25.07.2022

Zehn Thesen zur Verfassungskonformität einer COVID-19-Impfpflicht

Voraussetzung für die Rechtfertigung einer allgemeinen Impfpflicht

Zehn Thesen zur Verfassungskonformität einer COVID-19-Impfpflicht

Voraussetzung für die Rechtfertigung einer allgemeinen Impfpflicht

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Das wichtigste Instrument zur Bewältigung der Corona-Pandemie ist die Impfung. Darin sind sich Wissenschaft und Politik einig. Erprobte und wirksame Impfstoffe stehen zur Verfügung. Konsentiertes Ziel der Corona-Politik ist daher eine möglichst hohe Impfquote – vor allem im Hinblick auf den kommenden Herbst und Winter. Diese lässt sich nicht alleine mit Aufklärung, Appellen oder Beratung erreichen, sodass politisch intensiv über eine Impfpflicht diskutiert wird.

 Dazu hat am 26.01.2022 eine Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag stattgefunden. Am 21.03.2022 hat der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Schließlich erfolgte am 07.04.2022 eine Abstimmung im Deutschen Bundestag, bei der keiner der Anträge und auch ein Kompromiss- Gesetzentwurf zur Einführung einer Impfpflicht ab 60 Jahren eine Mehrheit erreichte. Damit ist eine Impfpflicht derzeit politisch vom Tisch. Sie könnte aber – je nach der Entwicklung der Pandemie – schnell wieder auf die Tagesordnung kommen, sodass eine verfassungsrechtliche Vergewisserung über die Zulässigkeit einer Impfpflicht nottut.

Die Einführung einer Impfpflicht ist eben nicht nur eine politische Frage. Sie wirft auch schwierige verfassungsrechtliche Probleme auf. Ließe sich eine Impfpflicht gegen SARS-COV-2 verfassungsrechtlich rechtfertigen? Ist der Gesetzgeber möglicherweise sogar verpflichtet, eine Impfpflicht einzuführen, wenn die erforderliche Impfquote auf freiwilligem Weg nicht erreicht wird?


Dazu zehn Thesen:

1.Unzweifelhaft ist zunächst: Die Impfpflicht stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar. Sie impliziert die Duldung einer invasiven Maßnahme (Spritze) und die Injektion eines körperfremden Stoffes (Impfstoff) und stellt daher einen doppelten Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar, die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter dem besonderen Schutz der Verfassung steht. Anders als die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), in die durch die allgemeine Impflicht nicht eingegriffen wird, jedenfalls solange sie nicht durch unmittelbaren körperlichen Zwang durchgesetzt werden soll, ist das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit der Beeinträchtigung durch staatliche Maßnahmen zugänglich. Das Grundgesetz erlaubt dem Gesetzgeber in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 solche Eingriffe ausdrücklich. Die gelegentlich anzutreffende These, die Verfassung stehe der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-COV-2 entgegen, ist nicht haltbar.

Richtig ist, dass sie nicht ohne Weiteres zulässig ist, sondern eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung braucht, die dem hohen Rang des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gerecht wird.

2.Voraussetzung für die Rechtfertigung einer allgemeinen Impfpflicht ist demnach der Schutz eines gewichtigen Rechtsgutes. Der Schutz des Einzelnen vor der Infektion, einem schweren Verlauf der Erkrankung oder dem Tod genügt dafür nicht. Gesundheit und Leben des Einzelnen sind zwar gewichtige Rechtsgüter. Der Einzelne hat es aber selbst in der Hand, sich zu schützen – eben durch eine Impfung oder durch Kontaktvermeidung und Risikovorsorge.

Der Schutz des Einzelnen vor sich selbst, vor seiner eigenen Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, ist kein hinreichender Grund, der eine Impfpflicht legitimieren könnte. Der eine Impfpflicht rechtfertigende verfassungsrechtlich legitime Zweck kann auch nicht allein darin gesehen werden, die Zahl der Infektionen insgesamt möglichst gering zu halten. Ansonsten könnte man eine Impfpflicht bei jedem Erkältungsvirus rechtfertigen.

Aus diesem Grunde ist auch die „Ausrottung“ des Corona-Virus – wenn sie denn überhaupt möglich ist – als solches keine verfassungsrechtlich legitime Zwecksetzung, die eine  allgemeine Impfpflicht rechtfertigen könnte. Hinzukommen muss eine spezifische Gefährlichkeit des Virus im Sinne einer erhöhten Krankheitslast, die das Gesundheitssystem insgesamt bedroht. Ein verfassungsrechtlich tragfähiger Grund ist der Schutz des Gesundheitssystems, zumal der Krankenhäuser vor Überlastung durch eine Vielzahl gleichzeitig hospitalisierter oder intensivpflichtiger COVID-19-Patienten.

