17.05.2021

Das Kreuz mit Corona (1)

Herausforderungen an demokratische Wahlen in Zeiten der Pandemie (Teil 1)

Das Kreuz mit Corona (1)

Herausforderungen an demokratische Wahlen in Zeiten der Pandemie (Teil 1)

Bei allen Wahlen türmt sich eine Fülle rechtlicher Fragen auf. © fotomek – fotolia.com
Bei allen Wahlen türmt sich eine Fülle rechtlicher Fragen auf. © fotomek – fotolia.com

Die große Aufgabe der Demokratie, ihr Ritual und ihr Fest – das ist die Wahl.
(H.G. Wells)

Von den Chinesen könnten wir derzeit viel lernen. Sie haben für Krise und Chance dasselbe Schriftzeichen.
(Richard von Weizsäcker)

Wäre das covidsche Regiment abwählbar, hätten wir dies schon längst getan. Doch wir müssen mit dem Virus weiterleben. Es bleibt uns auf absehbare Zeit nichts anderes übrig, als seine verheerenden Folgen für Menschen, Gesellschaft und Staat regulierend und administrierend abzumildern. Bei der Aufstellung, Umsetzung und Beurteilung der grundrechtseinschränkenden Corona-Maßnahmen müssen gleichwohl rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze strikt beachtet werden.


Dies gilt auch für die Vorbereitung und Durchführung von Wahlen der Parlamente und kommunalen Vertretungen in Zeiten der Pandemie. Längst sind hybride Parteitage bei der Aufstellung der Kandidaten*innen sowie das Maskentragen und Abstandhalten im Wahllokal Gewohnheit. Die präsenzfreie Briefwahl hat ungeahnte Popularität erlangt. Allerdings fehlen bei Wahlkämpfen der persönliche Kontakt und die direkte Auseinandersetzung. Kleine Parteien haben es schwerer, Unterschriften von Unterstützer*innen zu sammeln und sichtbar zu werden. Auch die Bundestagswahl am 26.09.2021 wird wie sechs Landtagswahlen und zahlreiche Kommunalwahlen in diesem Jahr unter den düsteren Vorzeichen von Sars-CoV-19 stehen.

Bei allen Wahlen türmt sich eine Fülle rechtlicher Fragen auf: Dürfen Wahlen aus Gründen des Infektionsschutzes verschoben werden? Welche Anforderungen sind an die Aufstellung der Kandidaten*innen zu stellen? Ist das Quorum für Unterstützer*innenlisten zu senken? Dürfen oder können auch unter Quarantäne stehende Menschen wählen? Wie gestaltet man den Wahlakt, um dabei das Infektionsrisiko zu minimieren? Neben rechtsfesten Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, sollen die tieferen Auswirkungen der pandemischen Krise auf das demokratische Wahlsystem erkundet und ein Ausblick in die digitale Zukunft von Wahlen gewagt werden.

Oberste verfassungsrechtliche Messlatte sind dabei die im Grundgesetz verankerten Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Geheimheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie die aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) folgenden ungeschriebenen Grundsätze wie insbesondere dem der Öffentlichkeit der Wahl.

Wahltermin verfassungsrechtlich immunisiert

Eine zuletzt bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt diskutierte Verschiebung der Wahl aus Gründen des pandemischen Infektionsgeschehens verbietet sich bereits verfassungsrechtlich. Demokratie ist „Herrschaft auf Zeit“: Schon zu Beginn der neuen Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Wahlrecht für eine Demokratie wesentlich ist und den Wahlberechtigten nicht auf einem in der Verfassung nicht vorgesehenen Wege entzogen oder verkürzt werden kann; dies sei aber der Fall, wenn fällige Wahlen hinausgeschoben werden würden (BVerfG, Urteil vom 23.10.1951, Az. 2 BVG 1/51).

Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG hat eine Neuwahl des Bundestages frühestens 46, spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahlperiode stattzufinden. Ähnliche Regelungen finden sich für Landtags- und Kommunalwahlen in den jeweiligen Landesverfassungen und Kommunalwahlgesetzen. Nur innerhalb dieses festgesteckten zeitlichen Rahmens darf aus zwingenden Gründen ein einmal bestimmter Wahltermin verlegt werden.

