24.09.2021

Widerspruchsverfahren und Widerspruchsbefugnis

Ein Beschluss des VG Gelsenkirchen als Lehrstück im allgemeinen Verwaltungsrecht (Teil 2)

Widerspruchsverfahren und Widerspruchsbefugnis

Ein Beschluss des VG Gelsenkirchen als Lehrstück im allgemeinen Verwaltungsrecht (Teil 2)

Allgemeines Verwaltungsrecht für das Selbststudium. | © pixelkorn - stock.adobe.com
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Fortsetzung von Teil 1

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (VG)[*] ist insbesondere für Studierende der öffentlichen Verwaltung sowie für Studierende der Rechtswissenschaften ab dem 4. Semester geeignet, um sich mit dem Widerspruchsverfahren wiederholend zu beschäftigen. Teil 2 diese Beitrags erläutert weitere Punkte des Widerspruchsverfahrens.

Weiterhin entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten und nach Nr. 4 VwGO in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.


Für unseren Fall interessant ist Nr. 3, nämlich „in anderen durch Bundesgesetz[1] oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen“[2], insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen.

Ein Fall bundesgesetzlicher Regelung stellt § 212 a BauGB dar. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten – wie hier die Klägerin und Antragstellerin A – gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung.

Weil also die A als Dritte die an den N gerichtete Baugenehmigung verhindern will, hat sie nach § 80 a VwGO die Möglichkeit, von § 80 Abs. 5 VwGO Gebrauch zu machen:
Somit ist also nach § 80 a Abs. 3 VwGO i.V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO allein der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statthaft.

Die Antragstellerin beantragt die Feststellung, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat. Da eine Feststellungklage subsidiär ist, kommt diese nicht in Betracht, vgl. § 43 VwGO, und da im vorliegenden Fall auch der einstweilige Rechtsschutz begehrt wird, hat das Gericht die Möglichkeit, einen Antrag nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO auszulegen.

Also müsste – zusammengefasst – der Antrag richtigerweise lauten, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 00.00.0000 – Az. xxx – betreffend die dem beigeladenen Nachbarn N am 00.00.0000 erteilte Baugenehmigung gem. § 80 a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anzuordnen.

Dadurch kann die A. ihr Ziel verwirklichen, nämlich, dass der Bauherr N die Baugenehmigung nicht ausnutzen kann. Ihr würde also die Möglichkeit offengehalten werden, dass ihr durch die beantragte Aufhebung des Verwaltungsakts wirksamer Rechtsschutz zuteilwird.

Kommt die Gewährung von Rechtsschutz nicht in Betracht, weil der Rechtsschutzsuchende wegen der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes wegen Fristablaufs diesen nicht mehr anfechten kann, so besteht auch für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung kein hinreichender Anlass. Der aufschiebenden Wirkung liegt die Annahme zugrunde, dass das mit der Klage eingeleitete Rechtsmittelverfahren zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids führt, es dem Betroffenen also noch gelingen kann, seine durch den Bescheid etwa verletzten Rechte durchzusetzen. Denn die aufschiebende Wirkung soll nur für eine Übergangszeit bis zu einer etwaigen Aufhebung des Verwaltungsakts im Rechtsbehelfsverfahren dessen – insofern vorzeitige – Vollziehung ausschließen.

Dementsprechend stellt § 80 b Abs. 1 VwGO nunmehr klar, dass (auch) eine (bereits eingetretene) aufschiebende Wirkung des Widerspruchs mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts endet[3].

Lässt sich hingegen die Frage, ob der Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt fristgerecht eingelegt worden ist, wegen Unklarheiten des Sachverhaltes oder der Notwendigkeit der Entscheidung schwieriger Rechtsfragen im Rahmen der summarischen Prüfung nicht entscheiden, ist ein Antrag auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bzw. des Widerspruchs und eine anschließende Klage zulässig. Denn solange offen ist, ob der angefochtene Verwaltungsakt unanfechtbar und die beantragte Aufhebung noch möglich ist, kann der Zweck der aufschiebenden Wirkung, die Schaffung vollendeter, möglicherweise irreparabler Tatsachen zu verhindern, noch erreicht werden[4].

