08.05.2023

Anspruch auf Arbeitsassistenzleistungen besteht auch nach Überschreiten der Regelaltersgrenze

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.1.2022 – 5 C 6.20

Anspruch auf Arbeitsassistenzleistungen besteht auch nach Überschreiten der Regelaltersgrenze

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.1.2022 – 5 C 6.20

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Dem unten vermerkten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) v vom 12.1.2022 lag im Einzelnen folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten für eine Arbeitsassistenz. Der Kläger ist blind und mit einem Grad der Behinderung von 100 als schwerbehindert anerkannt. Die Leistungen für eine Assistenzkraft in Höhe von monatlich 1.650 € (22 Wochenstunden), die er für seine selbstständige Tätigkeit als Lehrer, Berater und Gewerbetreibender erhielt, erbrachte der beklagte Landeswohlfahrtsverband nur bis zum 30.6.2016, weil der Kläger ab dem 1.7.2016 eine Altersrente bezog. Den Antrag des weiterhin erwerbstätigen Klägers, die Kosten für seine Arbeitsassistenz auch vom 1.7.2016 bis zum 30.6.2017 zu übernehmen, lehnte er ab. Zu Unrecht, wie das BVerwG feststellte.

Seiner Begründung ist auszugsweise zu entnehmen:

„Die Ablehnung des Antrags auf Übernahme der Kosten für die Arbeitsassistenz des Klägers … kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht darauf gestützt werden, dass der Kläger die Regelrentenaltersgrenze oder eine nach Üblichkeitsgesichtspunkten zu bestimmende Altersgrenze erreicht hat und eine Altersrente bezieht.


Da sich der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 6.6.2016 nur auf den Zeitraum vom 1.7.2016 bis zum 30.6.2017 bezieht, kommt als Rechtsgrundlage der begehrten Leistung allein § 102 Abs. 4 SGB IX a.F.[1] in Betracht. Danach haben schwerbehinderte Menschen im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mitteln Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.

Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass der Kläger als schwerbehinderter Mensch … grundsätzlich einen nicht im Ermessen der Behörde stehenden Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz hat und dass dies auch für eine selbstständige Tätigkeit gilt, die nachhaltig betrieben wird und dem Aufbau bzw. der Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage zu dienen geeignet ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.1.2018 – 5 C 9.16 – BVerwGE 161, 145, Rn. 10; Beschluss vom 27.7.2018 – 5 B 1.18, juris Rn. 10). Unstreitig ist auch, dass es sich bei der begehrten Leistung der Sache nach um eine Arbeitsassistenzleistung handelt. Diese muss außer dem notwendig gewesen sein und im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben (vgl. § 102 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX a.F.[2]) geltend gemacht werden, die von den Zuständigkeiten anderer Leistungsträger abzugrenzen ist. Erforderlich ist insoweit, dass die Arbeitsassistenzleistung sich ihrem Charakter nach als ,begleitende Hilfe im Arbeitsleben‘ darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.1.2018 – 5 C 9.16 – BVerwGE 161, 145, Rn. 10).

Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanz wird der Anspruch auf Gewährung einer notwendigen Arbeitsassistenz zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit (§ 102 Abs. 4 SGB IX a.F.) nicht dadurch ausgeschlossen, dass der schwerbehinderte Mensch die Regelaltersgrenze für Rentenleistungen überschreitet. Denn eine zu gewährende Arbeitsassistenzleistung verliert ihren Charakter als ,begleitende Hilfe im Arbeitsleben‘ (§ 102 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX a.F.) nicht deshalb, weil der Berechtigte das Rentenregelalter oder eine nach dem Gesichtspunkt der Üblichkeit zu bestimmende Altersgrenze erreicht hat und eine Altersrente bezieht. Dies erschließt sich im Wege der Auslegung aus Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Für die inzwischen geltende wortgleiche Regelung des § 185 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX n.F. gilt nichts anderes (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.1.2022 – 5 C 2.21 –). Für das genannte Auslegungsergebnis spricht bereits der Wortlaut des § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. Eine Altersbeschränkung findet sich dort nicht und folgt auch nicht aus dem Begriff des Arbeitslebens, der lediglich den durch die Erwerbstätigkeit geprägten Teil des Lebens eines Menschen bezeichnet. Ihm ist ebenso wie dem Begriff der Arbeitsassistenz zwar im Zusammenhang des § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. insofern eine zeitliche Begrenzung immanent, als die begleitende Hilfe nicht lebenslang, sondern nur solange geleistet wird, wie sich der Berechtigte in der Arbeitsphase seines Lebens befindet. Wann diese Phase endet und welche Kriterien dafür außer dem Umstand maßgeblich sein sollen, dass der Betreffende tatsachlich und nachhaltig einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ergibt sich daraus jedoch nicht.

Die systematische Auslegung des § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bestätigt, dass es für die Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz nicht darauf ankommt, ob der schwerbehinderte Mensch die gesetzliche Regelrentenaltersgrenze oder eine nach Üblichkeitsgesichtspunkten zu bestimmende Altersgrenze überschritten hat oder nicht.“[3]

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 12.1.2022 – 5 C 6.20

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg, 2/2023, Rn. 28.

[1] § 185 Abs. 5 SGB IX n.F.

[2] § 185 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX n.F.

[3] Wird näher ausgeführt

Die Fundstelle Baden-Württemberg

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Fachzeitschrift für die kommunale Praxis
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