17.09.2021

Widerspruchsverfahren und Widerspruchsbefugnis

Ein Beschluss des VG Gelsenkirchen als Lehrstück im allgemeinen Verwaltungsrecht (Teil 1)

Widerspruchsverfahren und Widerspruchsbefugnis

Ein Beschluss des VG Gelsenkirchen als Lehrstück im allgemeinen Verwaltungsrecht (Teil 1)

Allgemeines Verwaltungsrecht für das Selbststudium. | © pixelkorn - stock.adobe.com
Allgemeines Verwaltungsrecht für das Selbststudium. | © pixelkorn - stock.adobe.com

Vorbemerkung

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (VG)[1] ist insbesondere für Studierende der öffentlichen Verwaltung sowie für Studierende der Rechtswissenschaften ab dem 4. Semester geeignet, um sich mit dem Widerspruchsverfahren – insbesondere der Widerspruchsbefugnis, der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage, mit dem vorläufigen Rechtsschutz, der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und dem Inhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung – wiederholend zu beschäftigen.

I. Sachverhalt

Die Gemeinde G erteilte dem privaten Nachbarn N am 13.06.2019 eine Baugenehmigung. Dagegen erhob der Verfahrensbevollmächtigte der jetzigen Antragstellerin (A) am 29.08.2019 Widerspruch. Gleichzeitig bat der Verfahrensbevollmächtigte um Akteneinsicht. Daraufhin übersandte die Gemeinde G dem Verfahrensbevollmächtigten die Baugenehmigung, die ausweislich des Eingangsstempels am 26.09.2019 bei ihm einging. Der Baugenehmigung war eine Rechtsbehelfsbelehrung angefügt, die mit einem Absatz abschloss, wonach man ein Verschulden eines von „Ihnen“ bestellten Bevollmächtigten sich zurechnen lassen müsse. Der Widerspruchsbescheid wies den Widerspruch zurück, da sich die Widerspruchsführerin A gegen Normen wandte, die nicht drittschützend sind.

Daraufhin erhob die A durch ihren Anwalt am 08.01.2020 bei dem zuständigen VG Klage mit dem Antrag festzustellen, dass die von ihr erhobene Klage aufschiebende Wirkung hat und dass die Vollziehung der dem Beigeladenen Nachbarn N von der Klagegegnerin erteilten Baugenehmigung vom 13.06.2019 bis zur Beendigung des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt wird.


II. Begründung

Zunächst muss das Begehren der A genau analysiert werden.

Im vorliegenden Fall sind zwei Anträge gestellt worden, die getrennt voneinander geprüft werden müssen: Somit muss der Antrag festzustellen, dass die von der Antragstellerin erhobene Klage aufschiebende Wirkung hat, analysiert werden, bevor untersucht wird, ob die Feststellung, dass die von der Klagegegnerin erteilte Baugenehmigung vom 13.06.2019 bis zur Beendigung des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt wird, Erfolg hat.

Vor die Klammer gezogen soll aber zunächst untersucht werden, warum der Widerspruch von der Widerspruchsbehörde zurückgewiesen wurde.

  1. Exkurs: Widerspruchsbescheid – Widerspruchsbefugnis

Soll ein Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt Erfolg haben, so muss er bekanntermaßen zulässig und begründet sein. In der „Zulässigkeit“ ist die „Widerspruchsbefugnis“ zu prüfen.

Einen Widerspruch kann nicht jedermann einlegen, sondern nur derjenige, der durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt oder seine Ablehnung in seinem Recht „beschwert“, also widerspruchsbefugt ist. Ratio der „Widerspruchsbefugnis“ ist der Ausschluss des Popularwiderspruchs.[2] Der Widerspruchsführer muss geltend machen, in einem subjektiv öffentlichen Recht beschwert zu sein.[3] Ein wirtschaftliches, kulturelles oder ideelles Interesse reicht nicht aus.[4]

