11.07.2022

Corona cogens

Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozess in der Pandemie

Corona cogens

Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozess in der Pandemie

Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die erneut als Onlineveranstaltung stattgefundene Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht im Deutschen Anwaltverein (Landesgruppe Bayern) griff eine tagesaktuelle Angelegenheit auf, die nicht nur unseren Alltag seit geraumer Zeit bestimmt, sondern die maßgeblich von den Entscheidungen der zuständigen Behörden und der Überprüfung insbesondere durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit geprägt wird. Unter dem Thema „Corona cogens – Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozess in der Pandemie“ referierten der Amtschef im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) und Leiter der Taskforce Corona-Pandemie Ministerialdirektor Dr. Winfried Brechmann sowie VRiVGH a.D. Dr. Rainer Schenk, der dem 22. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes angehörte.

Onlinetagungen der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht

Erneut hatte der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht im DAV (Landesgruppe Bayern) entschieden, die am 4. Mai 2021 ausgerichtete alljährlich stattfindende Frühjahrstagung als virtuelle Onlineveranstaltung durchzuführen. Die Ungewissheit im Vorfeld und bei der Planung darüber, ob eine Präsenzveranstaltung überhaupt möglich sein würde, sowie die uneingeschränkt positive Resonanz auf Onlinetagungen der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht im DAV in der Vergangenheit, bei denen die Teilnehmerzahlen höher waren als bei den Präsenztagungen, führten dazu, an diesem bewährten Konzept während der Pandemie festzuhalten.

Nach den technischen Hinweisen an die Teilnehmer durch Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Dr. Thomas Troidl (Regensburg) sprach der 1. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Dr. Klaus-Richard Luckow (Regensburg) zu den Tagungsteilnehmern bestehend insbesondere aus Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sowie Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichtern und übernahm die Vorstellung der Referenten. Ministerialdirektor Dr. Winfried Brechmann, der über berufliche Stationen unter anderem als Richter auf Probe am Verwaltungsgericht Würzburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, Referent im Staatsministerium des Innern und als Abteilungsleiter am Landratsamt München tätig war, übernahm zum 19. März 2020 nach mehreren Leitungsämtern in der Bayerischen Staatskanzlei die Funktion als Amtschef im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege und Leiter der Taskforce Corona-Pandemie.


Brechmann erläuterte zunächst anschaulich anhand von Zahlen, Fakten und Graphiken die Entwicklung und den bisherigen Verlauf der Pandemie. Hierzu stellte er die jeweiligen Infektionszahlen – auch nach Altersgruppen –, die Todesfälle im Zusammenhang mit dem Corona-Virus und die Intensivbettenbelegung und -kapazitäten grafisch dar. Sodann berichtete Brechmann über die Statistik der gerichtlichen Fallzahlen in Bayern bezogen auf die sechs Bayerischen Verwaltungsgerichte.

Brechmann unterschied hierbei nach Klagen sowie einstweiligen Rechtsschutzverfahren und schlüsselte auf, inwieweit die Verfahren erledigt werden konnten und in wie vielen Verfahren die Kläger beziehungsweise Antragsteller (teilweise) obsiegt hatten. Von den 350 verwaltungsgerichtlichen Verfahren seien 301 Verfahren abgeschlossen. Etwa 100 Verfahren seien durch die Verwaltungsgerichte abgelehnt worden, 195 Verfahren hätten sich durch Rücknahme, Erledigterklärungen oder auf sonstige Weise erledigt. Brechmann führte aus, dass das zuständige StMGP jeweils umgehend nachgesteuert habe, sofern der Freistaat Bayern als Antragsgegner beziehungsweise Beklagter in einem Verfahren unterlegen gewesen sei. Anschließend stellte der Referent die Zahlen der sonstigen Verfahren wie Normenkontrollverfahren sowie Verfassungsbeschwerden in Land und Bund vor. Beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof seien 799 Normenkontrollverfahren eingegangen, hiervon seien 270 Normenkontrollanträge (200 Verfahren noch offen, 66 Verfahren erledigt beziehungsweise zurückgenommen, vier Anträge abgelehnt) und 529 Normenkontrolleilanträge (323 Verfahren abgelehnt, 145 erledigt bzw. zurückgenommen, 51 Anträge noch offen, zehn Anträge ganz oder teilweise stattgegeben). Beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof seien 52 Verfahren eingegangen, darunter befänden sich Eilanträge und Popularklagen. Die 24 Verfahren beim Bundesverfassungsgericht seien sämtlich abgelehnt worden. Ferner seien noch zwei Organstreitverfahren anhängig, die derzeit noch offen seien.

Allgemeinverfügung als Rechtsform

Sodann widmete sich Brechmann der Allgemeinverfügung als Rechtsform, die in der Pandemie eine gestiegene Bedeutung erfahren habe. Als Beispiele nannte der Referent die Allgemeinverfügung des StMGP zum Besuch von Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Heilpädagogischen Tagesstätten vom 6. März 2020, die vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie vom 20. März 2020 sowie die Allgemeinverfügung zum Testnachweis von Einreisenden aus Risikogebieten. Anschließend erläuterte der Referent diverse Verordnungsregelungen auf Landes- und Bundesebene. Hierzu gehörten insbesondere die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) in der damals 12. Fassung, die Einreisequarantäne-Verordnung − EQV sowie auf Bundesebene die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), insbesondere die Schaffung des §§ 28a und 28b IfSG. Soweit die BayIfSMV lediglich inhaltsgleiche Regelungen aufweise, führe dies dazu, dass kein Rechtsschutz vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof statthaft sei, vielmehr verlagerten sich die Rechtsschutzmöglichkeiten hin zum Bundesverfassungsgericht.

