidium zu entsenden, nicht einmal zur Abstimmung angenommen wurde. Hierüber wird in Karlsruhe am 10. November 2021 mündlich verhandelt.


Grundsätzliches zum Organstreitverfahren

Im kontradiktorischen Organstreit werden verfassungswidrige Zustände lediglich festgestellt, § 67 Abs. 1 BVerfGG, eine rechtsgestaltende Wirkung komme der Entscheidung jedoch nicht zu. Sie diene der gegenseitigen Kompetenzabgrenzung. Es obliege dem jeweiligen Organ, einen verfassungswidrigen Zustand zu beenden.

Gegenstand eines Eilverfahrens könne die vorläufige Sicherung des streitigen Rechts sein, um es bis zur Hauptsacheentscheidung nicht durch vollendete Tatsachen zu überspielen. Argumente für einen ausnahmsweise begehrten Verpflichtungsausspruch, seien – wie in der Hauptsache auch, § 64 Abs. 1 und 2 BVerfGG – vom Antragsteller darzulegen.

§2 GO-BT – Recht zur Bewerbung oder Entsendung?

Die beiden hier gegenständlichen Anträge beschäftigen sich mit § 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages bzw. der Auslegung des Verfassungsrechts. Die GO-BT besagt, dass jede Fraktion durch mindestens einen Vizepräsidenten im Präsidium vertreten sei. Gewählt sei, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder erhalte.

Hieraus lesen die Antragssteller ein Recht zur Entsendung eines Präsidiumsmitgliedes. So wähle der Bundestag nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG auch die Stellvertreter des Präsidenten. Der Bundestag bestehe nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG aus Abgeordneten. Der Status des Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG schließe ein Vorschlagsrecht zur Besetzung des Präsidiums ein.

Demgegenüber argumentiert der Bundestag, nur Fraktionen dürften Mitglieder zur Bewerbung und Abstimmung vorschlagen. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG regele sein Recht, sich per Geschäftsordnung zu organisieren. Diese schränke Rechte einzelner Abgeordneter zu Gunsten der Straffung des Parlamentsbetriebs notwendig ein.

Das Bundesverfassungsgericht schloss sich in den Eilantragsverfahren keiner Position an.

Im Verfahren der AfD-Fraktion vermisste es die Dringlichkeit einer einstweiligen Regelung und qualifizierte den Antrag als unzulässig. Die Fraktion habe die schweren Nachteile, die ihr ohne Vizepräsidentschaft drohten, nicht dargelegt.

Im Verfahren des Abgeordneten wogen die Richter die Folgen ab. Dabei stellten sie zur Frage, ob die einstweilige Anordnung trotz der Vorenthaltung des Wahlvorschlagsrechts zu ergehen habe. Hierbei orientierte sich das Gericht an der Gewaltenteilung und sah von einem Eingriff in die parlamentarische Willensbildung ab. Der Antragsteller könne dem Bundestag über die Einbeziehung seiner Fraktion Kandidaten für die Vizepräsidentschaft vorschlagen.

Aufgaben des Präsidenten

Die Aufgabenfülle des Bundestagspräsidenten reicht von der Ausübung des Hausrechts bis zur Wahrung von Ordnung und Würde in den Sitzungen, §§ 7 ff. und §§ 36 ff. GO-BT. Bei der Leitung der Plenarsitzungen geht die Leitungs- und Ordnungsgewalt auf den „amtierenden Präsidenten“ über, welche auch die Stellvertreter sind.

In Anbetracht herbeigeführter Störungen des Hausrechts aus den Reihen der AfD-Fraktion erscheinen Zweifel an der Eignung einzelner Fraktionsmitglieder berechtigt, ob AfD-Präsidenten Regelverletzungen verlässlich und neutral ahnden würden. Zu nennen sind das Bedrängen und Filmen eines Ministers durch Besucher von AfD-Abgeordneten, sowie dass AfD-Abgeordnete die absolute Mehrheit aller erteilten Ordnungsrufe kassierten.

Der Aufgabenzuschnitt des amtierenden Präsidenten spricht somit für ein Recht des Parlaments, die Besetzung des Präsidiums selbst zu bestimmen. Die Abgeordneten müssen sich auf die Neutralität des amtierenden Präsidenten verlassen dürfen.

Die Situation in den Ländern – und bisherigen Legislaturen

Die Länderparlamente handhaben die Präsidiumswahl unterschiedlich. Entsprechend sind in einigen Parlamenten AfD-Abgeordnete stellvertretende Präsidenten, in anderen nicht.