Diese Zwecksetzung kommt auch in § 28a Abs. 3 IfSG zum Ausdruck. Hinter dieser Zwecksetzung steht weniger ein institutioneller als vielmehr ein funktioneller, auf den Lebens- und Gesundheitsschutz grundsätzlich bezogener und damit auch individueller Legitimationsansatz:

Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, zumal der Krankenhäuser und dort vor allem (aber nicht nur) der Intensivstationen dient nicht nur dem Lebens- und Gesundheitsschutz von COVID-Patienten, sondern (potenziell) jedes Menschen, der aus ganz unterschiedlichen Gründen auf eine (ggf. lebensrettende) Behandlung angewiesen ist. Der verfassungsrechtlich legitime Zweck einer Impfpflicht ist damit mindestens gleichwertig mit dem durch die Impfung beeinträchtigten Integritätsinteresse des Einzelnen.

3.Dass die Impfpflicht nach den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkung der zur Verfügung stehenden Impfstoffe auch geeignet ist, einen Beitrag zur Erreichung des Zwecks zu leisten, ist nicht ernstlich zu bezweifeln. Ein hohe Impfquote reduziert die Anzahl der ungeimpften Personen mit potenziell schwereren und hospitalisierungs- oder intensivpflichtigen Verläufen.

4.Auch die Erforderlichkeit einer allgemeinen Impfpflicht ist kaum zu bezweifeln. Zwar wird immer wieder vorgetragen, es gebe mildere Mittel als die Impfpflicht, etwa die Intensivierung der Impfkampagne, die Einführung einer (verbindlichen) Impfberatung oder die Erhöhung der Krankenhauskapazitäten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kommt es jedoch allein darauf an, ob diese milderen Mittel auch gleich geeignet sind wie die Impfpflicht. Das ist bei den genannten Mitteln zu verneinen – wie die stagnierende Impfquote deutlich zeigt.

Die Erhöhung der Krankenhauskapazitäten dürfte zudem faktisch wegen Personalmangels nicht realisierbar sein. Zwar mögen repressive Schutzmaßnahmen bis hin zu einem sog. „Lockdown“ (etwa in Gestalt der sog. „Bundesnotbremse“ in § 28b IfSG a. F. im April 2021) gleich geeignete Mittel sein. Sie sind jedoch nicht milder, sondern härter als die Impfpflicht, weil sie mit drastischen, jedenfalls bei einem längeren Geltungszeitraum unvertretbaren Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft, vor allem auch für Kinder und Jugendliche, für wirtschaftliche Betriebe, die Bildungseinrichtungen und die Kultur verbunden sind. Daher hat der Staat alles zu unternehmen, um eine Überlastung des Gesundheitswesens ohne „Lockdown“ zu vermeiden. Dazu ist die Impfung und bei nicht genügender Impfquote die Impfpflicht das erforderliche Mittel.

5.Auch an der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne), der Angemessenheit der Impfpflicht bestehen keine durchgreifenden Zweifel. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist angesichts der hinreichenden (weltweiten) Erprobung der Impfstoffe und ihrer geringen Nebenwirkungen als zumutbar zu qualifizieren. Dass im Einzelfall schwerere Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind, ist im Interesse des Gemeinwohls hinzunehmen. Denn der mit der Impfung verbundene Nutzen ist von überragendem Gewicht, da mit der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems Leben und Gesundheit vieler Menschen geschützt werden, die eine (intensiv-)medizinische Behandlung (auch) aus anderen Gründen als wegen COVID-19 benötigen. Unzumutbarkeiten aufgrund medizinischer Vorbelastungen können und müssen durch gesetzliche Ausnahmetatbestände erfasst werden.

6.Lässt sich eine Impfpflicht also als solche rechtfertigen, stellt sich die verfassungsrechtlich schwierigere Frage: Welcher Personenkreis soll davon erfasst werden? Zur Beantwortung bedarf es einer wissenschaftlich fundierten Evaluation der bisherigen und gegenwärtigen Krankenhausbelastung durch die Coronaerkrankung. Welche Personen werden typischerweise hospitalisiert? Je nach Ergebnis dürfte sich die Einführung der Impflicht für vulnerable Personen und alle Personen ab dem 50. oder 60. Lebensjahr verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen, nicht hingegen für alle Personen ab dem 18. Lebensjahr.