Die am 08.01.2020 erhobene Anfechtungsklage der A. hat die Klagefrist gem. § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht gewahrt:
Die Anfechtungsklage muss innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes erhoben werden, § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

Fristende war nach § 57 VwGO, § 222 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO), §§ 187, 188 BGB der 28.10.2019. Die einmonatige Klagefrist ist einschlägig, da der A. die mit ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Baugenehmigung am 26.09.2019 bekannt gegeben wurde. Die Gemeinde G. hat dem Verfahrensbevollmächtigten der A. unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 29.08.2019, mit dem – ein unzulässiger – Widerspruch gegen die ergangene Baugenehmigung erhoben wurde, die Baugenehmigung samt Rechtsbehelfsbelehrung übersandt. Der Bescheid ging ausweislich des Eingangsstempels am 26.09.2019 bei dem Verfahrensbevollmächtigten der A. ein. Durch die Bezugnahme auf das Schreiben des Verfahrensbevollmächtigten und den Hinweis auf die erbetene Möglichkeit zur Akteneinsicht wird deutlich, dass die Gemeinde G. mit Bekanntgabewillen gegenüber der A. bzw. ihrem Verfahrensbevollmächtigten handelte und die Baugenehmigung nicht etwa nur informationshalber übersandte.

Die A. ist auch ordnungsgemäß über die Möglichkeit zur Klageerhebung belehrt worden:
Gem. § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Frist für ein Rechtsmittel nur zur laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist belehrt worden ist. Nach dieser Vorschrift ist es nicht erforderlich, darüber zu belehren, wer zur Einlegung des Rechtsbehelfs berechtigt ist. Enthält die Rechtsbehelfsbelehrung keine Belehrung über ihren Adressaten, ist sie grundsätzlich nicht i. S. d. § 58 Abs. 2 VwGO unterblieben oder unrichtig erteilt. Dies gilt uneingeschränkt auch bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung[5].

Anders verhält es sich, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung eine konkrete Person anspricht, etwa den im Adressfeld genannten unmittelbaren Adressaten des Bescheides selbst. Eine solche Formulierung erweckt den Eindruck, zur Einlegung des Rechtsbehelfes sei nur er befugt. In einem solchen Fall ist die Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber anderen potenziell Drittbetroffenen unterblieben, es sei dann, diese mussten sie in Anbetracht der Gesamtumstände eindeutig auch auf sich beziehen[6].

Im vorliegenden Fall ist die Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber der A. ordnungsgemäß erfolgt. Die die nach § 58 Abs. 1 VwGO notwendigen Bestandteile einer Rechtsbehelfsbelehrung enthaltende Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid ist abstrakt formuliert. Sie richtet sich nicht etwa mit der Formulierung der Anrede „Sie“ o.Ä. konkret nur an den Beigeladenen N. Die dem Bescheid beigefügte Belehrung macht daher aus sich heraus deutlich, dass ihr Aussagegehalt auch gegenüber anderen als dem durch die Adressierung angesprochenen Beigeladenen im Fall der Bekanntgabe des Bescheides ihnen gegenüber gelten soll.

Lediglich der letzte unter dem Block mit der Überschrift „Rechtsbehelfsbelehrung“ stehende Absatz ist durch die Formulierung „Ihnen“ persönlich gefasst. Dieser Absatz, der durch seine Stellung im Text formal als Teil der Rechtsbehelfsbelehrung anzusehen ist, führt jedoch nicht dazu, dass die Rechtsbehelfsbelehrung als allein bezogen auf den in diesem Bescheid genannten Adressaten anzusehen wäre. Bei objektiver Betrachtung wird vielmehr deutlich, dass der dritte Absatz in unmittelbarem Zusammenhang mit den vorstehenden Absätzen zu lesen ist und von daher nur so verstanden werden kann, dass die in den beiden vorstehenden Absätzen allgemein Angesprochenen auch diejenigen sind, die sich ein Verschulden eines von „Ihnen“ gestellten Bevollmächtigten zurechnen lassen müssen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Begleitschreiben der Gemeinde G. vom 23.09.2019. Dieses nimmt Bezug auf das Schreiben des Verfahrensbevollmächtigten der A. vom 29.08.2019, mit dem „Widerspruch“ gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung erhoben werden sollte, und enthält keinen Hinweis darauf, dass die abstrakt formulierte Rechtsbehelfsbelehrung sich nicht auch an die A. richtet.

Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten, dass die Rechtsbehelfsbelehrung rechtlich einwandfrei war mit der Folge, dass die Klagefrist nicht eingehalten wurde. Somit wäre also die Baugenehmigung wegen Ablaufes der Klagefrist für die Antragstellerin unanfechtbar geworden.

Allerdings ist bei einer Fristversäumung immer zu prüfen, ob eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Gem. § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag (!) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist gem. § 60 Abs. 2 Satz 1, Halbsatz 1 VwGO binnen zwei Wochen ab Wegfall des Hindernisses zu stellen. Der Betroffene hat die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei Antragsstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen, § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die versäumte Rechtshandlung ist § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO innerhalb der Antragsfrist nachzuholen. Sofern dies geschehen ist, kann das Gericht auch ohne Antrag Wiedereinsetzung gewähren.

Im vorliegenden Fall hat die A. bzw. ihr Anwalt keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Klagefrist gestellt.

Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen lehnte das Gericht ab. Denn die Antragstellerin hat die versäumte Klageerhebung nicht binnen zwei Wochen ab Wegfall des Hindernisses nachgeholt. Es ist nicht glaubhaft gemacht worden, innerhalb welcher Zeit und auf welche Art und Weise die A. an der Klageerhebung gehindert war. Ihr Vortrag „in diesem Zeitraum“ habe ihr Ehemann einen Schlaganfall erlitten, ist nicht substanziiert und erfüllt die Anforderungen an eine Glaubhaftmachung nicht. Ihr Vortrag, „erst mit dem Baubeginn“ sei ihr die Notwendigkeit eines unverzüglichen Vorgehens gegen den Bescheid klar geworden und habe sie die Klage in Auftrag gegeben, kann eine Wiedereinsetzung nicht begründen.

III. Feststellungsantrag

Das weitere Begehren der Antragstellerin festzustellen, dass die Vollziehung der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung bis zur Beendigung des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt wird, das allein als Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gerichtet auf die Anordnung eines Baustopps seitens des Gerichts verstanden werden könnte, ist ebenfalls unzulässig, da dessen Zulässigkeit einen zulässigen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO voraussetzt. Wie unter Ziffer II.2. dargelegt, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO jedoch bereits unzulässig.

Widerspruchsverfahren und Widerspruchsbefugnis Teil 1

Erschienen in apf Heft 7_8/2021

[*] VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 05.05.2020 – 9 L 32/20, juris.de.
[1] Vgl. § 54 Abs. 4 BeamtStG, § 126 BBG; § 39 Abs. SGB II; § 86 a Abs. 2 SGG; § 84 Abs. 1 AufenthG, § 212 a BauGB, § 18 e Abs. 2 AEG.

[2] Vgl. z. B. § 16 HAGVwGO, § 4 BerlAGVwGO, Art. 11 BremAGVwGO, § 8 HmbAGVwGO, § 8 NRWAGVwGO; s. a. Kopp/Schenke/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar; 26. Aufl., 2020; § 80 Rn. 68.

[3] BVerwG Beschl. v. 31.07.2006 – 9 VR 11/01, juris.de, Rn. 3; OVG M-V, Beschl. v. 14.12.2015 – 5 M 303/15, juris.de, Rn. 54.

[4] Vgl. OVG NRW, Beschl. v. 22.11.1985 – 14 B 2406/85, NVwZ 1987, 234; OVG LSA, Beschl. v. 02.08.2012 – 2 M 58/12, juris.de, Rn. 8.

[5] BVerwG, Beschl. v. 11.03.2010 – 7 B 36/09, juris.de Rn. 16.

[6] OVG NRW, Beschl. v. 13.11.2014 – 2 B 1111/14, juris.de Rn. 18 mit Verweis auf BVerwG, Beschl. v. 11.03.2010 – 7 B 36/09, juris.de Rn. 15 f.

 

Birgit Wedekind

Leiterin des Fachbereichs „öffentliches Recht“ im Rechtsamt der Stadt Frankfurt am Main und dort als Amtsjuristin für fünf Ämter zuständig. Sie hat langjährige Erfahrung als Dozentin an der Hochschule für Polizei und Verwaltung Wiesbaden und in der Ausbildung von Rechtsreferendar*innen.
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