In Bayern und Nordrhein-Westfalen z.B. gibt es keine Vizepräsidenten der AfD. In Bayern erreichte bei gesonderter Abstimmung je Fraktion der AfD-Kandidat nicht die Mehrheit. In NRW unterlag er in einer Stichwahl dem Kandidaten der nächstgrößeren Fraktion, sodass die Höchstgrenze von drei Vizepräsidenten nach der GO des Landtags erreicht war.

In Sachsen-Anhalt entstammen die Vizepräsidenten einer der drei stärksten Fraktionen, der Vertreter der AfD ist dort jedoch noch nicht gewählt. Im sächsischen Landtag erfolgt die Wahl nach der Fraktionsstärke, sodass die stärkste Kraft den Präsidenten und den ersten Stellvertreter stellt und die AfD den zweiten Vizepräsidenten.

Auch aus der Historie ist ein unbedingtes Recht der vertretenen Fraktionen, einen Vize zu stellen, nicht ersichtlich. Die PDS-Fraktion scheiterte mit ihrem Kandidaten Lothar Bisky wiederholt. Die Fraktionen der Grünen und der FDP warteten bis 1994 auf einen Platz im Präsidium. Die GO-BT bedachte zu Bonner Zeiten nur Abgeordnete von Union und SPD als stärkste Fraktionen, (FAZ Einspruch v. 11.08.2021).

Ausblick auf die Hauptsacheverhandlung

Nach Autorenansicht könnte der Abgeordnete in der Hauptsacheentscheidung Erfolg haben. Dieser Ansicht liegt ein Vergleich des Wahlvorschlagsrechts zum Gesetzesinitiativrecht zugrunde, Art. 76 Abs. 1 GG, § 76 GO-BT.

Nach Art. 76 I GG muss die Gesetzesinitiative aus der „Mitte des Bundestages“ stammen. Hierzu gehört auch der einzelne Abgeordnete. § 76 GO-BT fordert für eine Gesetzesinitiative jedoch Fraktionsstärke. Dieser Konflikt ist bei Einzelinitiativen durch vorrangige Anwendung der Verfassung zugunsten des Abgeordneten zu lösen.

Im Fall des Wahlvorschlagsrechts benennt die GO-BT nicht einmal das ausschließliche Recht der Fraktionen, einen Kandidaten vorschlagen zu dürfen. Sie ist hier also weniger aussagekräftig als zum Gesetzesinitiativrecht.

Das Wahlvorschlagsrecht steht dabei dem Gesetzesinitiativrecht gleichwertig gegenüber. Zwar betrifft der Gesetzesinitiativakt die Willensbildung des „ganzen Volkes“, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, während das hier streitige Recht rein innerparlamentarisch wirkt. Gerade hierin aber liegt das entscheidende Kriterium.

Es geht darum, wie Abgeordnete, mögen sie auch Teil einer Fraktion sein, als Teilorgane des Bundestags dessen Arbeitsweise gestalten dürfen. So benennt das Grundgesetz die Fraktionen lediglich einmal im hier nicht gegenständlichen Art. 53a GG. Dagegen ist der Abgeordnete bzw. das Mitglied des Bundestags im dritten Abschnitt – Art. 38 ff. – von zentraler Bedeutung.

Unterstellt man dagegen die Rechtsposition der AfD-Fraktion zum angeblichen Entsendungsrecht, löste dies eine bizarre Folge aus. Nach dem Wortlaut des § 2 GO-BT würde eine unbegrenzte Anzahl an Vizepräsidenten gewählt werden, da jede Fraktion „mindestens“ einmal im Präsidium vertreten ist. Dies würde dem Zweck, einen geordneten Parlamentsbetrieb zu ermöglichen, widerlaufen, da es die Über- und Unterordnung zwischen Präsidiumsmitgliedern und einfachen Abgeordneten verwischte.

So verkäme das Parlament zu einer Institution ohne Rückgrat, die alle vorgeschlagenen Kandidaten abnickte – eine Vorstellung, die der AfD als Skeptikerin der wehrhaften parlamentarischen Demokratie durchaus gefiele.

Zusammenfassung

Die Entscheidung des Parlaments, wen es in das Präsidium wählt, ist vom einzelnen Kandidaten abhängig.

Die mündliche Verhandlung im Verfahren „Jacobi“ am 10. November 2021 unterstreicht die Bedeutung, die Karlsruhe dem Wahlvorschlagsrecht der Abgeordneten beimisst. Ein Recht zur Entsendung in das Präsidium wird das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht aussprechen. Dazu bietet das Grundgesetz dem Organstreit nicht den Rahmen.

 

Marco Schütz

Leiter Stabsstelle Recht bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V.
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