Im Anschluss befasste sich Brechmann mit ausgewählten gerichtlichen Entscheidungen wie dem Parlamentsvorbehalt bezüglich der BayIfSMV (vor Schaffung des § 28a IfSG, BayVGH, B.v. 27.04.2020 – 20 NE 20.793; BayVGH, B.v. 29.10.2020 – 20 NE 20.2360), der Bestätigung der nächtlichen Ausgangsbeschränkung (BayVGH, B.v. 14.12.2020 – 20 NE 20.2907; vgl. auch VerfGH, E.v. 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20; BayVGH, B.v. 23.03.2021 – 20 NE 21.841; VerfGH, E.v. 12.04.2021 – Vf. 21.VII-21) sowie der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit der Testobliegenheit für Schülerinnen und Schüler (BayVGH, B.v. 12.04.2021 – 20 NE 21.926). Vor der Behandlung aktueller Fragen sowie der Diskussion zeigte der Referent die vorhandenen staatlichen Leistungen bei Quarantäne (§ 56 Abs. 1 IfSG) auf und erläuterte diese kurz. Zuletzt führte Brechmann aus, dass es keine staatliche Ausgleichspflicht für wirtschaftliche Einbußen durch Infektionsschutzmaßnahmen nach derzeitiger Rechtsprechung gebe. Dies habe zuletzt das LG Würzburg (U.v. 30.03.2021 – 64 O 1989/20) sowie das LG München I (U.v. 28.04.2021 – 15 O 7232/20) entschieden.

Rechtsschutzmöglichkeiten Betroffener

Als weiterer Referent folgte sodann VRiVGH a.D. Dr. Rainer Schenk. Dieser gab zunächst einen Überblick über die Rechtsschutzmöglichkeiten Betroffener. Hierfür stünden die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutz gegen ein Bundesgesetz, das Schutzmaßnahmen unmittelbar in Kraft setze und keiner weiteren Vollzugsakte bedürfe (z. B. „Corona-Notbremse“), zur Verfügung.

Bei Eilbedürftigkeit komme ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG in Betracht. Schenk erläuterte die rechtlichen Voraussetzungen und Besonderheiten. Soweit sich Betroffene unmittelbar gegen die Corona-Verordnungen der Länder wenden wollten, komme Rechtsschutz durch den BayVerfGH (Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG), bei Eilbedürftigkeit ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach Art. 26 Abs. 1 VfGHG auf vorläufige Aussetzung in Betracht.

Nach seiner Beobachtung der Rechtsprechung in Corona-Verfahren seien Eilanträge durchweg erfolglos geblieben. Abgesehen hiervon sei fachgerichtlicher Rechtsschutz durch den BayVGH durch ein Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO möglich, bei Eilbedürftigkeit ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO. Seiner Beobachtung der Rechtsprechung in Corona-Verfahren nach seien Eilanträge mitunter erfolgreich gewesen.

Einen weiteren Themenkomplex des zweiten Referenten bildete die ergangene Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Untersagung beziehungsweise der Beschränkung des Betriebs gastronomischer Einrichtungen oder von Betrieben des Einzelhandels und die Gleichbehandlung hierbei (Art. 12 Abs. 1 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 GG). Schenk skizzierte und beleuchtete hierbei aktuelle Entscheidungen des BVerfG sowie des Bay-VerfGH, wonach der Staat wegen seiner Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit anderer Menschen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zum Handeln nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet sei (VerfGH, E.v. 21.04.2021 – Vf. 26-VII-21 – Rn. 13 m. w. N.). Betriebsuntersagungen könnten unter bestimmten Voraussetzungen verhältnismäßig sein. Gute Gründe sprächen dafür, gesichert sei dies aber noch nicht (BVerfG, B.v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – Rn. 11). Der Staat habe stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zu schaffen zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen (BVerfG, B.v. 03.05.2020 – 1 BvR 1021/20 – Rn. 8), der Gesetzgeber und die von ihm ermächtigte Verwaltung hätten insofern einen Spielraum.

Sodann referierte Schenk aktuelle Entscheidungen zur nächtlichen Ausgangssperre. Nach der Rechtsprechung des BayVerfGH stelle die nächtliche Ausgangssperre keinen Eingriff in den Schutzbereich der Freiheit der Person (hier Art. 102 Abs. 1 BV) dar. Der Schutzbereich erfasse insbesondere die Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit durch unmittelbaren physischen Zwang wie Haft, polizeiliche Ingewahrsamnahme und Unterbringung psychisch kranker Menschen). Die bloße Rechtspflicht zum Aufenthalt an einem eng begrenzten Ort solle jedoch nicht ausreichen (BayVerfGH, E.v. 09.02.2021 – Vf. 6-VII-20 – Rn. 61 ff.) Zuletzt befasste sich Schenk mit besonders eingriffssensiblen Grundrechten wie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und umriss die Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, öffentlichen Gottesdiensten sowie der Einschränkung von Kulturveranstaltungen.

Abschluss der Tagung

Im Anschluss an beide Fachreferate fand eine virtuelle „Diskussion“ unter den Teilnehmern über die Chatfunktion der Onlineplattform statt, die aufgrund der Aktualität und der Anzahl der Beiträge länger und intensiver ausfiel als ursprünglich geplant.

Nach etwa zweieinhalb Stunden des fachlichen Austauschs verabschiedete Luckow die Teilnehmer, die durch beide Referenten auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht worden waren.

 

Entnommen aus VBlBY, Heft 2/2022.

 
n/a