7.Ein besonders gravierendes Problem ist die Unsicherheit im Tatsächlichen: Zum jetzigen Zeitpunkt ist der weitere Verlauf der Pandemie nicht konkret absehbar. Auch wenn es sicher zu sein scheint, dass ab Herbst eine weitere Welle kommt, so sind doch entscheidende Parameter offen. Wie ansteckend und pathogen wird das Virus dann sein. Sind die jetzt verfügbaren Impfstoffe noch hinreichend wirksam? Wie wirksam sind die mittlerweile zur Verfügung stehenden therapeutischen Medikamente?

Ohne dieses Wissen lässt sich eine Impfpflicht, die jetzt implementiert würde, nicht rechtfertigen. Bloße Vermutungen genügen nicht. Deswegen wäre die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, die sofort oder zeitnah umgesetzt würde, als Vorratsimpfpflicht „ins Blaue hinein“ verfassungsrechtlich bedenklich. Im Hinblick auf den verfassungsrechtlich legitimen Zweck der Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser besteht derzeit kein konkretes Zweckverwirklichungsbedürfnis.

8.Das rechtfertigt aber keine Untätigkeit zum jetzigen Zeitpunkt. Unsicherheit ist keine Legitimation dafür, jetzt nichts zu tun. Entscheidend ist, mit der Unsicherheit vernünftig umzugehen. Was wäre also zu tun? Bundestag und Bundesregierung sind auch nach dem Scheitern der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht verpflichtet, die Entwicklung der pandemischen Lage unter maßgeblicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Expertise weiter daraufhin zu beobachten, ob sich ein konkretes Zweckverwirklichungsbedürfnis abzeichnet, ob also eine Überlastung des Gesundheitswesens konkret droht oder ob dies zumindest absehbar ist.

9.Für den Fall, dass sich die pandemische Lage insbesondere ab Herbst 2022 zu verschärfen droht, hat der Gesetzgeber bereits jetzt die Rechtsgrundlagen und organisatorischen Rahmenbedingungen für eine dann rasche Umsetzung einer allgemeinen Impfpflicht zu schaffen. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit zum Erlass eines Impfpflicht-Vorratsgesetzes (nicht hingegen: einer Vorratsimpfpflicht „ins Blaue“ hinein). Die Impfpflicht würde dann bei Vorliegen gesetzlich fixierter Voraussetzungen durch einen gesonderten BT-Beschluss aktiviert – auf der Basis virologischer/epidemiologischer Expertise. Ein solches gestuftes Konzept, das auf solidem verfassungsrechtlichem Boden stünde, wurde in der Bundestagssitzung am 07.04.2022 abgelehnt (BT-Drs. 20/978).

10.Daher stellt sich abschließend die Frage: Ist der Gesetzgeber möglicherweise sogar verpflichtet, eine Impfpflicht in Gestalt eines Vorrats- oder Vorsorgeimpfpflichtgesetzes einzuführen? Diese Frage einer Impfplicht-Pflicht wurde bislang noch nicht erörtert. Es sprechen einige verfassungsrechtliche Gründe für die Pflicht zur Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für eine Impfpflicht. Es ist derzeit zwar nicht sicher, aber eben auch nicht auszuschließen, dass es ab Herbst 2022 erneut zu einer Zuspitzung der pandemischen Lage kommt, etwa durch Herausbildung einer ansteckenderen Virusvariante mit zusätzlich erhöhter Pathogenität, die eine Überlastung des Gesundheitswesens als realistisch erscheinen lässt.

Daher legt sowohl die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit als auch die Pflicht zur Vermeidung von „Lockdown“-Maßnahmen mit erheblichen Grundrechtseingriffen nahe, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, zum jetzigen Zeitpunkt zumindest die gesetzlichen Grundlagen für die gestufte Einführung einer Impflicht zu schaffen. Ob diese Impfpflicht dann tatsächlich aktiviert wird, würde der Bundestag zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Auch eine diesbezügliche Pflicht könnte sich bei Zuspitzung der pandemischen Lage aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen ergeben.

Es ist zu hoffen, dass mit der Bundestagsdebatte vom 07.04.2022 die Diskussion nicht beendet ist und vor allem, dass es im Herbst nicht wieder ein böses Erwachen ergibt. Die Verfassung jedenfalls steht nicht entgegen, dies zu verhindern, im Gegenteil!

 

Entnommen aus dem BDVR – Rundschreiben, Heft 2/2022.

 

Prof. Dr. Josef Franz Lindner

Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie, Universität Augsburg; Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht (IBGM)
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