Besonders sind also die Fälle zu beurteilen, in denen ein Dritter Widerspruch erhoben hat. Hier ist sorgfältig zu prüfen, ob eine Verletzung des Dritten in eigenen Rechten möglich erscheint. Dies ist dann der Fall, wenn der Widerspruchsführer eine drittschützende, zumindest also auch seine Interessen schützende Norm geltend macht.[5] Die Träger der Individualinteressen können die Einhaltung des Rechtssatzes also dann beanspruchen, wenn sich aus den individualisierbaren Tatbestandsmerkmalen einer Norm ein einschlägiger Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet. Es ist daher der Schutzzweck der Norm auszulegen. Hierbei muss sich ergeben, dass diese Norm (auch) den rechtlichen Interessen dieses Personenkreises zu dienen bestimmt ist und nicht nur tatsächlich, also reflexartig seine Rechte berührt.[6]

Z. B. sind natur- und landschaftsschutzrechtliche Bestimmungen nicht nachbar- und somit nicht drittschützend, denn der Natur- und Landschaftsschutz –“ dazu werden auch Baumschutzsatzungen[7] zu zählen sein – verfolgt lediglich objektive, dem Einzelnen nicht zugeordnete Ziele des Gemeinwohls.[8]

Die Pflicht zur Würdigung nachbarlicher Interessen konkretisiert im Baurecht das Gebot der Rücksichtnahme. § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) ist nur partiell nachbarschützend und erfordert eine tatsächliche Beeinträchtigung des Nachbarn.[9]

Da das Gericht in seinen Entscheidungsgründen nicht berichtet, warum der Widerspruch zurückgewiesen wurde, kann diesseits nur vermutet werden, dass dies aufgrund der Berufung der damaligen Widerspruchsführerin auf nicht nachbarschützende Normen geschah.

  1. Antrag festzustellen, dass die erhobene Klage aufschiebende Wirkung hat

Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung, vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Was versteht man unter der „aufschiebenden Wirkung“?

Der Begriff „aufschiebende Wirkung“ bedeutet, dass sowohl die Behörde keine Maßnahmen zur Verwirklichung des Verwaltungsakts treffen darf[10] als auch, dass es Dritten verboten ist, von dem Verwaltungsakt Gebrauch zu machen. Die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage beseitigt nicht die Wirksamkeit des Verwaltungsakts (§ 43 Verwaltungsverfahrensgesetz –VwVfG). Sie hat nur zur Folge, dass der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nicht vollzogen werden darf.

Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Diese Regelung dient der Sicherung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Sicherstellung der Vollziehbarkeit der dafür erforderlichen Verwaltungsakte. Auch soll sich der Adressat seinen Verpflichtungen nicht einfach durch Einlegen eines Rechtsmittels entziehen können.

Die aufschiebende Wirkung entfällt demnach nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO bei öffentlichen Abgaben und Kosten. Der Staat soll zahlungsfähig bleiben.

Weiterhin entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten und nach Nr. 4 VwGO in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.

Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

[1] VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 05.05.2020 – 9 L 32/20, juris.de.

[2] Geis/Hinterseh, JuS 2002, 37.

[3] Vgl. auch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

[4] Geis/Hinterseh, JuS 2002, 37.

[5] Brandt/Dogörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungs-prozess, 4. Aufl., 2018, F Rn 91 m. w. N.

[6] VGH BW, NVwZ-RR 2016, 337 ff.

[7] Ständige Rechtsprechung des BayVGH, Beschl. v. 09.11.2000 – 9 ZB 00.1635, juris.de; HessVGH, DVBl. 2017, 572 ff.; zur mangelnden Klagebefugnis eines Anwohners vgl. OVG LSA, Beschl. v. 18.06.2015 – 2 L 102/13, juris.de; OVG NRW, Beschl. v. 22.05.2015 – 7 B 513/15, juris.de.

[8] HessVGH NVwZ-RR 2005, 87; s. aber zu UVP-Verfahrensfehlern OVG NRW BauR 2015, 1138 ff.

[9] Wedekind, Das Widerspruchsverfahren in der Praxis, 3. Aufl. 2020, S. 95.

[10] BVerwG NVwZ 2016, 1333.

 

Birgit Wedekind

Leiterin des Fachbereichs „öffentliches Recht“ im Rechtsamt der Stadt Frankfurt am Main und dort als Amtsjuristin für fünf Ämter zuständig. Sie hat langjährige Erfahrung als Dozentin an der Hochschule für Polizei und Verwaltung Wiesbaden und in der Ausbildung von Rechtsreferendar*innen.
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