Der Grundsatz der Periodizität der Wahl ist ansonsten nach richtiger Ansicht als Kernbestandteil des Demokratieprinzips Teil der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 GG. Eine Verlängerung der laufenden Wahlperiode ist, abgesehen vom Verteidigungsfall (Art. 115 h Abs. 1 Satz 1 GG), nicht möglich. In demokratischen Systemen darf die Verschiebung von Wahlen auch außerhalb von Krisen für künftige Krisen keine verfassungsrechtlich zulässige Option sein. Stellen wir uns nur vor, Trump hätte in den USA Ende 2019 ein Gesetz durchgebracht, wonach in dem Notstand einer Pandemie die Präsidenten*innen-Wahl auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden kann.

Wahlkampf im Online-Modus

Wahlkämpfe werden zwar vom Virus überschattet, die Demokratie nimmt bisher aber keinen Schaden. Durch Art. 8 Abs. 2 GG geschützte Versammlungen unter freiem Himmel sind unter Auflagen weiter möglich, wenn sie „Corona-kompatibel“ durchgeführt werden. Wahlwerbung verlagert sich vom Markplatz in virtuelle Foren. Die Medien bieten genug Raum für politischen Streit. Die öffentliche Debatte um verhältnismäßigen Infektionsschutz hat zudem positive politisierende Effekte auch auf andere Felder. So sind besonders die Grundrechte und ihre Einschränkbarkeit ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Wahlbewerber*innen von Parteien müssen unter Beachtung wesentlicher demokratischer Standards in Versammlungen aufgestellt werden. Pandemiebedingte, einschränkende Bestimmungen der Länder greifen in das aktive und passive Wahlrecht sowohl der Parteimitglieder als auch der Wahlberechtigten sowie das Statusrecht der Parteien aus Art. 21 GG ein. Sie müssen deshalb so ausgelegt werden, dass sie die Durchführung dieser Versammlungen mit satzungsmäßiger Teilnehmer*innenzahl mit Infektionsschutzauflagen in Präsenz weiterhin zuvörderst erlauben. Doch Politik ist ohnehin insgesamt digitaler geworden. Hybride Parteitage bei der Aufstellung der Kandidat*innen sind angesichts epidemiologischer Zwänge üblich geworden. Die virtuelle Versammlung läuft stringenter und sachlicher ab, hinterlässt aber oft ein schales Gefühl der Erinnerung an frühere emotional aufgeladene, nun vermisste direkte politische Schlagabtausche.

Das Parteien- und Wahlrecht bindet die Parteien stark an analoge Versammlungs- und Entscheidungsformen (§§ 8 ff. PartG, §§ 18 ff. BWahlG). Daher hat der Bundestag mit bis 31.12.2021 befristeten Änderungen des Bundeswahlgesetzes im Oktober 2020 für die Bundestagswahl 2021 nachgebessert. Um Aufstellungsverfahren auch online unter den Rahmenbedingungen der COVID-19-Pandemie zu gewährleisten, hat das BMI in Abweichung von den ansonsten geltenden bundeswahlrechtlichen Regelungen eine COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung erlassen. Einige Bundesländer wie etwa Mecklenburg-Vorpommern (Landtagswahl) oder Niedersachsen (Kommunalwahlen) wenden die COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung des Bundes für ihre Wahlen entsprechend an. Dies ist vor allem aus Sicht der Parteien als sinnvolle Vereinheitlichung des Wahlrechts zu begrüßen.

Allerdings hinken die Wahlgesetze im Übrigen noch der digitalen Entwicklung hinterher. Hier gibt es insbesondere bei der digitalen Nutzung der zahlreichen amtlichen Formulare und der digitalen Kommunikation noch Optimierungsbedarfe. Das Niederschriftenformular für die Aufstellungsversammlung einer Partei sieht zum Beispiel die Abhaltung einer virtuellen Aufstellung bislang gar nicht ausdrücklich vor. Eine sog. Schlussabstimmung per Briefwahl und/oder Urnenwahl ist indes richtigerweise weiter rechtlich notwendig, solange eine technisch einwandfrei funktionierende Datensicherheit nicht gewährleistet ist.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

Prof. Dr. Frank Bätge

Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen
 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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